Ein Kolonialbeamter im Stillstand der Zeit

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Rote Sonne: "Pacifiction" von Albert Serra entfaltet unsere kolonialen Fantasien.

Der katalanische Regisseur Albert Serra ist schon seit 15 Jahren ein Geheimtipp unter den Cinephilen. Mit seinen unverwechselbaren, mit Anspielungen auf die europäische Kulturgeschichte überreich gespickten Filmen ist er regelmäßig auf den großen Festivals der Welt zu Gast und ebenso regelmäßig auch im deutschen Kino zu sehen.

Jetzt kommt sein neuester, bisher erfolgreichster Film ins Kino: Pacifiction, der im letzten Frühjahr im Wettbewerb von Cannes Premiere hatte, spielt in einer der letzten echten Kolonien dieser Welt: Französisch-Polynesien.

Serra erzählt einen Thriller um Politik, Misstrauen und Verschwörung. Letztlich aber geht es hier vor allem um den Traum vom "ganz anderen", die Verheißung des Südens und die für Europäer verlockenden Träume vom verlorenen Paradies. Für die französischen Cahiers de Cinema war dies "der beste Film des Jahres 2022".

"Politik ist wie eine Diskothek"

Weiß ist der Anzug von De Roller. In der Seele des Mannes geht es eher düster zu. Er ist Hochkommissar der französischen Republik in Polynesien und schon insofern ein Relikt vergangener, zugleich für Europa besserer Zeiten.

Ahnungen kommender Dinge plagen diesen genialen Dilettanten, bei dem Machtmechanik und Gefühl so wenig ein Widerspruch sind wie Kolonialismus und Modernität.

Pacifiction (9 Bilder)

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In einem Schlüsselmoment von Pacifiction erklärt De Roller, der von Benoît Magimel gespielte Kolonialbeamte auf der Insel Tahiti, mit einem Anhauch von Kulturpessimismus, aber keineswegs von Niederlage, sondern triumphierend, dass "Politik wie eine Diskothek ist. Eine Soiree mit dem Teufel".

Und er fährt, mit Blick auf seine Konkurrenten fort: "Die alle hier halten sich für die Chefs. Aber sie kontrollieren gar nichts ..."

Das Böse im letzten Paradies des Westens

Von hier aus beginnt ein langer und intensiver Monolog, in dem er die Ohnmacht der Machthaber erkennt und beschreibt. Er aber erklärt, dass Politik nur eine Chimäre ist, nur Bestandteil einer Weltsicht, nach der die Menschen alles kontrollieren wollen, ohne zu erkennen, dass alles ihrer Macht entweicht, dass es andere, tiefere Kräfte gibt, die die Welt wirklich kontrollieren.

Pacifiction ist eine Chronik des Wirkens eben dieser Kräfte, eine Reflexion über politische und menschliche Ohnmacht und über die Unfähigkeit, das Böse in der Welt auszurotten.

Etwas Schreckliches und Unheimliches kommt in diesem Film allmählich an die Oberfläche des Sichtbaren, seltsame Kräfte treiben uns auf eine Art Apokalypse zu, in welcher der von vielen bereits heute vorhergesagte Verfall des Westens erst noch geschehen muss, aber sicher geschehen wird.

Das Böse ist auch in einen Raum eingedrungen, der vor Jahren von einigen noch als das letzte Paradies des Westens angesehen wurde, der als mögliche Zuflucht seiner ermüdeten Bewohner galt, als Jungbrunnen.

Macht = Präsenz zeigen

Claire Denis' Film L'Intrus erzählte vor über 15 Jahren genau von diesem Raum. Wir befinden uns im Herzen Polynesiens, aber dieses einstige Paradies ist zu einem miesen Nachtclub verkommen, in dem sich eine Reihe von sinistren Figuren betrinkt, die dazu verdammt sind, als tote Seelen noch durch die dunkelste Nacht zu wandern. Es gibt keine Touristen mehr auf dieser Insel, nur ein paar Parasiten, die auf die Dämmerung warten, um in das Herz ihrer eigenen Hölle einzudringen.

An diesem Ort am Rande der Welt verkleiden sich die Eingeborenen und halten Rituale aufrecht, die längst zu bloßen Simulakren der Tradition geworden sind, halb bewussten Täuschungen und Aneignungen der eigenen Kultur, die auch von den Touristen als eine bloße Karikatur einer längst vergangenen Zeit wahrgenommen werden.

Die Natur allein leuchtet weiter, wird aber nicht mehr in ihrer ganzen Pracht, sondern als etwas Geheimnisvolles betrachtet. De Roller ist auf die Insel gekommen, um ein paar Dinge in Ordnung zu bringen, um an Verhältnissen herumzubasteln, die die Grundlagen seines politischen Handelns bilden.

Im Laufe des Films werden wir Zeugen einiger protokollarischer Besuche des Funktionärs, dessen Arbeit vor allem aus Anwesenheit, aus Präsenz zeigen besteht, die De Roller mit großartiger Leutseligkeit gelingt.

Er sagt mit Macht, was er will, wenn es notwendig ist. Ansonsten drückt er sie einfach dadurch aus, dass er da ist. Der großartigste dieser Auftritte ist ein Surftest vor den großen Wellen, eine Fahrt auf hoher See hinein in die Schattierungen reinen Blaus.

Der Platz der Macht

Diese von Benoît Magimel gespielte Politiker-Figur ist das Tollste in diesem tollen Film. Ein Mann, der die Technik, immer am richtigen Ort zu sein und trotzdem freundlich-passiv zu wirken, perfektioniert hat, der fortwährend sich selbst und uns erklärt, wie Politik funktioniert, der zugleich höflich und bestimmt ist.

Auch wenn wir nie genau wissen, was er wirklich denkt oder fühlt, so bewirkt die Art und Weise, wie er versucht, diesen Platz der Macht, den er einnimmt, zu inszenieren, durchsetzt mit einer persönlichen und menschlichen Dimension in den Begegnungen, dass wir Zuschauer uns nie völlig distanziert von ihm verstehen.

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Pacifiction spielt auch auf sehr kluge Weise mit einigen Codes des Spionagekinos und großen politischen Plots, ohne dass wir jemals wissen, ob die Figuren tatsächlich in einer Erzählung leben, die diese Aspekte beinhaltet, oder ob sie sich nur einbilden, an einer solchen teilzunehmen.

Es ist ein Film, der mit großer Intelligenz und Selbstbewusstsein mit der Idee des "Exotismus" umgeht, die so sehr die Art und Weise bestimmt, wie wir uns heute sehen, und uns selbst leicht untersagen, einen unbefangenen, neugierigen und aneignenden Blick auf den Großteil der Welt zu werfen, etwa auf Geografie und Menschen der polynesischen Region. Serra macht nie einen Hehl daraus macht, dass er den fremden Blick seiner Figuren auf diese Region teilt.

Mythos des "Lost Paradies"

An Fassbinders Film Querelle wird man ebenso denken wie an Claire Denis' filmische Wanderungen auf den Spuren von Joseph Conrad ("La folie Almeyer") und Rudyard Kipling, vor allem aber an Francis Ford Coppola, Chantal Akerman und Lucrezia Martels Zama, in dem auch ein Kolonialbeamter im Stillstand der Zeit im Zentrum stand: Exotistische Fantasie und lüsterner Tagtraum mischen sich in Pacifiction mit kühler Analyse.

Pacifiction taucht in den Mythos des "Lost Paradies" ein. Dessen Entmystifizierung interessiert ihn nicht. Eher übernimmt er ihn.

Geheime Agenda

De Roller will in Polynesien eigentlich nur seine Ruhe haben, aber er hat auch seine Prinzipien und als einerseits die Einheimischen mehr Unabhängigkeit fordern, andererseits merkwürdige Aktivitäten des französischen Militärs in seinem Terrain zu beobachten sind, bei denen es um Atom-U-Boote geht, versucht er sich selbst ein Bild zu machen.

Schnell versteht er: Jeder hier hat eine zweite geheime Agenda. So wird Pacifiction zu einem romantischen Politthriller.

Albert Serra gelingt in seinem bisher narrativsten Film ein Märchen, eine koloniale Fantasie – ein wunderbarer Film, der aus der einzig möglichen, der europäischen Perspektive auf den globalen Süden blickt, und in sinnlicher Form klarmacht, dass alle Vorstellungen von Unschuld und Paradies nur unsere Konstruktionen sind.

Und ewig ruft das Meer ...

An diesem Donnerstag und Freitag finden mehrere Filmpremieren in Anwesenheit des Regisseurs statt:

Hamburg: Zeise Kinos Hamburg-Premiere mit Albert Serra, moderiert von Matthias Elwardt (2.2., 19.30 Uhr in OmeU)
Berlin: Kino International Premiere mit Albert Serra, moderiert von Lilith Stangenberg (3.2., 17 Uhr in OmeU)
Berlin: Filmrauschpalast mit Albert Serra, moderiert von Anna Bitter (3.2. 19 Uhr in OmeU)
Berlin: Wolf Kino mit Albert Serra, moderiert von Mark Peranson (3.2. 20.30 Uhr in OmeU)