Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns

Oder: Was sind eigentlich psychische Störungen?

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Es hört sich an wie eine Pressemitteilung unter vielen: "Psychischen Störungen mit neuem Magnetresonanztomographen auf den Grund gehen". Mit dieser Überschrift wies eine Mitarbeiterin für "Unternehmenskommunikation" der Uniklinik Hamburg-Eppendorf vor Kurzem darauf hin, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft auf Antrag von zwei Professoren rund vier Millionen Euro zur Verfügung stellt.

Mit dem Geld soll ein neuer Magnetresonanztomograph angeschafft und ein bestehendes Gerät aktualisiert werden. Herzlichen Glückwunsch also - und vier Millionen Euro zur Erforschung psychischer Störungen sind doch eine gute Sache, oder nicht?

In der Pressemitteilung des "Unternehmens" Uniklinik Hamburg-Eppendorf heißt es konkreter, beforscht sollten Ursachen von Schmerzen, Angst und die Plastizität des Gehirns werden. Wenn man bedenkt, dass laut Schätzungen des Dresdner Epidemiologen Hans-Ulrich Wittchen und seiner Kollegen jährlich 14% beziehungsweise 61,5 Millionen der Menschen in den EU-Ländern an einer Angststörung leiden, scheint die Förderung angemessen. Angststörungen sind dieser Forschung zufolge übrigens die häufigsten psychischen Störungen, gefolgt von Schlaflosigkeit und Depressionen (jeweils 7%).

Warum im Gehirn suchen?

Es soll hier nicht darum gehen, dass diese und ähnliche Schätzungen wahrscheinlich viel zu hohe Zahlen suggerieren, die wiederum eine wichtige Funktion in Forschungsanträgen erfüllen, nämlich deren gesellschaftliche und vor allem ökonomische Relevanz untermauern. Stattdessen soll es um die überraschende Frage gehen, warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überhaupt das Gehirn untersuchen, um Grundlagen psychischer Störungen zu entdecken.

"Ja, wo denn sonst?", würde jetzt vielleicht ein alter Bekannter vom Typ karrierestrebender junger Psychiater aus dem Bürgertum und von der Eliteschule fragen. "Ja, wo denn sonst!", würde es ein Ausrufungszeichen zutreffender beschreiben. Schließlich ginge es ihm um eine triviale Feststellung und keine Frage, auf die er allen Ernstes eine Antwort erwartete. Dass dies keineswegs so trivial ist, soll im Folgenden verdeutlicht werden.

Als Wissenschaftstheoretiker fallen mir nämlich eine Reihe anderer Möglichkeiten ein; als solcher kommt es mir vor, als folgten viele Forscherinnen und Forscher der Logik des Betrunkenen, der unter der Laterne seine verlorenen Schlüssel sucht, weil dort eben am meisten Licht ist. Den Schlüssel könnte man auch hochtrabend als "die Grundlagen zum Aufschließen der Haustüre" nennen.

Ein anderer Blickwinkel

Vielleicht fällt der Groschen oder findet sich der Schlüssel von selbst, wenn ich einen Absatz aus einer anderen Pressemitteilung zitiere, die in zeitlicher Nähe zur vorherigen erschienen ist. Die Überschrift lautete hier "Die psychische Gesundheit von Führungskräften auf dem Prüfstand", geschrieben von einer Pressereferentin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim:

Professor Zimber untersuchte in der nun vorgelegten Studie die Entstehungsbedingungen psychischer Beeinträchtigungen von Führungskräften. Dabei war der zentrale Analysegegenstand psychische Beeinträchtigungen wie beispielsweise Gereiztheit, Nicht-Abschalten-Können, Erschöpfung bis hin zu Angstsymptomen. Diese wurden weit überwiegend als Reaktionen auf die hohen beruflichen Anforderungen erklärt.

Pressemitteilung vom 5.8.2016

Umweltursachen

Natürlich haben auch Führungskräfte Körper, Nervensysteme und Gehirne; und natürlich werden sich in diesen auch Vorgänge messen lassen können, die mit den genannten "Beeinträchtigungen" einhergehen. Ebenso ließen sich (neuro-)physiologische Vorgänge des Dinierens von Führungskräften in Sternerestaurants messen. Die Ergebnisse wären in beiden Fällen wahrscheinlich ähnlich informativ.

Immerhin erwähnt die Mannheimer Mitteilung, dass die Ursachen der Beeinträchtigung überwiegend in der Umwelt liegen, nämlich in den hohen beruflichen Anforderungen. Schon mit dem Pionier auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie Emil Kraepelin (1856-1926) waren wir so weit, das Gehirn als eine Art Schnittstelle zwischen Umwelt auf der einen und Erleben und Verhalten der Menschen auf der anderen Seite zu sehen.

Das lässt sich systembiologisch so verstehen, dass weder die Grundlagen, noch die Ursachen psychischer Störungen allein oder vor allem im Gehirn dort zu suchen wären. Damit haben wir schon eine Antwort auf die Frage: "Wo denn sonst?"

Kämpferisch gegen Erkrankungen

Diese Erkenntnis möge man einer Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund mitteilen. Deren Pressereferintin schrieb nämlich erst vor Kurzem unter der Überschrift "Warum Stress krank macht - neue Forschungsgruppe am IfADo" Folgendes:

Die Aktenordner stapeln sich, das Telefon klingelt pausenlos und die Deadline für das Projekt rückt gefährlich nah: Stress auf der Arbeit oder privat kann krank machen. Welche Mechanismen im Körper dazu führen, wird ab sofort am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund (IfADo) untersucht. Die Nachwuchsgruppe 'Neuroimmunologie' um Biologin Silvia Capellino will klären, wie das Gehirn unsere Gesundheit beeinflusst. Mit diesem Wissen könnten Erkrankungen zukünftig gezielt bekämpft werden.

Pressemitteilung vom 15.9.2016

Auf der einen Seite haben wir also sich stapelnde Aktenordner, pausenlos klingelnde Telefone, gefährlich nah heranrückende "Todesstreifen" (wortwörtlich: Deadlines); auf der anderen neuroimmunologische Mechanismen im Körper, die es gezielt zu bekämpfen gilt (Schießbefehl?). Die vermittelnde Variable ist das biopsychosoziale Konstrukt "Stress". Zu diesem Sachverhalt möge die geneigte Leserin oder der geneigte Leser sich eigene Gedanken machen (und diese gerne im Telepolis-Forum diskutieren).

Eingebettet in die soziale Umwelt

Hier stattdessen eine vierte und letzte Pressemitteilung, diesmal von einer Referentin der Freien Universität Berlin (Nebenbemerkung für Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft: Diese Presseleute haben oft feste Stellen; 90% von euch aber nicht. Wessen Arbeit ist an den Unis eigentlich die Wichtigere?). Unter der Überschrift "Studie: Weniger Lebenszufriedenheit nach Jobverlust, emotionales Wohlbefinden erholt sich" hieß es:

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass mit dem Jobverlust die Lebenszufriedenheit nachhaltig abnimmt und Arbeitslose langfristig deutlich häufiger Traurigkeit und Freudlosigkeit empfinden. Der Verlust des Arbeitsplatzes geht jedoch nur kurzfristig mit einem häufigeren Erleben von Angst einher und steht in keinem bedeutenden Zusammenhang mit dem Empfinden von Ärger. Darüber hinaus zeigen die Daten: Die Veränderungen im emotionalen Wohlbefinden sind unabhängig von der Persönlichkeit der Betroffenen.

Pressemitteilung vom 17.8.2016

Kurzum, die Arbeitssituation eines Menschen wirkt sich auf seinen psychischen Zustand aus. Das ist nicht überraschend, scheint jedoch in so mancher Forscherstube in Vergessenheit geraten zu sein, etwa dort, wo, wie in Hamburg, die Grundlagen von Angst und Schmerz mit dem Gehirnscanner gesucht werden, vielleicht weil dorthin die Fördermillionen fließen, weil es also unter der Laterne am hellsten ist?

Ernste Folgen für die Betroffenen

Man könnte freilich schmunzeln, dass solche trivialen theoretischen wie menschlichen Einsichten aus der psychiatrischen Forschung verschwunden sind; man könnte es für naiv halten, dass sie vor allem Gehirne von Menschen und Nagetieren untersuchen, statt Menschen in ihrer Umwelt; man könnte sich schlicht darüber wundern, dass das Forschungsparadigma der biologischen Psychiatrie nicht als falsifiziert ad acta gelegt wurde, als nach jahrzehntelangen Bemühungen und Abermilliarden an Forschungsmitteln die führenden Psychiaterinnen und Psychiater der USA vor drei Jahren einräumen mussten, dass sich ihr Modell für keine einzige der drei- bis vierhundert zurzeit unterschiedenen Störungen bestätigen ließ.

All diese Reaktionen würden aber nicht der Tatsache gerecht, dass es einerseits (allein in den EU-Ländern) um das Leiden dutzender Millionen von Menschen geht und andererseits Forscherinnen und Forscher mit ihren alternativen Ideen und Ansätzen scheitern, weil diese der herrschenden Meinung und damit dem "State of the Art" widersprechen.

Von Psychologie zur politischen Ideologie

Dabei passt die Suche nach den Grundlagen oder Ursachen psychischer Störungen in den Genen, Gehirnen, Körpern und damit in jedem Falle im Körper des Individuums hervorragend zur vorherrschenden politischen Ideologie, nämlich dem Neoliberalismus. Dieser macht durch Privatisierungen und Kürzungen der Sozialsysteme die Einzelnen auch dort für ihr Schicksal verantwortlich, wo sie es gar nicht sind. Die Gesundheitspolitik ist dafür ein beliebtes Anwendungsfeld (Die Doppelzüngigkeit der Gesundheitspolitik).

Wie wir gesehen haben, können gemäß dieser Logik selbst bedrohliche Aktenordner und Deadlines nicht dort bekämpft werden, wo sie entstehen, nämlich in der Arbeitsumwelt, sondern als Korrelat im Nervensystem der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Von Menschen gemacht, also veränderbar

Wir dürfen aber nie vergessen, dass solche Bedingungen unseres psychischen Wohlbefindens oder Leidens auf sozialen Entscheidungen beruhen, die darum nicht naturgegeben sind, sondern immer revidiert werden können. Oder um es mit den treffenden Worten des Kritischen Psychologen Klaus Holzkamp (1927-1995) zu sagen:

Vergegenwärtigen wir uns …, dass die sozial-gesellschaftliche Realität … nicht naturhaft geworden, sondern im Laufe des Geschichtsprozesses von Menschen gemacht ist, wenn sie sich dessen auch nicht bewusst zu sein brauchen. Demgemäß kann die sozial-gesellschaftliche Realität auch von Menschen verändert werden, wobei die Richtung dieser Veränderung von ihren Interessen abhängt.

Aus: Das Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis, 1970, S. 32

Milliarden für Intervention im Individuum

Vielleicht ist es bloß Zufall, dass mit dem Aufstieg des Neoliberalismus erst in den USA und Großbritannien, später dann auch in Kontinentaleuropa die Wissenschaftszweige der Genetik und der Neurowissenschaften über Initiativen wie dem Humangenomprojekt, der "Dekade des Gehirns" und bis heute dem Humangehirnprojekt durch politische Akteure mit Abermilliarden an Forschungsgeldern ausgestattet wurden und werden. Immerhin können diese, gemäß dem vorherrschenden Paradigma, Grundlagen und Ursachen nur im Individuum entdecken.

Durchgesetzt wurden und werden diese Änderungen von politisch bestellten Gutachterinnen und Gutachtern sowie von betriebswirtschaftlich geschulten Funktionären zur Qualitätssicherung, die nach und nach dafür sorgen, dass alternative Lehrstühle, Initiativen und Ansätze vom Förderradar verschwinden. Alternativen verschwinden dann mit oft der Begründung, dass diese nicht dem Forschungsstand oder der erforderlichen wissenschaftlichen Qualität entsprechen.

Ein Dank an dieser Stelle an alle, die trotz dieser widrigen Umstände in Sozialarbeit, Psychotherapie und Psychiatrie an einem umfassenden Modell wie dem biopsychosozialen Ansatz oder der Systembiologie (für ein Beispiel, siehe etwa das Memorandum "Reflexive Neurowissenschaft") festhalten.

Dieser Artikel erscheint zeitgleich im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.