Elektronische Patientenakte: Vorsichtshalber widersprechen?
Neue Digitalgesetze im Gesundheitswesen: Werden bald gefährliche Krankheiten schneller diagnostiziert, droht Datenmissbrauch – oder ist beides möglich?
Die elektronische Patientenakte und das "E-Rezept" sollen Standard werden: Das sieht ein Gesetz der Ampel-Koalition vor, das der Bundestag am Donnerstag verabschiedet hat. Demnach sollen Arztpraxen ab Anfang 2024 verpflichtet werden, Rezepte elektronisch auszustellen.
Das Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens sieht außerdem vor, dass bis Anfang 2025 für alle gesetzlich Versicherten elektronische Patientenakten (ePA) für Gesundheitsdaten wie Befunde und Laborwerte angelegt werden müssen – es sei denn, die Betroffenen widersprechen bis zum 15. Januar 2025 aktiv.
Wer eine informierte Entscheidung treffen will, sollte sich auch mit dem zweiten Digitalgesetz befassen, das am Donnerstag für das Gesundheitswesen beschlossen wurde: dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das regelt, wer zu welchen Zwecken Zugriff auf die Patientendaten bekommt.
Pro-Argument: Seltene Krankheiten schneller identifizieren
Geworben wurde dafür mit dem Argument, dass seltene Erkrankungen bisher oft erst spät und teils nach mehreren Jahren der "diagnostischen Odyssee" identifiziert würden, was für die Betroffenen belastend sei.
"Durch die Zusammenführung der bei den Kassen vorliegenden Daten unterschiedlicher Quellen kann gegebenenfalls eine Beschleunigung der Erkennung seltener Erkrankungen erreicht werden", heißt es in dem nun beschlossenen Gesetzentwurf.
Außerdem sollen "Akteure, die Gesundheitsdaten im Sinne des Gemeinwohls verarbeiten wollen" für ihre "Aufgaben und Forschungsvorhaben" erleichterten Zugang zu den Daten erhalten.
Lesen Sie auch:
Elektronische Patientenakte: Sind unsere Daten sicher?
Kritik: Keine aktive Einwilligung nötig
Dass für das Anlegen der ePA keine aktive Einwilligung der Betroffenen nötig ist, sieht unter anderem die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisch. Deren Vorstand Eugen Brysch hofft sogar, dass "das Bundesverfassungsgericht die Lauterbachsche E-Akte ausbremst", wie er am Donnerstag erklärte.
Schwerstkranke und Pflegebedürftige, die ihre informationelle Selbstbestimmung ausüben wollen, werden durch die Einführung der elektronischen Patientenakte benachteiligt. Das heute bestehende Recht auf einen Medikationsplan in Papierform wird ihnen dann verwehrt.
Diese Patientengruppe hat auch bei der Beteiligung der E-Akte das Nachsehen, weil wichtige Altbefunde nicht eingepflegt werden müssen. Zudem bleiben digital unerfahrene Menschen außen vor.
Eugen Brysch, Deutsche Stiftung Patientenschutz
Lauterbach sieht "Quantensprung" in Sachen Digitalisierung
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach dagegen von einem "Quantensprung", mit dem Deutschland endlich die Digitalisierung im Gesundheitssystem ermöglichen müsse.
Bislang lägen wichtige Daten verstreut auf den Servern der Praxen und Krankenhäuser, in denen Patienten in der Vergangenheit behandelt worden seien. "Das darf nicht weiter so sein", sagte Lauterbach am Donnerstag.
In der Schlussberatung im Bundestag gaben sich die Koalitionsfraktionen von SPD, Grünen und FDP überzeugt, dass mit den Digitalgesetzen das Gesundheitssystem insgesamt entscheidend gestärkt werden könne. Auch die Unionsparteien befürworten sie im Prinzip, aber nicht im Detail und enthielten sich daher bei der Abstimmung.
Linke-Politiker wirft Koalition "gespielte Naivität" vor
Im Redebeiträgen der bisherigen Linksfraktion wurde die geplante Weitergabe sensibler Gesundheitsdaten an Dritte, vor allem an Pharmakozerne scharf kritisiert.
Er sei verblüfft, "mit welch gespielter Naivität die Koalition bereit ist, in den beiden Gesetzen die privatesten, die intimsten, die sensibelsten Informationen der Menschen zu veräußern, nämlich die über ihre Gesundheit", sagte der nun fraktionslose Abgeordnete Ates Gürpinar.
Manche Reden der Koalitionäre hörten sich für ihn an "wie aus einer Marketingabteilung eines großen Digitalkonzerns". Sie trügen aber "hier und heute Verantwortung für die Gesundheitsdaten von 80 Millionen Menschen".
Offener Brief: Organisationen misstrauen dem Vorhaben
Auch Organisationen wie die Verbraucherzahlen, die Aids-Hilfe und der Chaos Computer Club hätten in einem offenen Brief mit der Überschrift "Vertrauen lässt sich nicht verordnen" massive Bedenken gegen die Gesetzesvorhaben und Zweifel an der Datensicherheit geäußert.
Die ePA für alle wird nur dann zu einem Erfolg, wenn sie das Vertrauen der Versicherten hat. Dafür braucht es ein selbstbestimmtes Nutzungserlebnis, transparente Kommunikation und Regelungen, die einen verantwortungsvollen Umgang mit den sensiblen Daten sicherstellen.
Michaela Schröder, Verbraucherzentrale Bundesverband e.V.
Kritische Beteiligung unerwünscht?
Auch sehen sie eine "diskriminierungssensible" Umsetzung nicht gewährleistet und nennen zehn "Prüfsteine" für die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Dazu müssten Betroffene, Leistungserbringer, Wissenschaft und Zivilgesellschaft stärker in die Ausgestaltung eingebunden werden, schreiben die Organisationen.
Derzeit sei aber eine echte und kritische Beteiligung neutraler Dritter bei der Ausgestaltung der Systeme nicht erwünscht, hieß es in dem offenen Brief, der zwei Tage vor der Abstimmung veröffentlicht worden war.
Neben der bisherigen Linksfraktion stimmten auch die AfD-Abgeordneten wegen Datenschutzbedenken gegen die Gesetzentwürfe.