Ende des deutschen "Corona-Wunders"

Bild: Bennett Tobias/Unsplash

In Deutschland sterben immer mehr Menschen an Covid-19

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Die Nachrichten waren schön. Und sie waren zu schön, um wahr zu sein. Während im Frühjahr 2020 die Pandemie weltweit um sich griff und die Zahl der Toten in vielen Ländern steil anstieg, schien Deutschland viel weniger stark betroffen. Zwar stieg die Zahl der gemeldeten Corona-Fälle zeitweilig sogar exponentiell. Doch irgendein Wunder schien dafür zu sorgen, dass eine Erkrankung an Covid-19 hierzulande potenziell weniger tödliche Konsequenzen hatte.

"Warum sterben so wenige Deutsche an dem Coronavirus?", wunderte man sich auf NBC News in den USA. Kein anderes großes Land komme Deutschland nahe: hohe Fallzahlen, nur wenige Tote. Woran lag das? War es die höhere Zahl an Intensivbetten oder der spätere Eintritt der Pandemie? Oder sah die Sterberate in Deutschland nur niedriger aus, weil sie durch eine hohe Zahl an Tests verwässert worden war?

Das Wirtschaftsmagazin Forbes meldet Ende März: "Im Vergleich zu anderen Ländern bleibt Deutschland ein Ausreißer in Bezug auf eine sehr niedrige Sterblichkeitsrate bei Coronavirus-Fällen und minimale Zahlen von COVID-19-Patienten in schwerem oder kritischem Zustand." In Italien, so Forbes, war die Sterblichkeitsrate zwanzig Mal so hoch.

Deutschland: "Eines der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder"

Auch dem Time Magazine blieb die vergleichsweise niedrige Zahl deutscher Covid-Opfer nicht verborgen: "Mit mehr als 63.000 bestätigten Fällen von Covid-19 zum 30. März ist Deutschland laut offizieller Statistik eines der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder." Doch die Fallsterblichkeitsrate sei eine der weltweit niedrigsten. Als einen Hauptgrund dafür glaubte auch Time die hohe deutsche Testfrequenz auszumachen. War also die niedrige Sterblichkeit nur ein statistisches Artefakt?

Haben die Deutschen den Fluch der Katastrophe gebrochen, fragt die New York Times angesichts der tollen Zahlen. Oder liegt es an der effizienten Nachverfolgung von Infektionsfällen durch die Gesundheitsämter? Möglich auch, so die Times, dass Deutschland seine ältere Bevölkerung besser schütze und sich zunächst überwiegend jüngere Menschen infiziert haben. Aber auch die Times hat noch eine andere Theorie: "Es ist durchaus möglich, dass Deutschland einfach später dran ist."

Die Skepsis, mit der die ausländischen Medien im Frühjahr 2020 dem vermeintlichen deutschen Corona-Wunder begegnen, ist schon aus logischen Gründen berechtigt. Darauf wurde auch hierzulande hingewiesen (Im Blindflug durch die Pandemie). Denn es ist nicht ersichtlich, warum sich das Virus innerhalb deutscher Grenzen anders verhalten sollte als außerhalb. Wenn sie nicht ein bloßes Artefakt des Zahlenmaterials war, handelte es sich bei der 'vergleichsweise geringen Sterblichkeit' (RKI) in Deutschland, vermutlich nur um ein vorübergehendes Phänomen.

Übersterblichkeit: Wird Deutschland zu anderen Ländern aufschließen?

Nach fast einem Jahr der Pandemie und mittlerweile fast 20.000 Menschen, die in Deutschland im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben sind, spricht niemand mehr von einer deutschen Ausnahme. Zwar hat das Land noch einen relativen Vorteil, weil die Lage relativ weniger verheerend ist als in anderen Ländern. Aber Deutschland hat bereits stark aufgeholt. Und die Kurven, welche die Zahlen der Todesfälle abbilden, zeigen weiterhin steil nach oben.

Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, lag die Zahl der Sterbefälle in der ersten Novemberwoche um fünf Prozent über dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. Bereits im Oktober befanden sich die Sterbefallzahlen in Deutschland um vier Prozent, dies entspricht 2.777 Menschen, über dem Durchschnitt der vergangenen vier Jahre. Diese Übersterblichkeit setzte mit einem Schub der Zahl aller Sterbefälle etwa seit Mitte Oktober ein.

Im gleichen Zeitraum, seit etwa Mitte Oktober, stieg die Zahl der Corona-Fälle und, um zwei bis drei Wochen zeitversetzt, auch der Corona-Toten, stark an. In der ersten Novemberwoche (45. KW) gab es 1.067 gemeldete Covid-19-Todesfälle. In der letzten Novemberwoche (48. KW) waren es bereits 2.101 Todesfälle. Die Zahl der Corona-Toten hat sich seit Mitte Oktober fast verdoppelt. Seit Anfang Dezember wurden die vier höchsten täglichen Todesfallzahlen seit Beginn der Pandemie gemeldet. (Stand: 05.12.).

Zur Steigerung der Weihnachtsstimmung trägt kaum bei, dass die Situation in anderen Ländern noch schlimmer ist. Daten von EuroMOMO zufolge war die Übersterblichkeit Mitte November (46. KW) in Italien, Belgien und der Schweiz "extrem hoch", in Frankreich und Österreich war sie "sehr hoch", in Spanien und Portugal war sie "hoch". In all diesen Ländern setzte die zweite Welle mehrere Wochen früher als in Deutschland ein. Somit steht zu erwarten, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer signifikanten Übersterblichkeit in Deutschland in den nächsten Wochen nicht verringern wird.

Deutschland nähert sich der Situation anderer Staaten, selbst des viel bemitleideten Italien. Anfang Mai verzeichnete Italien etwa 28.000, Deutschland etwa 6.700 COVID-19-Todesfälle. Anfang Dezember liegt die Todesfallzahl in Italien bei 59.000, in Deutschland bei 18.700. Der Abstand ist nach wie vor beträchtlich. Doch die Entwicklung hat sich in Deutschland beschleunigt. Ob sich die Zahlen weiter angleichen werden, ist nicht sicher. Doch fest steht schon jetzt, dass es Deutschland nicht gelungen ist, sich von der allgemeinen Bewegungsrichtung der Pandemie abzukoppeln.

Der Vergleich mit Italien ist noch aus einem anderen Grund interessant: Möglicherweise hat sich SARS-CoV-2 bereits im Herbst 2019 in Italien verbreitet. Darauf weisen neue Studien hin, die für das Virus spezifische Antikörper in Proben von asymptomatischen Patienten aus ganz Italien festgestellt haben. Möglicherweise, so die Vermutung, war das Virus im Umlauf lange bevor die Epidemie virulent - oder erkannt - wurde. Sollte aber die Pandemie in Italien tatsächlich früher eingesetzt haben, so ist es selbstverständlich denkbar, dass Deutschland noch weiter aufholen wird.

Markus Söder hat sich dieser Tage beschwert, dass die Menschenleben, die im Zusammenhang mit Covid-19 verloren gehen, in Deutschland nicht hinreichend thematisiert werden. Vielleicht ist ein Grund dafür der nicht mehr zutreffende Eindruck, dass in Deutschland weniger gestorben wird. "Es ist für mich nicht erklärbar", so Söder, "warum in der öffentlichen Debatte das Thema Todesfälle nicht höher bewertet wird." Tatsächlich sollte angesichts stark steigender Fallzahlen die öffentliche Aufmerksamkeit zunehmen. Wo er recht hat, hat eben auch ein bayerischer Ministerpräsident recht.