"Ein Stopp von Nord Stream 2 würde Russland nichts kosten"

Archivbild von der Verlegung der Pipeline Nord Stream 2. Foto: © Nord Stream 2 / Axel Schmidt

US-Amerikanische Kritik an der irrationalen Fixierung der Ukraine-Debatte auf eine Pipeline

Eine unerwartete Kritik an der Fixierung auf Nord Stream 2 kommt dieser Tage aus Nordamerika: Dort veröffentlichte die Zeitschrift Foreign Affairs, die führende Stimme außenpolitischen Denkens in den USA, kürzlich in ihrer Online-Ausgabe einen Artikel mit dem Titel "Russland glaubt, dass Amerika blufft. Um eine Invasion in der Ukraine zu verhindern, müssen Washingtons Drohungen härter sein" ("Russia Thinks America Is Bluffing").

Dessen Autor ist Chris Miller, ein noch recht junger Wissenschaftler, der vor allem auf russische Wirtschaftspolitik spezialisiert und zuletzt das Buch "Putinomics: Power and Money in Resurgent Russia" (University of North Carolina Press, 2018: "Die Sanktionen müssen Biss haben") veröffentlichte.

Dieser Hintergrund ist für die Lektüre des Foreign Affairs-Papiers interessant. Miller plädiert nämlich einerseits für eine harte Linie - "Die Sanktionen müssen Biss haben" -, andererseits gegen die "Fixierung" des US-Kongresses auf den Stopp der Gas-Pipeline: Ein solcher Stopp wäre, so Miller, "eine Maßnahme, die für Russland nahezu keine wirtschaftlichen Kosten mit sich bringen würde". Im Fall des Falles würde Russland sein Gas nämlich einfach weiter über die bestehenden Routen nach Europa transportieren.

Er verweist auf den bereits vorhandenen Überschuss an Pipelinekapazitäten, durch die sich das Volumen der russischen Gasverkäufe nicht reduzieren würde. "Der Kreml könnte die Fokussierung auf Nord Stream 2 daher eher als Beweis dafür sehen, dass die Vereinigten Staaten es mit der Auferlegung von Kosten nicht ernst meinen."

Gefälligkeit der deutschen Kanzlerin: Ukraine als Transitland

Tatsächlich lohnt es sich, sich zu fragen, wer hier eigentlich wirklich von wem abhängig ist? 50 Prozent des bundesdeutschen Gasimports kommen schon jetzt aus Russland. Die Öffnung von Nord Stream 2 würde die Kapazitäten nur unwesentlich steigern. Aber sie würde russisches Gas billiger machen. Und damit auch die Chancen der Amerikaner, mit ihrem Flüssiggas auf dem europäischen Gasmarkt am Boden zu gewinnen, schmälern.

Was bedeutet das konkret? Vor Nord Stream 2 steht noch die Transgas-Trasse, die die Ukraine durchquert, womit das Land per Transitgebühren einstweilen gut verdient. Die neue Pipeline würde also vor allem Deutschlands Abhängigkeit von der Ukraine und das Erpressungspotential dieses postsowjetischen Transitlandes verringern.

Erst am Sonntag hatte Jürgen Trittin (Grüne) bei Anne Will den ukrainischen Botschafter, als der die deutsche Wirtschaftshilfe für sein Land verächtlich zu machen suchte – "Die Ukraine steht auf dem 13 Platz zwischen Tunesien und Kongo, was die Entwicklungshilfe aus Deutschland betrifft. Ich bitte Sie, dieses Engagement nicht zu hochzuschieben. Wir sind da nicht besonders prioritär behandelt worden" –, daran erinnert, dass es sich bei dem Nord-Stream-1-Projekt seinerzeit vor allem um eine Gefälligkeit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel gehandelt hatte:

Ich würde die Wirtschaftshilfe nicht ganz so kleinreden: Es war eine deutsche Bundeskanzlerin, deren Einsatz es zu verdanken ist, dass die Ukraine wieder Transitland für russisches Gas geworden ist.

Jürgen Trittin

Für die Versorgung irrelevant

Auch das Steigen der Gaspreise wäre mit zusätzlichen Lieferungen aus Russland leichter zu verhindern. Kerstin Andreae, Vorsitzende des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), betonte in einem Interview, Nord Stream 2 sei "weniger in puncto Versorgungssicherheit relevant", die Leitung würde eher das Preisniveau positiv beeinflussen.

Aber auch das sollte man nicht überschätzen. Zurzeit werden nicht einmal die Kapazitäten von Nord Stream 1 ausgereizt, so Sarah Pagung, Russland-Expertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): "Knappheit gibt es nur, weil Russland die vorhandenen Kapazitäten nicht nutzt."

Die Ansage des US-Präsidenten, sollte Russland die ukrainische Grenze überschreiten, werde "es kein Nord Stream 2 mehr geben", dürfte daher niemanden in Moskau um den Schlaf gebracht haben. Falls da überhaupt jemand sein sollte, der entsprechende Angriffspläne hegt.

"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken von Rüdiger Suchsland. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft".


Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es fälschlicherweise - aufgrund von Aussagen, die bei "Anne Will" gefallen sind -, die bestehende Pipeline Nord Stream 1 laufe durch die Ukraine. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.