Endlich: Trauer wird als psychische Störung anerkannt

Seite 2: Medizinalisierung

Damit wurde nun der offizielle Standpunkt der US-Psychiatrie zur Trauer geklärt – und wohl eher nicht im Sinne von Allen Frances: Ab einer bestimmten Zeit kann diese insbesondere dann psychologisch-psychiatrisch diagnostiziert (und behandelt) werden, wenn sie nach Meinung des Arztes oder Therapeuten sozial, kulturell oder religiös nicht mehr angemessen ist.

Dabei sollte man wissen, dass das DSM auch in vielen anderen Ländern rund um den Globus verwendet wird und für viele seiner diagnostischen Kategorien sogenannte "unspezifische" Alternativen enthält, die vergeben werden können, wenn die eigentlichen Kriterien nicht ganz erfüllt sind. Damit sind also auch die zeitlichen Grenzen nicht in Stein gemeißelt.

Kritiker von Medizinalisierung (oder Medikalisierung) bemängeln regelmäßig, dass bestimmte Bereiche menschlicher Erfahrung nicht in den medizinischen Bereich gehören. Dabei sollte man berücksichtigen, dass der ganze Bereich der Medizin – trotz Affinität der heute vorherrschenden Biomedizin zu den Naturwissenschaften – von menschlichen Normen durchtränkt ist.

Das gilt auch für die tastbarere, primär körperliche Medizin: Für bestimmte Blutwerte gelten Grenzwerte, also Normen. Auch darüber, ab wann eine bestimmte Auffälligkeit mit einem anderen diagnostischen oder bildgebenden Verfahren "klinisch relevant" ist, können Meinungen von Fachleuten auseinandergehen.

So weit, so gut. Die meisten von uns, mich eingeschlossen, dürften für den medizinischen Fortschritt dankbar sein. Skurril wird das Ganze aber schon etwas, wenn man es im Kontext des (jedenfalls zurzeit noch) vorherrschenden molekularbiologischen Paradigmas in der Psychiatrie sieht: Demnach sind psychische Störungen nämlich Gehirnstörungen.

Das heißt, wenn ein Arzt oder Therapeut demnächst PGD diagnostiziert, weil er das Ausmaß der Trauer seines Klienten nicht mehr für sozial, kulturell oder religiös angemessen hält, attestiert er impliziert auch ein Gehirnproblem des Betroffenen. Und wenn derselbe Klient in einem anderen Kontext ist, in dem vielleicht zwei oder sieben Jahre Trauer normal sind, dann hat er keine Hirnstörung?

Wir erinnern uns daran, dass man verhaltensauffälligen Kindern im 20. Jahrhundert viele Jahre lang schlicht einen "Minimal Gehirnschaden" (Minimal Brain Disorder, MBD), später dann eine "Minimale Gehirnstörung" diagnostizierte. Aufgrund anhaltender Kritik nannte man es in den 1980ern in ADHS um.

Dabei spielte Allen Frances in den 1990ern übrigens auch eine bedeutende Rolle. Zwanzig Jahre später würde er kritisieren, dass die Kriterien in der Praxis anders angewendet wurden, als er und die anderen Köpfe hinter dem DSM-IV sich das vorgestellt hätten.

Individualisierung

Die Beispiele PGD, MBD sowie unzählige andere veranschaulichen das Potenzial einer medizinischen Diagnose, Probleme im Individuum, insbesondere in einem biologischen Zusammenhang, zu dekontextualisieren und depolitisieren. Will sagen: Die Probleme verschwinden dann von der sozialen Bildfläche und werden auf einmal molekularbiologische beziehungsweise neurologische Probleme.

So können Psychologie und Psychiatrie politisch werden. Und es ist ein Zufall, dass die Individualisierung und Biologisierung von Problemen (und damit auch von Verantwortlichkeit) dem neoliberalen Modell in die Hände spielt? Und dass in unserer neoliberalen Zeit ausgerechnet diejenige psychologische und psychiatrische Forschung mit Milliarden bedacht wird, die diesen Ansatz vertritt?

Ich übertreibe? Warum prangen dann auf dem einseitigen Faltblatt der American Psychiatric Association zu PGD ganze drei Gehirnbildchen? Und warum ist dann davon die Rede, dass Antidepressiva bei PGD kaum helfen? (Zur Erinnerung: Tun sie bei Depressionen oft auch nicht.) Und warum gibt es nun Versuche, PGD stattdessen mit Naltrexon zu behandeln, einem Mittel zur Behandlung von Alkohol- oder Opioid-Abhängigkeit?

Es sei auch noch einmal daran erinnert, dass die Deutsche Stiftung Depressionshilfe und insbesondere ihr Sprecher Professor Ulrich Hegerl den Deutschen vorwirft, nicht biologisch genug über psychische Störungen zu denken. "Psychische Störungen sind Erkrankungen im medizinischen Sinn", heißt es dann so schön.

Hilfe, wem Hilfe gebührt

PGD ist meiner Meinung nach das neueste Beispiel dafür, dass Psychiater das medizinische Modell endlich aufgeben sollen. Doch wichtig: Damit wird weder die Realität psychischer Probleme noch deren leidvoller und einschränkender Charakter angezweifelt.

Im Gegenteil ist es ein Plädoyer dafür, die Probleme eines Menschen als genau das zu sehen: Das Problem eines bestimmten Individuums mit einem bestimmten Körper in einer bestimmten Lebenssituation und einem bestimmten sozialen Kontext, einschließlich seiner Historie.

Natürlich ist das aufwändiger als Therapie und Forschung nach bürokratischen Vorgaben – aber es wird der holistischen Ganzheit besser gerecht, die jeder von uns, jeder einzelne Mensch ist.

In diesem Sinne: Hilfe, wem Hilfe gebührt! Wenn Menschen die PGD-Diagnose, spezialisierte Psychotherapie oder medikamentöse Therapie hilft, dann ist das eine gute Sache. Dann rede ich aber von einer Hilfestellung im Sinne dieser Menschen – und nicht der behandelnden Expertinnen und Experten.

Dass dafür Checklisten eine große Hilfe sind, wage ich zu bezweifeln. Erfahrene Ärzte und Therapeuten verwenden sie darum aber oft nur zur Orientierung oder zur Erfüllung institutioneller Anforderungen, insbesondere der Krankenkassen. Das ist aber etwas Anderes, als eine Kategorie wie PGD für ein echtes Ding im Gehirn zu halten.

Wie schon so oft in der jüngeren Geschichte der Psychiatrie wird die Einführung einer neuen Diagnose von entsprechenden Medienberichten begleitet. So erschien erst kürzlich im Knowable Magazin der lange, mit medizinischen Fakten untermauerte Erfahrungsbericht einer Betroffenen.

Ihre PGD entstand nach dem Tod ihrer Mutter. Und sie verschwand auf mysteriöse Weise sieben Jahre später: mit der Geburt ihrer Tochter.

Das sind schon mysteriöse Gehirnstörungen, die durch die Ankunft eines eigenen Kindes spontan geheilt werden. Wie gut, dass Trauer endlich als psychische Störung anerkannt ist!

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.