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Eine Alge als Politikum

Auf der Suche nach lebenden Muscheln: Michael Tautenhahn, stellvertretender Leiter des Nationalparks Unteres Odertal findet nur tote. Bild: Nick Reimer

Nach dem Fischsterben wird klar: Politisch verbindet der Grenzfluss Deutschland derzeit nicht mit Polen. Der Nachbar verfolgt weiterhin gigantische Flussbaupläne.

Worum es hier eigentlich geht, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen: Eine deutsche Expertenkommission hat ihre Untersuchungen zum Fischsterben in der Oder veröffentlicht [1], nachdem die Goldalge Prymnesium parvum das massenhafte Fischsterben im August ausgelöst hatte.

Zu diesem Ergebnis kommt auch der Bericht einer polnischen Expertenkommission, der zuvor vorgestellt wurde. Zwischenzeitlich wurden auch erhöhte Mengen von Quecksilber, Rückständen aus Lösungsmitteln und andere toxische Chemikalien in den Wasserproben aus der Oder als Ursache vermutet. Aber nun steht die Alge als Verursacher fest: Die Blüte der Brackwasseralge erzeugt ein Toxin, das Atmungsorgane von Kiementieren schädigt.

Fische, Muscheln, Schnecken sind qualvoll erstickt. Wie es aber zu der plötzlichen Algenblüte kommen konnte, ist weiter strittig: Die einzellige Mikroalge kommt eigentlich nur im Meer- oder Brackwasser vor, also dort, wo es einen hohen Salzgehalt gibt – nicht aber im Süßwasser der Oder. Fragt sich: Wie kommt das Salz im Fluss?

"Es laufen Ermittlungsverfahren bei den zuständigen Strafverfolgungsbehörden in Polen und in Deutschland", erklärt das Bundesumweltministerium.

Falls man einen Verursacher feststelle, sei grundsätzlich der Staat, in dem der Verursacher sitzt, für Sanktionen verantwortlich. Polens Präsident Andrzej Duda hat sich aber bereits früh festgelegt, Ende August erklärte er: "Die Katastrophe in der Oder wurde nicht von Menschen verursacht." Also kann auch niemand zur Verantwortung gezogen werden.

In Polen ist gerade Wahlkampf und Angeln ein Volkssport, weshalb sich die regierende PiS-Partei keinen Umweltskandal erlauben kann. Dariusz Joński und Michał Szczerba von der polnischen Oppositionspartei Bürgerkoalition hatten aufgedeckt, dass es 282 illegale Einleitungen von Abwässern in die Oder gab, darunter auch salzhaltige aus dem Bergbau. Einige der in Verdacht geratenen Unternehmen sind Staatskonzerne, weshalb die Erzählung "von der natürlichen Alge" für die PiS die günstigste ist.

"Salzeinleitungen sind nach Ansicht der Fachleute die Ursache für das Fischsterben", erklärt nun auch Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Bündnisgrüne) zum deutschen Expertenbericht [2].

Angesichts der Klimakrise sei ernsthaft zu prüfen, was den Flüssen in Zukunft noch zumutbar sei, so die Ministerin. Neben den illegalen Einleitung von Abwässern gibt es legale, in Deutschland etwa durch eine große Papierfabrik in Schwedt oder die Raffinerie PCK. Lemke: "Wir müssen die Einleitungen von Stoffen, zum Beispiel aus Kläranlagen, in Flüsse überprüfen und reduzieren."

Geklärt sind folgende Fakten: Nach Angaben der Wasserbiologin Agnieszka Kolada vom Institut für Umweltschutz wurden 249 Tonnen Fischkadaver auf der polnischen Seite der Oder eingesammelt, auf deutscher Seite waren es mehr als 100 Tonnen. Eine gigantische Menge, wenn man bedenkt, dass es ein Stichling oder eine Rotfeder selten auf 100 Gramm bringt.

"Das kann aber nur die Spitze des Eisberges sein, denn nach dem Platzen der Schwimmblase trieben die meisten toten Fische unter Wasser Richtung Ostsee", sagt Michael Tautenhahn, stellvertretender Leiter des Nationalparks Unteres Odertal.

Dabei sind es nicht nur die Fische, die in der Oder umgekommen sind. "Ein Mitarbeiter ist im Tauchgang runter, um die Muschelbänke zu untersuchen", sagt Tautenhahn. Die Untersuchungen ergaben, dass die Muschelbänke im günstigsten Fall nur 40 Prozent tote Tiere aufweisen, im ungünstigsten aber über 80 Prozent.

Die Lunge des Flusses – tot

"Muscheln und Schnecken sind die Lunge des Flusses", sagt Tautenhahn, sie würden die Schwebteile – die unter anderem auf zu viel Dünger oder Gülle aus der Landwirtschaft zurückzuführen sind – filtern und den Fluss auf diese Art reinigen.

Ihr Tod wird sich deshalb noch in Jahren bemerkbar machen, denn jetzt gelangen diese Stoffe ungefiltert in die Ostsee und sorgen dort für eine weitere Eutrophierung.

Bedeutet: Das Algenwachstum wird dort stark ansteigen und dem Ostseewasser Sauerstoff entziehen, was dem ohnehin schwer angeschlagene Binnenmeer weiter zusetzen wird. In der Ostsee gibt es heute schon sauerstoffarme Totwassergebiete mit einer Fläche dreimal so groß wie Mecklenburg-Vorpommern.

"Natürlich kann sich das Flussbiotop erholen", sagt Helmut Zahn, einer von noch zwei hauptberuflichen deutschen Flussfischern auf der Oder. Fische seien robust und könnten schnell verlorenen Lebensraum zurückerobern.

"Aber erstens braucht das seine Zeit und zweitens darf da keine neue Katastrophe kommen". Genau die aber sieht er in vollem Gange: Trotz juristischer Auseinandersetzung gehen die Flussbauten zur Vertiefung der Oder [3] auf polnischer Seite unvermindert weiter, derzeit werden etwa in Słubice gegenüber von Frankfurt/Oder neue Buhnen in den Fluss gerammt. "Das soll die Fließgeschwindigkeit erhöhen, damit sich der Fluss tiefer eingräbt und die Fahrrinne vertieft", sagt der Fischer.

Polen plant in Swinemünde an der Ostsee einen riesigen, neuen Containerhafen [4], der nur funktioniert, wenn die Ware auch über die Oder verschifft werden kann.

Dummerweise ist die Fahrrinne dafür nicht überall tief genug und dummerweise sind im Sediment des Flusses noch aus sozialistischen Zeiten Chemikalien und Schwermetalle wie Quecksilber abgelagert, die mobil werden, wenn der Fluss sich tiefer eingräbt. "Das könnte die hohen Quecksilberwerte an den Messstellen erklären", sagt der Fischer. Umsatzfördernd seien die jedenfalls nicht.

"Dort, wo die Flüsse ausgebaut wurden, zahlen wir heute einen hohen Preis", sagte Steffi Lemke, als sie noch nicht Bundesumweltministerin war [5].

Aber Polen plant eine gigantische Wasserstraße, mit Tschechien und Ungarn ist verabredet, über die Oder eine Ostsee-Schwarzmeer-Wasserstraße zu bauen. Für das 22 Milliarden Euro-Projekt stellte die tschechische Regierung des damaligen Premierminister Andrej Babiš 2020 die ersten 15 Milliarden Kronen (550 Millionen Euro) zur Verfügung.

"Die Modernisierung der Oder in Gestalt von Wasserstufen und eines Container-Terminals, hat für uns Priorität", erklärte Marek Gróbarczyk, polnischer Vizeminister für Infrastruktur [6]: "Die deutsche Umweltministerin rufen wir zur Ordnung, damit sie sich nicht mehr in dieser Weise autoritär zu polnischen Flüssen äußert, da dies ein Skandal ist!"

Ein Fischsterben, zwei Abschlussberichte. "Dass nach dieser Katastrophe die deutsch-polnische Zusammenarbeit im Umweltschutz so schlecht funktioniert, ist erschütternd", urteilt die bündnisgrüne Europaabgeordnete Hannah Neumann.

Die EU-Kommission müsse sich einschalten und auf die konsequente Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie pochen. Aber genau die illustriert das Problem: Deutschland kategorisiert die Oder als "weitgehend unverbauten Fluss", was die Bundesrepublik verpflichtet, einen "guten ökologischen Zustand" wiederherzustellen – also den Rückbau von Uferbefestigungen, Steinwällen und anderen Flussbauten, hin zu einem natürlichen Ufer.

Polen hingegen hat die Oder als vom Menschen "erheblich verändertes" Gewässer eingestuft. Damit muss lediglich das "gute ökologische Potenzial" ausgeschöpft werden – und das definiert sich ausschließlich über die Wasserqualität. Und lässt den Ausbau des Flusses EU-rechtlich zu.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7282079

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bmuv.de/pressemitteilung/oder-fischsterben-eingeleitetes-salz-fuehrte-zur-massenvermehrung-giftiger-alge
[2] https://www.bmuv.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Naturschutz/Bericht_-_Fischsterben_in_der_Oder_20220929_bf.pdf
[3] https://www.heise.de/tp/features/Vom-lebendigen-Fluss-zum-genormten-Kanal-5022071.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Gigantische-Auswirkungen-6694328.html
[5] https://taz.de/Flussausbau-fuer-den-Klimaschutz/!5781593
[6] https://wpolityce.pl/polityka/612331-grobarczyk-do-niemcow-nie-zahamujemy-inwestycji-na-odrze