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Einfach wieder aufbauen - darf und soll man das?

Stadtlandschaft mit Autobahn: In Saarbrücken wurde das Leitbild der "autogerechten Stadt" in den 1960er Jahren konsequent umgesetzt. Foto: Reinhard Huschke

Pro und contra Rekonstruktion verlorener Bauwerke

Seit der deutschen Wiedervereinigung häufen sich die Rekonstruktionsprojekte: In vielen Städten scheinen die Bürger mit den architektonischen und städtebaulichen Ergebnissen der Aufbaujahrzehnte zunehmend unzufrieden zu sein und wünschen sich die Stadtbilder aus Vorkriegszeiten zurück. Architekten und Denkmalschützer befürchten eine Entwertung der verbliebenen authentischen Baudenkmäler und ein Abgleiten in die historische Beliebigkeit.

Wer heute durch deutsche Straßen geht, hat oft den Eindruck, dieses Land wäre nur ein halbes Jahrhundert alt und dessen Bewohner ohne jeden Geschmack und ohne jede Liebe zu ihrer gebauten Umwelt; eingestreut zwischen gesichts- und geschichtslosen Neubauten, umgeben von breiten, toten Straßen, Unrat und Mastenwäldern, finden sich verloren ein paar Artefakte aus alter Zeit, schöne, liebevolle Gebäude mit geschichtlicher Tiefe.

Mit diesen Worten bringt der Verein "Stadtbild Deutschland" seine Kritik am Zustand der deutschen Städte auf den Punkt und will durch "Förderung von sinnvollen Rekonstruktionen" Abhilfe aus der Misere schaffen. Ob und inwieweit Rekonstruktionen verlorener Gebäude tatsächlich sinnvoll und vertretbar sind, darüber wird unter Fachleuten wie Laien leidenschaftlich diskutiert und gestritten.

Tatsache ist: Es gibt kaum eine größere deutsche Stadt, die nach den Kriegszerstörungen und einem häufig ahistorischen Wiederaufbau nicht ihr Gesicht gewandelt oder, wie viele ihrer Bewohner heute meinen, verloren hätte. Insbesondere der "autogerechte" Ausbau vieler Städte in den 1960er und 1970er Jahren hat erheblich in die überlieferten Stadtbilder eingegriffen. Denn die eng bebauten historischen Viertel erschienen den meisten Stadtplaner jener Zeit, die von offenen, durchgrünten Stadtlandschaften träumten, als historisch überholter Zustand, der nun dank der "mechanischen Auflockerung" (Hans Scharoun) durch den Bombenkrieg endlich überwunden werden konnte. Dieses städtebauliche Leitbild wurde in Ost und West gleichermaßen verfolgt, trotz teilweiser anderslautender politischer Absichten und Begründungen.

Obwohl sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Bürger, zum Teil mit Unterstützung der Denkmalpfleger, für einen am Vorkriegszustand ihrer Städte orientierten Wiederaufbau aussprachen, blieben diese Wünsche und Forderungen in den meisten Fällen ohne Erfolg. Der an das alte Stadtbild angelehnte Neuaufbau des Prinzipalmarktes in Münster [1] oder die am alten Stadtgrundriss orientierte Aufbauplanung des Schwarzwaldstädtchens Freudenstadt [2] blieben seltene – und von den damaligen Stadt- und Verkehrsplanern als "verpasste Chance" kritisierte – Ausnahmen.

Die meisten Kirchen und andere bedeutende Denkmäler wurden zwar auch in anderen Städten originalgetreu oder in vereinfachter Form wiederhergestellt; für den Wert der Wohngebäude, Straßen und Platzanlagen hatte man jedoch wenig Sinn, zumal sie häufig gewünschten Straßendurchbrüchen und -verbreiterungen im Wege standen. Auf diese Weise verschwand infolge von Kriegszerstörungen und Nachkriegsabrissen ein Großteil des gebauten Kulturerbes, darunter viele charakteristische Stadtbilder – nur etwa ein Drittel des deutschen Baubestandes stammt heute noch aus der Vorkriegszeit. Wie stark die Veränderungen in der baulichen Struktur der meisten Städte waren, vermitteln eindrücklich die Schwarzpläne der Berliner Innenstadt [3].

Erst im Laufe der 1970er-Jahre, mit dem Verblassen der Fortschritts- und Wachstumseuphorie, begann man sich erneut auf die Qualitäten historisch gewachsener Stadträume zu besinnen; der Wiederaufbau der Nachkriegszeit wurde nun zunehmend als "zweite Zerstörung" der Städte gesehen. Doch es sollte noch ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis sich Konzepte wie die "behutsame Stadterneuerung" und die "kritische Rekonstruktion des Stadtgrundrisses" endgültig durchsetzen konnten. Die Wertschätzung, die der "europäischen Stadt" nun wieder zuteil wurde, beendete nicht nur den jahrzehntelangen Kahlschlag in den noch vorhandenen Altbaubeständen, sondern ließ auch die Rufe nach Rekonstruktionen bereits verlorener Gebäude und Stadtbilder lauter werden.

Hildesheim, Revision des Wiederaufbaus

Wird möglicherweise jetzt erst, nach Wiedervereinigung und Friedensschluss erkennbar, welche Schäden wir durch Krieg und bewusstlosen Wiederaufbau erlitten haben? Sehen wir erst jetzt nach Jahren der Verdrängung und Flucht ins Grüne, welche seelenlosen und gesichtslosen Städte wir in unserer automobilen Besessenheit produziert haben?

Walter Ackers, Architekt und Stadtplaner, Braunschweig

Vor der Wiedervereinigung waren Rekonstruktionen noch Einzelfälle. So konnten sich die Hildesheimer mit ihrem nach der Kriegszerstörung vergrößerten und in den 1960er Jahren mit moderner Randbebauung versehenen Marktplatz nicht anfreunden und setzten in den 1980er Jahren den Abriss der modernen Bebauung und den Wiederaufbau des 1529 erbauten und 1945 zerstörten Knochenhaueramtshauses [4] durch, das zusammen mit einem Nachbargebäude in traditioneller Zimmermannstechnik rekonstruiert wurde. Um das Ensemble zu komplettieren, wurden weiteren Bauten am Marktplatz historisierende Fassaden vorgeblendet.

Frühe Rekonstruktionsprojekte in West und Ost: der Fachwerk-Marktplatz in Hildesheim (1989) und das Ost-Berliner Nicolai-Viertel (1987). Fotos: Reinhard Huschke

Historisierende Fassaden entstanden im gleichen Zeitraum auch in Hannover (Leibnizhaus) und am Frankfurter Römerberg (Fachwerkhauszeile gegenüber dem Rathaus). Und in Ost-Berlin, wo man die Reste der Altstadt erst zwei Jahrzehnte zuvor zugunsten von vielspurigen Straßen und repräsentativen Großbauten wie dem Fernsehturm abgeräumt hatte, entstand nun das Nicolai-Viertel, eine skurrile Collage aus teils erfundenen, teils dislozierten Altberliner Häuschen, komplettiert mit Plattenbauten im Giebelhausstil. Diesem heute insbesondere bei Touristen beliebten "Altstadt"-Viertel kann man mittlerweile durchaus einen eigenständigen Denkmalwert zubilligen.

Dresden, das leuchtende Vorbild

Das sozialistische Dresden braucht weder Kirchen noch Barockfassaden.

Walter Weidauer, Oberbürgermeister von Dresden 1946-58

Ein breit diskutiertes Thema wurde die Rekonstruktion von im Krieg und in der Nachkriegszeit verlorenen Gebäuden und Stadtbildern mit dem 1996 begonnenen Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche. Die sächsische Hauptstadt war sowohl von Kriegs- als auch Nachkriegszerstörungen besonders betroffen: Nicht ein einziges von den einst rund 1000 Bürgerhäusern der inneren Altstadt war übrig geblieben, denn die damals Verantwortlichen machten tabula rasa [5] und ließen auch wiederaufbaufähige Ruinen restlos abräumen.

Der anschließende Aufbau eines modernen, "sozialistischen" Dresden blieb fragmentarisch – bis heute ist die Innenstadt nur locker bebaut und durch große Brachflächen geprägt [6]. Nach der Wende mehrten sich dann die Stimmen für einen Wiederaufbau der seit dem Krieg unangetasteten Ruine der Frauenkirche; die als Bürgerinitiative organisierten Befürworter setzten sich schließlich gegen die Skepsis von Architekten und Historikern durch und sammelten über 100 Millionen Euro Spendengelder ein. 1994 wurde der Grundstein gelegt, und der als "Wunder von Dresden" apostrophierte Wiederaufbau nahm seinen Lauf.

Die Frauenkirche steht seit 2005 wieder an ihrem alten Platz und wird seitdem Jahr für Jahr von zwei Millionen Touristen belagert. Mittlerweile hat das Thema Rekonstruktion weitere Kreise gezogen: die Schlösser in Berlin, Potsdam, Braunschweig und Hannover, Kirchenbauten in Potsdam, Leipzig und Magdeburg, das gotische Rathaus in Wesel, die Markthäuser in Mainz, der Pellerhof in Nürnberg, die Frankfurter Fachwerk-Altstadt ... die Liste bereits vollendeter, geplanter oder geforderter Rekonstruktionen ist lang.

Dabei sind die Ansprüche keineswegs immer so hoch, wie sie es beim Wiederaufbau der Frauenkirche waren, die nach den alten Plänen und mit traditionellen Bautechniken "archäologisch" rekonstruiert wurde. In der Regel entstehen nur historisierende Fassaden, die modernen Betonkonstruktionen vorgeblendet werden, so wie dies auch beim Neuaufbau des Dresdner Neumarktviertels [7] rund um die Frauenkirche geschah. Während beim Aufbau der Kirche knapp die Hälfte der alten Substanz wiederverwendet werden konnte, existierten von den barocken Bürgerhäusern nur noch einige Kellermauern; leider wurden die meisten dieser Relikte dem Wunsch der Investoren nach Tiefgaragen geopfert, sodass die Häuser den letzten Rest an Authentizität einbüßten.

So wie es einmal wahr: Stadtmodell in einem Info-Pavillon des Vereins Historischer Neumarkt Dresden e.V. (2004) und die ersten rekonstruierten Blocks (2006). Fotos: Reinhard Huschke

Der Charme des neu entstandenen, pastellfarbenen Neumarktviertels ist dennoch unbestreitbar und wahrscheinlich den meisten "authentischen" Fußgängerzonen aus den 1960er Jahren überlegen. Ob der Neumarkt nur ein Freiluftmuseum für Elbflorenz-Touristen bleibt oder tatsächlich wieder ein Stück echte Stadt wird, wird die Zukunft zeigen.

Braunschweig, der Sündenfall

Wo Denkmäler beliebig verfügbar werden, wächst auch die Bereitschaft, mit ihnen nach Belieben umzuspringen, sie je nach Opportunität abzuräumen oder hervorzuholen.

Wolfgang Pehnt, Architekturhistoriker, Köln

Konnte man für die Rekonstruktionswünsche der Dresdener aufgrund des besonders tragischen Schicksals ihrer Stadt auch in Fachkreisen noch durchaus Verständnis aufbringen, so wurden in Braunschweig die schlimmsten Befürchtungen der Denkmalpfleger gebaute Wirklichkeit. Nachdem 1960 auf Beschluss des Stadtrates das im Krieg teilzerstörte Residenzschloss trotz Bürgerprotesten abgetragen worden war, errichtete man es von 2005 bis 2007 als Eingang zu einer überdimensionierten, blinddarmförmigen Shoppingmall [8] neu. Der Vergleich zu Outlet-Centern im Stil deutscher Kleinstädte oder entsprechenden Szenarien in Vergnügungsparks liegt hier nahe.

In dieselbe Kategorie gehören die Markthäuser in Mainz [9], wo hinter historisierenden Fassaden ein großvolumiger Neubau des italienischen Stararchitekten Massimiliano Fuksas entstanden ist – von den Mainzern wegen seiner Lamellenfassade auch "Blechsarg" genannt (obwohl die Lamellen gar nicht aus Blech, sondern aus Keramik bestehen).

Befürchtungen von Architekten und Denkmalschützern, durch derartige potemkinsche Rekonstruktionen würden echte Denkmäler entwertet, sind in diesen beiden Fällen sicher nicht von der Hand zu weisen. Zu leicht geben sich Bürger und Kommunalpolitiker mit einer schönen Fassade zufrieden und hegen wenig Skrupel wegen der eventuell mangelnden Sinn- und Wahrhaftigkeit eines Rekonstruktionsprojektes. Die von Architekten, Historikern und Denkmalpflegern eingeforderte Authentizität interessiert wenig, die "Schönheit" des Wiedererstandenen genügt vollauf. Vor solch einem "Städtebau des ästhetischen Scheins" [10] warnt der Kölner Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt, versucht aber gleichzeitig, durch Formulierung von Legitimitätskriterien zwischen den meist unversöhnlichen Standpunkten von Rekonstruktionsbefürwortern und -gegnern zu vermitteln:

Wenn man rekonstruieren will, dann müssen für mich fünf Kriterien erfüllt sein. Erstens müssen zuverlässige Baupläne vorliegen. Zweitens muss der Bau am selben Standort errichtet werden wie der Vorgängerbau. Drittens dürfte die Geschichte nicht über diesen Bauplatz hinweggegangen sein, er muss also unbebaut geblieben sein. Viertens muss noch genug historische Bausubstanz vorhanden sein, die das künftige Gebäude sozusagen beglaubigt, es durchdringt wie der Sauerteig das Brot. Fünftens müsste die neue Nutzung verträglich sein mit dem Charakter des zu rekonstruierenden Gebäudes.

Wolfgang Pehnt in einem Interview mit dem SPIEGEL, 2008

Die Pehntschen Kriterien waren beim Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche offensichtlich erfüllt: Die Ruine wurde nach dem Krieg nicht abgeräumt, das Gelände nicht neu genutzt, sodass man den Wiederaufbau als verspätete Wiederherstellung nach dem Krieg interpretieren kann. Außerdem ist das rekonstruierte Gebäude nicht nur Fassade, sondern wird wieder als Kirche genutzt. Hinzu kam die enorme Bedeutung für die Identifikation der Dresdener mit ihrer Stadt, sodass heute auch ehemalige Kritiker des Projektes verstummt sind.

Weniger eindeutig, aber dafür typischer ist der Fall der 1956 gesprengten Magdeburger Ulrichskirche [11]. Ihr Standort ist zwar nach wie vor verfügbar, die Kriegsruine wurde allerdings restlos abgeräumt und die Umgebung neu bebaut. Auch eine Wiedernutzung als Kirche scheidet mangels Kirchgängern aus. Demgegenüber stehen die Sehnsucht nach Gebäuden mit historischem Flair in dieser wie Dresden durch fast völlige Kriegszerstörung, radikale Trümmerräumung und "sozialistische" Neuplanung enthistorisierten Stadt und die damit erhofften Impulse für die Stadtentwicklung und den Tourismus. Eine Rolle spielt sicher auch – wie bei den Rekonstruktionen der Leipziger Pauliner- und der Potsdamer Garnisonkirche – der Wunsch, den von der damaligen politischen Führung begangenen Kulturfrevel wiedergutzumachen. Letztlich lehnten die Magdeburger die Rekonstruktion der Ulrichskirche in einem Bürgerentscheid im März 2011 mit deutlicher Mehrheit ab.

Berlin, die Hauptstadt der Debatte

Warum soll man bestreiten, dass eine Replik des Stadtschlosses unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten ein Falsifikat wäre? Das Original lässt sich niemals wieder gewinnen, und wenn man tausend Einzelteile findet, die man in den Neubau einfügt. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, die Stadt als Stadt zu retten, und deshalb wird man nicht triumphierend, sondern resignierend das Verlorene mit Abschiedsschmerz wiederherstellen müssen.

Wolf Jobst Siedler, Publizist und Verleger, Berlin

Exemplarisch für die aktuelle Rekonstruktionsdebatte ist die über Jahre erbittert geführte Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses [12]. Anders als bei der auch in Fachkreisen viel gelobten Teilrekonstruktion des Neuen Museums [13] durch den britischen Architekten David Chipperfield ist von dem 1950 auf Geheiß des damaligen SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht gesprengten Schlossbau kaum noch Originalsubstanz vorhanden (lediglich Kellergewölbe sowie einige eingelagerte Fassadenteile, so genannte Spolien). Zudem musste für den Wiederaufbau bereits ein Nachfolgebau (der Palast der Republik) weichen, der – ohne über dessen architektonische Qualität spekulieren zu wollen – zumindest eine historische Bedeutung hatte. Auch die Nutzung des jetzt als "Humboldt-Forum" bezeichneten Schlossneubaus ist noch nicht endgültig geklärt.

Wegen seiner mangelnden materiellen Authentizität und der Nichtübereinstimmung von "Sein und Schein", also zwischen Fassade und intendierter Nutzung, stehen die meisten Architekten und Denkmalpfleger dem Vorhaben ablehnend gegenüber; die überwiegend aus dem (Bildungs-) Bürgertum stammenden Befürworter betonen dagegen die historische und städtebauliche Bedeutung für Berlin und halten deshalb eine Wiederkehr des Schlosses an seinen alten Platz, und sei es auch nur in seiner äußeren Form, für unverzichtbar. Befürworter und Gegner argumentieren also auf verschiedenen Ebenen, was für die Rekonstruktionsdebatten auch andernorts typisch ist.

Inzwischen hat die Berliner Diskussion weitere Kreise gezogen: Nun, da die Wiederherstellung von drei Außenfassaden und einer Hoffassade des Schlosses beschlossene Sache ist, streitet man um das Schicksal der in DDR-Zeiten leergeräumten Altstadtflächen in der Nachbarschaft. Ein historisierender Wiederaufbau der ehemaligen Altstadtkerne Berlin und Cölln steht zwar nicht zur Debatte, aber eine am historischen Stadtgrundriss orientierte, kleinteilige Bebauung des Freiraums zwischen Schloss und Fernsehturm können sich manche durchaus vorstellen – allen voran der als streitbar bekannte frühere Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der mit einer Buchveröffentlichung [14] für dieses Konzept wirbt. Andere hingegen möchten die großzügigen Weiten der DDR-Moderne [15] erhalten. Auch hier lassen sich beide Sichtweisen historisch rechtfertigen, je nachdem, welcher Zeitschicht man den Vorzug gibt.

Unter dem Pflaster die Altstadt: Ausgrabungen vor dem Roten Rathaus in Berlin im Herbst 2010. Foto: Reinhard Huschke

In diesem Zusammenhang stieß die Ausstellung "Berlins vergessene Mitte", die noch bis Ende März 2011 im Ephraim-Palais – übrigens selbst eine Rekonstruktion von 1987 – zu sehen war, auf großes Interesse; dasselbe gilt für die zeitgleich im Rahmen des U-Bahnbaus stattfindenden Ausgrabungen [16] vor dem Roten Rathaus, bei denen die Kellermauern der hier einst dicht an dicht stehenden Gebäude ans Tageslicht kommen. Im Oktober 2010 konnten hier sogar mehrere gut erhaltene Skulpturen von in der Nazizeit als "entartet" geltenden Künstlern geborgen werden. Spätestens durch dieses Ereignis dürfte der "Altstadt-Virus" auch bei vielen Berlinern geweckt worden sein, die von der Existenz einer Altstadt bisher nichts wussten oder gar das 1987 rekonstruierte Nicolai-Viertel für selbige hielten.

Frankfurt, mehr als schöne Fassaden

Es soll gezeigt werden, wie man im 21. Jahrhundert an die Frage des Weiterbauens herangehen kann. Das ist ein Experiment, das Frankfurt auszeichnen könnte.

Arno Lederer, Architekt, in einem Interview mit der FAZ

Von diesem Virus sind die Frankfurter längst infiziert. Nachdem die städtischen Planer vorgeschlagen hatten, den bisher vom Technischen Rathaus, einem Waschbetonkoloss aus den 1970er Jahren, dominierten Römerberg im Stadtzentrum neu zu bebauen, liefen viele Frankfurter überraschend Sturm gegen den in einem Architektenwettbewerb ermittelten Entwurf des Architekturbüros KSP [17] und forderten anstelle der vorgeschlagenen modernen Blockbebauung die Rekonstruktion der dort bis 1944 stehenden Fachwerkhäuser.

Nach mehrjähriger Diskussion folgte die Politik weitgehend diesen Wünschen: Mindestens acht so genannte Leitbauten werden historisch exakt rekonstruiert und die weiteren Gebäude unter Zugrundelegung der historischen Parzellenstruktur sowie einer strengen Gestaltungssatzung an diese angepasst. Im eigens eingerichteten Gestaltungsbeirat sollen renommierte Architekten wie Christoph Mäckler (Frankfurt) und Arno Lederer (Stuttgart) für die architektonische und städtebauliche Qualität der Ergebnisse bürgen, die "zum Vorbild in Deutschland" werden könnten (Mäckler in der FAZ).

Das Vorhaben ist zwar prinzipiell mit dem Dresdner Neumarktprojekt vergleichbar, geht allerdings einen entscheidenden Schritt weiter: In Frankfurt soll es keine Fassadenarchitekturen geben, vielmehr werden alle zu rekonstruierenden Gebäude außen wie innen nach alten Plänen und auf den alten Parzellen gebaut. Durch eine ausgewogene Mischung von Wohnen und Gewerbe will man zudem "ein wenig von dem früheren Leben und Treiben zurückbekommen" (DomRömer GmbH).

Platz für die neue Altstadt: Der Abriss des 1972 errichteten Technischen Rathauses in Frankfurt am Main ist inzwischen abgeschlossen. Foto: DomRömer GmbH

Die Chance, dass sich genügend Investoren für die vorgesehenen Komplettrekonstruktionen finden, stehen in der Finanzmetropole Frankfurt zweifellos besser als andernorts, wo es meist nur für nachempfundene Fassaden reicht. Auch beim Aufbau des Dresdner Neumarktes wagte man nicht, den Investoren strengere Verpflichtungen aufzuerlegen (z.B. Erhaltung von Kellerresten, Wiederherstellung der alten, für heutige Nutzungsansprüche zu kleinteiligen Grundrisse), sodass hier bis heute nur ein einziges Bürgerhaus weitgehend nach alten Plänen [18] rekonstruiert wurde.

Ulm, Weiterbauen statt Rekonstruieren

Die Entwicklung und Veränderungen der historischen Stadt im Laufe der Jahrhunderte haben Stadtbilder voller Gegensätze und Brüche geschaffen. In den erhaltenen historischen Städten nehmen wir die Brüche als solche nicht mehr wahr.

Jürgen Paul, Kunsthistoriker, Dresden

Während sich die Frankfurter ihre neue Altstadt nicht ohne die Rekonstruktion historischer Gebäude vorstellen konnten, setzte man in Ulm bei der Ende 2007 fertig gestellten Neuen Mitte [19] konsequent auf zeitgenössische Architektur. Mit drei auf einer ehemaligen Verkehrsschneise aus den 1960er Jahren platzierten Gebäuden wurde der in der Nachkriegszeit unterbrochene städtische Zusammenhang wieder hergestellt. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die heute wieder geschätzten Qualitäten der alten Städte vor allem von deren kleinteiliger Struktur und Nutzungsmischung und weniger von der Architektur der einzelnen Gebäude herrühren, solange sich diese in den Bestand einfügen.

Dass auch Neues identitätsstiftend sein kann, zeigen nicht nur aktuelle Stadtreparaturprojekte wie in Ulm, sondern auch die Erfahrung in Städten mit "konservativer" Nachkriegs-Aufbauplanung wie Münster oder Freiburg [20]. Dort wurden die historischen Stadtstrukturen weitgehend bewahrt, sodass diese Städte heute von Bewohnern wie Touristen trotz ihrer in großen Teilen modernen Bebauung als "historisch" oder zumindest "charakteristisch" empfunden werden.

Für die meisten deutschen Städte, die ihren Nachkriegsaufbau weniger an ihrer Geschichte als an den Bedürfnissen des Autoverkehrs ausgerichtet haben, kommt diese Erkenntnis freilich zu spät. In wohlbegründeten Einzelfällen mögen hier rekonstruierte "Leitbauten" dazu beitragen, ein Stück verlorene Identität und historische Kontinuität wiederzugewinnen. Wie das Beispiel von Ulm zeigt, liegt die eigentliche Herausforderung aber darin, das Vorhandene im Stil unserer Zeit weiterzubauen; auf diese Weise, Zeitschicht für Zeitschicht, sind letztlich auch die vielfältigen, schönen alten Städte entstanden, nach denen sich heute viele sehnen.

Eine ausführliche Darstellung des Themas bietet die vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herausgegebene Studie Positionen zum Wiederaufbau verlorener Bauten und Räume [21]. Darüber hinaus gibt es zahlreiche einschlägige Buchveröffentlichungen, viele davon aus den letzten Jahren.

Einfach wieder aufbauen - darf und soll man das? (9 Bilder) [22]

[23]
Frühe Rekonstruktionsprojekte in West und Ost: der Fachwerk-Marktplatz in Hildesheim (1989) und das Ost-Berliner Nicolai-Viertel (1987). Fotos: Reinhard Huschke

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[1] http://de.academic.ru/pictures/dewiki/77/MuensterPrinzipalmarkt09.JPG
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[3] http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/stadtmodelle/de/innenstadtplaene/sp/index.shtml
[4] http://www.knochenhaueramtshaus.de/ka2/start/ka_start.html
[5] http://dresden1302.noblogs.org/gallery/5061/quadrat_mitjahreszahlen2.png
[6] http://www.fotos-aus-der-luft.de/Sachsen/Dresden_Innere_Altstadt_03.html?g2_imageViewsIndex=1
[7] http://www.tourdresden.de/architektur/der-neumarkt-1-die-aufgabe
[8] http://www.braunschweig.de/kultur_tourismus/stadtportraet/braunschweiger_ansichten/luftbilder/luftbildcollection/LBC_Schloss.jpg
[9] http://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Fuksas-Haeuser_in_Mainz_fertig_676355.html
[10] http://www.tagesspiegel.de/kultur/in-der-mischung-liegt-die-mitte/v_default,1532370.html
[11] http://www.bauwelt.de/cms/bauwerk.html?id=2264581
[12] http://www.schlossdebatte.de
[13] http://www.youtube.com/watch?v=e5Q-PEc8TFk&feature=channel
[14] http://www.tagesspiegel.de/berlin/ein-weites-feld-fuer-visionen/1519748.html
[15] http://www.tagesspiegel.de/kultur/stadtmitte-statt-altstadt/1526168.html
[16] http://www.tagesspiegel.de/berlin/mit-der-u-bahn-in-die-vergangenheit/3411372.html
[17] http://www.ksp-architekten.de/uploads/tx_kspprojekte/1583bwA3_web.pdf
[18] http://www.rampische29.de
[19] http://tourismus.ulm.de/tourismus/de/sehenswert/altstadt_city/Neue_Mitte/Neue_Mitte.php
[20] http://www.alt-freiburg.de/clare_kajo.htm
[21] http://www.bbsr.bund.de/cln_016/nn_21272/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/BMVBS/Forschungen/2010/Heft143.html
[22] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3389040.html?back=3389038
[23] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_3389040.html?back=3389038