Eingesperrt wegen Corona in der Nachbarschaft: Maßnahme war rechtswidrig
"Sozialer Brennpunkt" eingezäunt und polizeilich bewacht: Göttinger Familie siegt nach dreieinhalb Jahren vor Gericht. Wären Wohlhabende besser behandelt worden?
Das Wissen war defizitär, an Impfstoffen wurde noch gearbeitet: Im Juni 2020, wenige Monate nach Beginn der Corona-Infektionswellen in Deutschland, war das Virus in einem Hochhauskomplex in Göttingen ausgebrochen. Die drastische Reaktion der Behörden wurde nun gerichtlich aufgearbeitet.
Die Stadtverwaltung stellte den gesamten Gebäudekomplex unter Quarantäne und zäunte ihn ein. Niemand durfte das Gelände verlassen. Eine der betroffenen Familien hat dagegen vor dem örtlichen Verwaltungsgericht geklagt – und am Donnerstag nach dreieinhalb Jahren Recht bekommen.
Das Gericht erklärte den Freiheitsentzug durch Einzäunung und polizeiliche Bewachung für rechtswidrig. Für die mehrtägige Maßnahme habe es keine Rechtsgrundlage gegeben, hieß es zur Begründung.
Aus Sicht vieler Bewohner funktionierte auch die Versorgung mit Lebensmitteln schlecht: "Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips", hatte damals eine Frau laut einem Bericht der taz gesagt.
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Drei Tage nach Beginn der Quarantäne, am 21. Juni, eskalierte die Lage, als eine Demonstration durch die Groner Landstraße zog. Gefordert wurde der Abbau der Zäune. Innerhalb der Absperrungen versammelten sich rund 100 Anwohner und rüttelten an den aufgestellten Bauzäunen.
Manche versuchten, über die Absperrungen zu klettern. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, Flaschen, Pyrotechnik und Hausrat wurden in Richtung der Einsatzkräfte geworfen. Gegen mehrere Hausbewohner wurden später Strafverfahren eingeleitet.
Aber auch ein Ehepaar mit zwei Kindern zog vor Gericht. Die Klage der Familie richtete sich nicht gegen die Quarantäneanordnung als solche, sondern gegen die Einzäunung und den damit verbundenen Freiheitsentzug.
"Verschärfter Arrest": Nur zufällig nicht in feinerer Gegend?
Die Wohnanlage in der Groner Landstraße gilt als "sozialer Brennpunkt". Der evangelische Pfarrer und Grünen-Ratsherr Thomas Harms warf deshalb die Frage auf, ob eine solche Maßnahme wohl auch in den "besseren" Vierteln der Stadt angeordnet worden wäre und sprach von einem "verschärften Arrest" für rund 700 Personen. Unter diesen Betroffenen waren rund 200 Kinder und Jugendliche. Kritisiert wurde auch die Gefährdung der Nicht-Infizierten auf dem Gelände.
Die Behörden hatten seinerzeit Tests für alle Bewohner angeordnet, nachdem sich zwei Frauen mit dem Coronavirus infiziert hatten. Mehr als 100 Personen wurden positiv getestet. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, stellte die Stadt den Komplex zunächst für eine Woche unter Quarantäne. Vom 18. bis 25. Juni 2020 waren die Bewohner faktisch eingesperrt.
Lieferwagen brachten Lebensmittel und Hygieneartikel, das Rote Kreuz und die Johanniter betrieben eine mobile Sanitätsstation.
"Die Stadt hat wesentliche verfahrensrechtliche Anforderungen nicht erfüllt und damit erheblich und rechtswidrig in die Grundrechte der betroffenen und ohnehin sozial marginalisierten Bewohner des Gebäudekomplexes eingegriffen", sagte der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam laut einem aktuellen Bericht der taz.
Das Urteil habe weitreichende Bedeutung für den künftigen Umgang mit Gebäudekomplexen im Pandemiefall. Die Maßnahme "hätte trotz der pandemiebedingten dynamischen und sowohl tatsächlich als auch rechtlich schwierigen Situation in dieser Form niemals durchgeführt werden dürfen".