"Ein dummer, kleiner Kommunist"
40 Jahre nach den Schüssen auf John F. Kennedy - Teil I
"Grassy knoll" heißt eigentlich "grasiges Hügelchen", doch im heutigen Amerikanisch ist es auch ein Synonym für "gaga". Wer "Grassy Knoll"-Theorien vertritt, glaubt auch an Außerirdische oder "Men in Black" hinter jeder Ecke. Aus der Richtung eines grasigen Hügels seitlich der Dealey Plaza in Dallas waren bei dem Attentat auf John F.Kennedy am 22. November 1963 Schüsse gehört und Rauchspuren gesehen worden. Gab es außer Lee Harvey Oswald, der aus dem sechsten Stock des "Texas School Book Depository (TSBD)" von hinten auf den Präsidenten geschossen haben soll, weitere Schützen? Der von Präsident Johnson eine Woche nach dem Mord eingesetzte Untersuchungsausschuss unter Verfassungsrichter Earl Warren, die Warren-Kommission, veröffentlichte nach zehn Monaten einen 888-seitigen Report, dem später 26 Bände mit Protokollen und Beweismaterial folgen. Das Ergebnis der aufwändigen Untersuchung: Der ehemalige Marines-Soldat und "bekennende Kommunist" Oswald hatte als Einzeltäter gehandelt - weder bei ihm, noch bei dem Nachclubbesitzer Jack Ruby, der Oswald am 24. November im Polizeipräsidium Dallas erschoss, liegen Anzeichen auf Mittäter oder eine Verschwörung vor.
Das "Verbrechen des Jahrhunderts" fand vor 600 Augen- und Ohrenzeugen statt. Davon wurden 216 Zeugen vom FBI und/oder der Warren-Kommission vernommen, darunter 73 Staatsbedienstete: Polizisten, Regierungsagenten, Sicherheitsleute. Eine Analyse ihrer Aussagen - verglichen mit denen der 143 übrigen Zeugen - ergibt ein deutliches Missverhältnis in der Art der Wahrnehmung: 26 der Staatsbediensteten bezeugten Schüsse aus dem TSBD-Gebäude, nur 8 von ihnen berichten von Schüssen vom "grassy knoll". Von den übrigen Zeugen jedoch lokalisierten 44 die Schüsse aus Richtung des Grashügels und nur 22 aus der anderen Richtung.
Dieses Missverhältnis könnte mit der besseren Wahrnehmung von Polizisten und Sicherheitsagenten zu tun haben oder damit, dass Staatsbediensteste vor Gericht oder Kommission tendenziös aussagen und sich der staatlich gewünschten Version anschließen - die Warren-Kommission nahm diese Ungereimtheiten nicht zur Kenntnis. Wie ihr Report auch ansonsten als ein fabelhaft detailliertes Lehrstück in der Kunst und Wissenschaft der zielführenden Beweiskonstruktion gelten kann. Subtil gesteuert vom Altmeister verdeckter Operationen, dem von Kennedy gerade gefeuerten Gründer und ersten Direktor der CIA, Allan Dulles, kam die Kommission zum gewünschten Ergebnis:
Wir müssen das aus dem Rampenlicht nehmen, dass da irgendwelche Leute aussagen, dass Chrustschow und Castro dies oder das gemacht haben... das treibt uns in einen Krieg, der 40 Millionen Amerikaner in einer Stunde das Leben kosten kann.
Präsident Johnson gegenüber dem Kommissionsmitglied Richard Russell
Und so rückte der "grassy knoll" aus dem offiziellen Bild. Jeder weitere Schütze hätte eine Verschwörung - ob von einem der beiden Erzfeinde oder von wem auch immer - ins Spiel gebracht und schied, gleichsam aus weltpolitischen Gründen, aus.
Es gibt keine Verschwörung - es gibt nur Verschwörungstheorien
Lyndon B. Johnsons dramatischer Appell, nur in Richtung eines verwirrten Einzeltäters zu ermitteln, beruhte nicht nur auf der zugespitzten Lage im Kalten Krieg. Zwei Jahre zuvor war die Berliner Mauer errichtet worden und die Stationierung von Sowjet-Raketen auf Kuba hatte beinahe zu einer atomaren Auseinandersetzung der Weltmächte geführt. Johnson hatte auch einen sehr konkreten Anlass.
FBI-Chef Edgar J. Hoover hatte dem Präsidenten am Tag nach dem Attentat mitgeteilt, dass einige Wochen zuvor ein Lee Harvey Oswald in der sowjetischen Botschaft in Mexico-City aufgetaucht, man sich anhand von Fotos und Tonbandaufzeichnungen aber sicher sei, dass es sich dabei nicht um die Stimme des Verhafteten gehandelt hätte. Es waren also schon im Vorfeld falsche Spuren gelegt worden, was aber vor der Warren-Kommission nicht zur Sprache kam, weil Hoover dafür die Quelle - Abhörmöglichkeiten in der Sowjetbotschaft, die die Kollegen vom mexikanischen Geheimdienst DFS für die CIA betrieben - hätte preisgeben müssen.
Ebenfalls aus Mexiko kamen in diesen ersten Tagen Nachrichten über Oswalds Kontakte zur (ebenfalls verwanzten) kubanischen Botschaft, die er Ende September bei einem Aufenthalt in Mexico-City besucht hatte. Für Peter Dale Scott, den emeritierten Berkeley-Professor und Dean der JFK- Forschung (Deep Politics and the Death of JFK), markieren diese sofort nach dem Anschlag hochkommenden Verschwörungsgeschichten über Oswald als KGB- bzw. Castro-Agent die "Phase Eins" der Vertuschung:
Phase Eins stellte das Phantom eines internationalen Komplotts vor und verband Oswald mit der UdSSR, Kuba oder beiden Ländern. Dieses Phantom wurde benutzt, die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung herauszubeschwören und den Untersuchungs-Chef Earl Warren und andere politisch Verantwortliche dazu zu bringen, Phase Zwei zu akzeptieren: die ebenso falsche (aber weniger gefährliche) Hypothese, dass Oswald Kennedy ganz allein tötete.
Der Warren-Kommission von 1964 folgten weitere offizielle Untersuchungen: 1967-68 werden die medizinischen Beweise erneut gesichtet und geprüft; 1975 kommt die Rockefeller-Kommission zu dem Ergebnis, dass die CIA zwar illegale Aktivitäten im Inland betrieben hatte aber nicht an der Kennedy-Ermordung beteiligt war; 1976 stellt der Church-Ausschuss fest, dass Polizei und Geheimdienste der Warren-Kommission entscheidende Informationen vorenthalten haben.
1976-78 kommt ein Sonderausschuss, das House Select Comittee of Assasinations (HSCA), das noch einmal sämtliche Aspekte und Beweismaterialien prüft, zu dem Ergebnis, dass die Ermordung des 35. Präsidenten der USA das Resultat einer Verschwörung war, deren Hintermänner aber nicht ermittelt werden konnten - und dass auch vom "grasy knoll" ein Schuss gefeuert worden sein könnte.
1980 untersuchte das FBI den akustischen Beweis für diesen weiteren Schützen - eine Aufzeichnung des Polizeifunks - und kommt zu dem Schluss, dass vom "grassy knoll" nicht geschossen wurde. 1992 richtet der Kongress, in Reaktion auf Oliver Stones Film "JFK" , den Assasination Record Review Board ein, mit dem Auftrag, möglichst viele Dokumente zur Ermordung, die von den Behörden bisher als zu sensibel für die Veröffentlichung eingestuft wurden, zu prüfen und zu veröffentlichen. Seitdem kamen immer wieder neue, wichtige Details ans Licht, die von Kennedylogen nach wie vor heiß diskutiert werden - der Fall ist nicht abgeschlossen. Am 26.01.2001 meldete die Washington Post: Studie stützt Grassy Knoll.
Es gab eine Verschwörung - nur welche Verschwörungstheorie zutrifft, ist umstritten
Das eigentliche Phänomen ist nicht der unbefriedigend geklärte Präsidentenmord, sondern die Verwandlung des Aggregatzustands des gesamten Ereignisses: Das Verdampfen klarer Widersprüche in einen Nebel aus Unklarheit, die Transformation offensichtlicher Ungereimtheiten in ein Gewaber aus Gerüchten, die Kontaminierung der grundlegenden offenen Frage: "Wer steckt dahinter?" durch die Überladung mit Komplexität, mit einem Dschungel aus Fakten und Spekulationen.
Eine Übersicht aus dem Jahr 1979 listete bereits 600 Buchtitel zum Kennedy-Mord auf, ein Konvolut, das mittlerweile sicher auf mehr als die dreifache Menge angeschwollen sein dürfte. Zwar verkündete ein vollmundiges Werk des Rechtsanwalts und Autors Gerald Posner 1993 "Case Closed - Fall erledigt" - und setzte der Warren-Kommission und den "verwirrten" Einzeltätern Oswald und Ruby nach knapp 30 Jahren ein Denkmal. Eine Dekade später indessen haben aus den Archiven sickernde Dokumente - wie das eingangs zitierte Telefonat Präsident Johnsons - die Lage wieder verdunkelt und klar gemacht: Es gab ein Cover-up. Es wurde von der ersten Stunde der Ermittlungen an getarnt, getrickst, getäuscht. Es wurden vorbereitete Spuren "entdeckt". Innerhalb kürzester Zeit tauchten Geschichten über Oswalds Kommunisten-Connections auf, um sodann jede Art von Verbindungen von Oswald wie auch von Ruby systematisch auszublenden.
Es gab nicht nur eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys, es gab auch eine Verschwörung innerhalb der Behörden, sie nicht aufzudecken
Warum? Der Verfasser der Einzeltäterbibel Posner würde antworten: Nur weil FBI/CIA ihre eigene Schlamperei/Unfähigkeit vertuschen wollen (dieses "bürokratische" Argument, eine Art Inkompetenz-Kompensations-Theorie, vertritt er auch in zwei weiteren Büchern über das Martin-Luther-King-Attentat und den 11.9.). Nun gilt allerdings nach dem Geheimdienstexperten und Bond-Vater Ian Fleming die Regel: "Einmal kann passieren, zweimal ist Zufall, dreimal ist Feindeinwirkung."
Nach JFK werden 1964 Martin Luther King und 1968 sein Bruder Robert F. Kennedy erschossen - die drei fortschrittlichsten Politiker der USA in fünf Jahren. Und alle von Killern, die in unbefriedigenden Verfahren - die King-Nachkommen haben unlängst eine Wiederaufnahme angestrengt - als "verrückte Einzeltäter" identifiziert werden. Das kann, nach geheimdienstlichem Ermessen, kein Zufall mehr sein und so suchen die JFK-Forscher seit vier Jahrzehnten nach der "Feindeinwirkung". Die meisten Spuren führen nach innen...
Der erste, der in dieser Richtung suchte und schnell fündig wurde, war Staatsanwalt Jim Garrison in New Orleans - Kevin Kostner spielt ihn als leisen, wahrheitssuchenden Helden in Oliver Stones "JFK"-Film. Im wirklichen Leben war Garrison eher ein Riese und ein Besessener, der sich als einsamen Gerechten und Superhelden im Kampf gegen eine Verschwörung aus Machtelite, Mafia und Geheimdiensten sah - und sich auf das erste Anzeichen einer Spur stürzte, um dies haarklein zu beweisen.
Garrison klagte den Geschäftsmann Clay Shaw an, doch die Zeugenaussagen, die er für dessen Verbindung mit Lee Harvey Oswald (und der CIA) beibringen konnte, erwiesen sich als zu dürftig, um die Jury zu überzeugen. Zumal sich der für Garrisons Anklage zentrale Verbindungsmann zwischen Shaw und Oswald - der Pilot David Ferrie - wenige Tage vor dem Gerichtstermin das Leben genommen hatte. Shaw wurde freigesprochen und mit diesem Debakel für den jungen Staatsanwalt ging "eines der unwürdigsten Kapitel der amerikanischen Rechtsprechung" (New York Times) zu Ende.
Mittlerweile allerdings wurde anhand freigekommener Akten der Grund für diese "Unwürdigkeit" bekannt: Garrison wurde vom Justizministerium und von den Geheimdiensten von Anfang an massiv sabotiert. Als nationale Berühmtheit zog er fortan durch die Talkshows, um Aufklärung und Offenlegung zu fordern: der nicht vorliegenden Röntgenbilder des Präsidenten, der fehlenden Teile des Zapruder-Films (einer privaten Super-8-Aufnahme des Attentats), der gesperrten Dokumente aus dem Nationalarchiv, verschwundener oder toter Zeugen - und das Gehirn Kennedys. Warum, fragte er immer wieder, wird das vor der Öffentlichkeit zurückgehalten, wenn es keine verborgenen Hintergründe gibt?
So sehr sich der Einzelkämpfer Garrison auch verrannt zu haben schien, seine Hartnäckigkeit sorgte dafür, dass nach und nach ein Großteil der von ihm geforderten Beweise offengelegt und eine weitere Regierungskommission eingesetzt wurde, die nun tatsächlich nicht mehr von einem Einzeltäter ausging - sondern von Hintermänner, die nicht ermittelt werden konnten.
Es gab eine Verschwörung zur Ermordung Kennedys, aber Garrisons Verschwörungstheorie war nicht beweisbar
Marita Lorenz, Tochter einer Amerikanerin und des Kapitäns des deutschen Kreuzfahrtschiffs "MS Berlin", landete 1959 wenige Wochen nach Fidel Castros Machtübernahme in Havanna. Bei einem Dinner an Bord des Luxusliners bot der Revolutionsführer der schönen Kapitänstochter eine Stelle als Privatsekretärin an, was die Eltern lächelnd zurückweisen. Doch kaum wieder in New York setzt sich Marita nach Kuba ab und wird Castros Geliebte.
Bald schon wird die 19-Jährige schwanger, zu einer Abtreibung gezwungen und nach 8 Monaten hat Fidel genug von ihr. Der CIA-Söldner Frank Sturgis, der Castro bei seinem Putsch gegen Battista mit Knowhow und US-Waffen unterstützt hatte und als sein erster Minister für Glückspiel und Casinos fungierte, verhilft ihr zur Rückkehr in die USA, wo sie sich seiner Anti-Castro-Gruppe anschließt, jener verdeckten "Operation 40" oder "Operation Zapata" der CIA, die seit der gescheiterten Kuba-Invasion im April 1961 den Namen "Schweinebucht" trägt.
Zuvor wird Marita Lorenz als amerikanische Mata Hari noch einmal zu Fidel zurückgeschickt, doch transportiert sie die Giftkapseln, mit denen sie ihn ermorden soll, so ungeschickt, dass sie unbrauchbar werden. Unverrichteter Dinge zurück lebt sie in Miami mit dem venezualischen Ex-Diktator Jeminenz zusammen, ist aber weiter für Frank Sturgis und seinen CIA-"Zahlmeister" Howard Hunt aktiv.
Hunt und Sturgis werden 1972 bei ihrem Einbruch ins Watergate-Hotel verhaftet, der zum Sturz Nixons führt. Als dann 1985 im "Spotlight"-Magazin ein Artikel erscheint, der Hunt und Sturgis auch mit der Kennedy-Ermordung in Verbindung bringt, klagt Howard Hunt wegen Verleumdung. In diesem Verfahren sagt Marita Lorenz unter Eid aus, dass sie am 21. November 1963 mit Sturgis und Hunt Waffen von Miami nach Dallas transportiert habe - und mit ihnen am Vorabend des Attentats auch zwei Männer getroffen hätte: Lee Oswald und Jack Ruby.
Teil II des Artikels: Es gab eine Verschwörung zur Ermordung von John F. Kennedy - und die CIA war darin verwickelt.