Emmanuel Todd: Russlands Aufstieg und der Westen am Abgrund

Bild (Juni, 2021): www.kremlin.ru / CC BY 4.0 Deed

Ukraine-Krieg und globale Machtverschiebungen: Der französische Intellektuelle prophezeit verstärkte russische Vorgehensweisen. Das Land habe nicht viel Zeit.

Dass der Westen auf einem absteigenden Ast sitzt, ist als Diskussionsbeitrag nichts Neues. Die apodiktischen Vehemenz, mit der ihn der französische Intellektuelle Emmanuel Todd vorbringt, aber schon:

"Wir erleben den endgültigen Untergang des Westens" (französisch: "Nous assistons à la chute finale de l’Occident"), behauptet er in einem längeren Gespräch mit der konservativen französischen Zeitung Le Figaro.

"Endgültiger Untergang"

"Endgültiger Untergang" – Das ist ein Aufschlag, der aufhorchen lässt. Für den Hintergrund interessant ist, was viele jüngere Leserinnen und Leser vielleicht nicht wissen: Seit seiner Buchveröffentlichung von 1976, als er den Zusammenbruch der Sowjetunion vorwegnahm, kann er auf Aufmerksamkeit für seine Analysen zählen.

Der französische Titel des "Essays über den Zerfall der sowjetischen Sphäre" heißt "La chute final" (deutscher Titel: "Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft").

Unverkennbar knüpft der Historiker, Demograf und Anthropologe (so die Selbstbeschreibung), der sein eben erschienenes Buch über die "Niederlage des Westens" vorstellt, an einen früheren Publikumserfolg an.

Doch sagt ein guter Geschäftssinn des Autors, bzw. des Verlagsmarketings noch wenig über die Qualität seiner Analyse. Die reißt ein paar gedankliche Standards ein, an die wir uns in den öffentlich geführten Diskussionen gewöhnt haben.

Ukraine-Krieg für den Westen verloren

Das fängt damit an, dass der Krieg in der Ukraine nach Todds Ansicht für den Westen bereits verloren ist. Todds Betonung liegt auf "den Westen". Zwar sei der Krieg bisher nicht beendet, aber ein militärischer Sieg der Ukraine sei eine Illusion.

Davon, so Todds Beobachtung, habe der Westen nun Abschied genommen – "nach dem Scheitern der Gegenoffensive im Sommer und der Feststellung, dass die USA und die anderen Nato-Staaten nicht in der Lage sind, der Ukraine ausreichend Waffen zu liefern".

Drei Faktoren für den Niedergang des Westens

Daran schließt er seine Analyse des Niedergangs des Westens an. Er erwähnt drei Faktoren, die er für ausschlaggebend hält.

Erstens: der industrielle Niedergang der USA, namentlich eine "unzureichende Ingenieurausbildung und ganz allgemein der Rückgang des Bildungsniveaus, der in den USA bereits 1965 einsetzte".

Zweitens: das Verschwinden des US-amerikanischen Protestantismus, der nach seiner Auffassung zu einer Bildungsoffensive ("Jeder soll selbst lesen") und einer Arbeitsethik geführt hatte, die den Westen erfolgreich gemacht haben:

"Der jüngste Zusammenbruch des Protestantismus hat einen intellektuellen Niedergang, ein Verschwinden der Arbeitsethik und eine Massengier (offizieller Name: Neoliberalismus) ausgelöst: Der Aufstieg kehrt sich in den Untergang des Westens um."

Der angloamerikanische Protestantismus hat ein Nullstadium der Religion erreicht, das über das Zombiestadium hinausgeht, und produziert dieses schwarze Loch. In den USA mutiert zu Beginn des dritten Jahrtausends die Angst vor der Leere zur Vergöttlichung des Nichts, zum Nihilismus.

Emmanuel Todd

Drittens: Die Unterstützer, die Russland trotz der westlichen Anstrengungen, das autoritär geführte Land zu isolieren, in der Welt gefunden hat, sind ebenfalls ein Ausweis des westlichen Niedergangs.

Nicht zuletzt, weil der westliche Ansatz, wonach Russland wirtschaftlich niederzuringen wäre, nicht funktioniert hat, und Russland mit der wirtschaftlichen Stärke und mit seiner politischen Kultur auf traditionelle Einstellungen setzen konnte, innen wie außen:

Der dritte Faktor der westlichen Niederlage ist die Bevorzugung Russlands durch den Rest der Welt. Dieses hat überall Wirtschaftsverbündete, wenn sie dies auch nur diskret zeigen, entdeckt. Eine neue konservative (Anti-LGBT) russische Soft Power lief auf Hochtouren, als klar wurde, dass Russland wirtschaftlich mithalten kann.

Emmanuel Todd

Das US-amerikanische Know-how

Das sind bis dahin keine wirklich neuen Analysen. Der erste Punkt erstaunt auch etwas angesichts dessen, dass US-amerikanische Technikkonzerne weltweit führend sind, die US-amerikanische Wirtschaftsmacht nicht zuletzt auch durch dieses Know-how noch so mächtig ist, dass sie in vielen Bereichen Spielregeln vorgibt.

Auch wäre die Ingenieursarbeit für Elon Musks Ideen und Produkte zu nennen, die nicht gerade für einen finalen Niedergang sprechen.

Der zweite Punkt erscheint zumindest im Interview etwas pauschal und wird von einem anderen kulturphilosophischen Beitrag auf interessantere Weise vertieft.

Die demografische Prognose

Aber, was den Ukraine-Krieg und seine Dynamik betrifft, so blättert Todd eine ungewöhnliche Betrachtung auf, in der dann letztlich auch die Sache mit den Freunden Russlands und den LGBT zur Geltung kommt.

Seine Prognose und seine Beobachtung zum Ukraine-Krieg:

Russland will zweifellos 40 Prozent des ukrainischen Territoriums und ein neutralisiertes Regime in Kiew. Während auf unseren Fernsehbildschirmen zur selben Zeit, in der Putin behauptet, Odessa sei eine russische Stadt, immer noch erzählt wird, die Front stabilisiere sich...

Aber, so Todd, Russland müsse sich beeilen und die "Gunst der Stunde" nutzen:

Die US-Amerikaner werden tatsächlich einen Status quo anstreben, der es ihnen ermöglicht, ihre Niederlage zu kaschieren. Die Russen werden dies nicht akzeptieren. Sie sind sich nicht nur ihrer unmittelbaren industriellen und militärischen Überlegenheit, sondern auch ihrer künftigen demografischen Schwäche bewusst.

Putin will zwar seine Kriegsziele durch Einsparung von Menschen erreichen und lässt sich dabei Zeit. Er will die Errungenschaften der Stabilisierung der russischen Gesellschaft bewahren. Er will Russland nicht remilitarisieren und legt Wert darauf, seine wirtschaftliche Entwicklung fortzusetzen.

Aber er weiß auch, dass demografisch dünne Jahrgänge heranwachsen und dass die Rekrutierung für das Militär in einigen Jahren (drei, vier, fünf?) schwieriger werden wird. Die Russen müssen daher die Ukraine und die Nato jetzt bezwingen, ohne ihnen eine Pause zu gönnen. Machen wir uns keine Illusionen. Die russischen Bemühungen werden sich noch verstärken.

Tatsächlich verweisen Berichte auf eine demografische Kurve in Russland nach unten, die Taz berichtete im November 2023 von einer "demografischen Krise".

Ob dies aber real ein solches Gewicht hat, wie ihr Todd zumisst?

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