Ein Star aus Katar: Der Scharia-Prediger und die westlichen Werte

Seite 2: Verherrlichung von Selbstmordattentaten

Al-Qaradawis Verhältnis zum Terrorismus war ein zwiegespaltenes. Zum einen verurteilte er Terrororganisationen wie Al-Kaida und den IS. In einer offiziellen schriftlichen Stellungnahme legitimierte er sogar die US-Invasion in Afghanistan nach den Anschlägen des 11. September 2001 und betonte hierbei mit anderen namhaften Gelehrten, dass es eine Notwendigkeit als US-amerikanischer Muslim sei, dem Militär beizutreten und die Terroristen zu bekämpfen, obgleich kein einziger Afghane für die Terroranschläge auf das World Trade Center verantwortlich war. Al-Jazeera zufolge bereute er diese Stellungnahme Jahre später und nahm seinen Aufruf zurück.

Seine Stellungnahmen zur Legitimität von Selbstmordanschlägen, die er selbst bevorzugt als "Märtyrer-Operationen" bezeichnete, sorgten sowohl im Westen als auch von Seiten muslimischer Gelehrter für viel Kritik. So nahm er Stellung zu einem religiösen Urteil (Fatwa) des mittlerweile verstorbenen saudischen Muftis ‘Abd al-‘Aziz ibn Baz, welcher Selbstmordattentate auch im Kriegszustand als illegitim klassifizierte. Diese Form der Kriegsführung sei sündhaft, da sie im Widerspruch zu den islamischen Quellen stehe.

Al-Qaradawi hingegen konterte dieses Urteil mit der Argumentation, dass solche Anschläge legitim seien, wenn Muslime offensichtlich militärisch im Nachteil seien, während sie ihr Land verteidigen wollen, wobei er explizit auf die Situation der illegal besetzten palästinensischen Gebiete verwies.

Eine derartige Notsituation begründet ihm zufolge auch eine Ausnahme von islamischen Verboten – in diesem Fall des Selbstmords. Muhammad Munir, der an der International Islamic University in Islamabad lehrt, erklärt in einem umfangreichen Artikel zum Verhältnis von Selbstmordattentaten und islamischen Recht, dass, wer auf eine solche Angriffsmethode zurückgreift, mindestens fünf Verbrechen begehe: das Töten von Zivilisten, Selbstmord, Verstümmelung von Körpern (einschließlich des eigenen) sowie Vertrauensbruch im Kontext des Kriegsrechts sowie Zerstörung zivilen Eigentums.

Unter diesen Gesichtspunkten müsste man jedoch aus islamischer Sicht allgemein die moderne Kriegsführung grundsätzlich hinterfragen, denn der Einsatz von Bomben schließt mit der Ausnahme des Selbstmords alle von Munir genannten Verbrechen ein. Perfide ist jedoch die Bezugnahme al-Qaradawis auf die Situation im Israel-Palästina-Konflikt – sie zeigt, dass es ihm vor allem um geopolitische Machterweiterung ging und nicht um das Wohl der dort lebenden Menschen.

Durch seine Verherrlichung von Selbstmordattentaten gab er den dort lebenden Menschen, die womöglich ohnehin in einer hoffnungslosen Situation steckten, die Legitimation, sich umzubringen – sofern sie das Leben des Feindes ebenso beenden würden.

Keine Spur einer solidarischen muslimischen Gemeinschaft

Seine moralische Verurteilung Israels und der USA war allgegenwärtig; er machte sie für das Elend vieler Muslime verantwortlich, doch Kritik an den Herrschenden im eigenen Hauptwohnsitz Katar blieb aus, obgleich dort für die kommende Fußball-Weltmeisterschaft der Tod zahlreicher ausländischer Arbeiter im Kauf genommen wurde.

Die genannten Zahlen der bei den WM-Vorbereitungen verstorbenen Arbeiter variieren teils sehr stark. Die offizielle Zahl liegt Katar zufolge bei drei Toten, während laut Amnesty International bereits rund 15.000 Menschen ums Leben gekommen sein sollen.

Im Jahr 2010 amüsierte sich al-Qaradawi noch darüber, dass die Fußball-WM in Katar stattfinden würde. Katars Triumph bei der Vergabe sei ein "Schlag ins Gesicht für die USA". Vielmehr ist Katars Triumph ein Schlag ins Gesicht für die tausenden Arbeiter aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch, Sri Lanka, Kenia und anderswo, die unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen und wie Sklaven behandelt werden.

Hier findet sich keine Spur von den einst hochgehaltenen Vorstellungen einer solidarischen muslimischen Gemeinschaft, unabhängig von nationalen Grenzen.

Bei aller berechtigten Kritik an dem TV-Prediger ist es zugleich auch bezeichnend, dass sich Länder wie Deutschland bei ihrer Verurteilung in Bezug auf die Rechte von Arbeitern im Emirat zögerlich zeigen. Tatsache ist, dass moralische Werte über Bord gehen, wenn es um Ressourcen wie Öl und Gas – von denen Katar reichlich hat – geht.

Hier lässt sich dann doch eine Gemeinsamkeit zwischen al-Qaradawi und Politikern wie dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) finden, der erst vor kurzem zwecks engerer Zusammenarbeit in der Energiekrise die autokratischen Vertreter der Könighäuser Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Katars traf. Es ging um Öl, Gas, Flüssigerdgas und gemeinsame Wasserstoffprojekte, die Deutschland aus vorgeblich moralischen Gründen unabhängiger von russischen Energieträgern machen sollen.

Das zeigt, dass die Vorstellung einer "wertebasierten Außenpolitik" ebenso nur eine romantische Fiktion ist wie der panislamische Traum al-Qaradwis.