Engagiert und couragiert, feudal und bigott
Die Zerrissenheit der Grünen
"Ich habe immer ja zur Macht gesagt. Macht heißt: Einfluss haben. Es ist toll, dass wir das in einem demokratischen Staat haben." Mir gegenüber sitzt ein freundlich-gelassener Herr an der Ruhestandsgrenze. Dabei galt er einmal als gefährlicher Regimegegner. Der Grund dafür waren aber keine Kampfeinsätze bei Demonstrationen, keine Zusammenarbeit mit östlichen Geheimdiensten, keine anonymen Mescalero-Flugblätter mit klammheimlicher Freude über politische Morde.
Der Grund war die Aufdeckung der unerlaubten Nutzung von 600.000 Kubikmeter Wasser in der damals nur knapp 300 Einwohner zählenden Gemeinde Aretsried bei Augsburg.
Die lokalen Behörden wollten oder konnten diesen Wasserraub eines Industriellen nicht als solchen ansehen und verfolgen. Das Wasser wurde nämlich für die Produktion von unter anderem 726 Millionen Joghurtbechern benötigt. Dabei flossen auch ab und an Sahne, Molke und anderes in das Flüsschen Schmutter. Diese, so heißt es in einem Anglerguide [1], sei stets "hervorragend besetzt und gepflegt". Selbst kapitale Bachforellen können dort die Freuden der Angler mehren.
Hunderte tote Fische in der Schmutter nun waren Auslöser eines Umweltskandals, der bundesweit derartige Wellen schlug, dass 1991 sogar der Spiegel darüber berichtete [2].
Raimund Kamm, so heißt der 1952 geborene, in Augsburg lebende Unternehmensberater für Energiefragen, hat sich mit dem Milch-Mogul Theo Müller in seiner schwäbischen Heimat den wohl schlimmsten Feind gemacht.
Rachefeldzug am Wasserschützer
"Es ging an die Grenze. Müller wollte mich vernichten", erzählt Kamm, der seit dem 22. September 1986 zu den ersten grünen Abgeordneten im Freistaat zählte. Was war geschehen? In einem dpa-Bericht wurde Kamm mit der Aussage zitiert, im Kunststoff der Joghurtbecher sei mit Styrol ein Stoff enthalten, der "nachweislich krebserregend" sei.
Die dpa berichtigte zwar diese Äußerung, Müller aber sah in ihr die Chance für einen Rachefeldzug an dem unbequemen Wasserschützer. Mit einem Streitwert von drei Millionen Mark erreichte er vor dem Landgericht Augsburg unter dem Geschäftszeichen 2 0 3823/91 eine Unterlassungserklärung gegen Kamm. Müllers Ziel war keineswegs die Unterlassung, sondern die Vernichtung der Existenz von Kamm, der nun in weitere Instanzen gehen musste, um den vorgeblichen Schaden in Höhe von 3 Millionen Mark nicht persönlich als Schadensersatz begleichen, zumindest aber nicht die Kosten des Verfahrens tragen zu müssen. Erst der Bundesgerichtshof wies Müllers Klage ab.
"Vor meiner Haustür lag auf einmal eine tote Katze und dann steckte noch eine im Briefkasten", berichtet Kamm. Drohanrufe und Beschimpfungen setzten ihn unter Druck. "Unter der Gürtellinie" [3] betitelte die Zeit 1992 ihren Artikel über das Vorgehen des CSU-Mitglieds und einstigen bayerischen Vorzeigeunternehmers Theo Müller.
Raimund Kamm war auf einmal ein Symbol für die grüne Oppositionspolitik schlechthin, die Umweltzerstörung durch wirtschaftliche Interessen geißelte und auf dem gesetzlichen Wege den Marsch durch die Institutionen betrieb. Ein personifiziertes Gorleben.
Noch am 31. Juli 2013, also 21 Jahre nach dem Zwist, drohte [4] Theo Müller in der Schweizer Handelszeitung damit, seinen deutschen Pass abzugeben, wenn ein "grüner Finanzminister" namens Trittin käme.
Eine bessere Wahlwerbung für die Grünen als diese Aussage des Steuerflüchtlings Müller, der längst in der Schweiz sein Einkommen versteuert, und nun möglichst auch noch die Erbschaftssteuer vermeiden möchte, gibt es eigentlich nicht.
Jürgen Trittin hat in jüngster Zeit öfters angedeutet, dass er im Falle eines Wahlsieges gerne Finanzminister würde. Sein Kanzler in spe, Peer Steinbrück, hat ihm allerdings dieses Amt nicht angetragen. Trittin hat sich in die Materie mit viel Fleiß eingearbeitet. Er twittert auch schon Mal Artikel [5] über die Berechnungen alternativer Wirtschaftsforschungsinstitute, wonach nicht Deutschland, sondern Italien von 2009 bis 2012 Europas Sparmeister war. Trittin sieht etwas genauer hin, verlässt sich nicht nur auf dem dumpfen Strom der Mainstream-News.
Müller kürzlich über Trittin: "Wenn ein ehemaliger Kommunist - vielleicht ist er es heute noch - Finanzminister Deutschlands wird, dann kann es einem ja übel werden." Allerdings ist Müller nicht vor Trittin, sondern vor seinem Duzfreund Waigel sowie vor dessen Nachfolgern Steinbrück und Schäuble nach Luxemburg geflohen, wo seine Holding nun die Gewinne aus einem Umsatz von 4,7 Milliarden Euro vor den bundesdeutschen, also christliberalen Kommunisten schützt.
Ungerechtigkeit im Gewand der Gerechtigkeit
Müller, der an Mitarbeiter und Geschäftspartner 2011 das Werk des Wirtschaftsliberalen Ludwig van Mises verteilen ließ, hat sich in seiner Einschätzung von Jürgen Trittin derart vertan, dass an seinem politischen und wirtschaftlichen Sachverstand zu zweifeln ist.
Bei den Grünen hat in Finanzfragen nicht Jürgen Trittin, sondern der in der Öffentlichkeit weithin unbekannte Abgeordnete Dr. Gerhard Schick das Sagen, sprich, er ist bereits seit 2007 der finanzpolitische Sprecher der Grünen. Schick ist damit der Oppositionspolitiker, der - im Gegensatz zu Merkels Ex-Finanzminister Steinbrück - eine neue Post-Finanzkrisen-Politik berechnen, begründen, verabschieden, umsetzen könnte. Könnte - denn im Wahlkampf 2013 spielt die Finanzpolitik bei den Grünen keine Rolle. Unter "Themen" wird sie auf der Wahlkampfseite [6] gar nicht erwähnt, sondern erscheint - wie bei CDU, CSU und SPD - nur in Gestalt von "Gerechtigkeit".
Diese Sprachwahl ist klug, vermeidet sie doch jeden Anschein, finanzpolitische Diagnosen und Kontroversen zu erwähnen, die nach allgemeiner Ansicht "zu komplex" sind, um sie dem Wahlpublikum zuzumuten. Gerechtigkeit dagegen versteht jeder - allerdings auch jeder auf seine Weise.
Die Subtilität solcher Begriffsbildungen hat Dr. Schick sozusagen "von der Pike" auf dort gelernt, wo mit Begriffen nicht nur operiert, sondern regiert und beeinflusst wird: In der Stiftung Marktwirtschaft (2001-2004) und der Bertelsmann-Stiftung (2004-2005). Die Verkleidung von Zielen, Themen, Inhalten ist die große Kunst aller, die etwas beeinflussen möchten, vor allem aber aller, die möchten, dass möglichst nichts geändert, also auch nicht beeinflusst wird. Das große Ziel des Lobbyismus ist entgegen mancher Vermutungen meist nicht das neue Programm, die für die Auftraggeber günstige oder vorteilhafte Änderung, sondern die Unterlassung und der Stillstand.
Die hohe Kunst der rhetorischen Verkleidung ist in einer wundervoll trocken-zynischen kleinen Bibel [7] namens "Don't think of an elephant! Know your values and frame the debate" von George Lakoff niedergelegt.
Frames - das sind bei Lakoff nicht nur Slogans, sondern das ist das Umfeld, das Setting, einer Debatte. Wenn in den USA ein Politiker feststellt, etwas sei "gegen Amerika", so reicht dies bereits aus, einen Vorschlag zu verhindern oder einen Krieg mit Kosten von einer Billion Dollar zu eröffnen. Eine einmal "geframte" Debatte kommt aus ihrem Frame nicht mehr hinaus.
Eine "geframte" Debatte: Ausgerechnet die Finanzpolitik der Grünen als "kommunistisch" zu bezeichnen, zeugt zunächst von hinterwäldlerischer Weltfremdheit.
Am 27. April beschloss der Bundesparteitag der Grünen im Programm eine Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Einkommen von 80.000 Euro. Bereits ab 60.000 Euro soll ein Satz von 45 Prozent gelten. Dieser Beschluss hat viele Beobachter überrascht, die von der angelsächsischen Public-Choice-Theorie ausgingen, nach der die Parteien siegen, die am meisten Wahlgeschenke machen. Der FDP ist es so gelungen, stets im Wahlkampf für Steuersenkungen einzutreten, die sie aber in keiner Regierung je umsetzen konnte. Mit einer Ausnahme: Die Senkung der Umsatzsteuer für Hoteliers war eine der wenigen von der CDU/FDP-Koalition tatsächlich umgesetzten Reformen.
Einkommen ist für grüne Wähler von untergeordneter Bedeutung
Dennoch gilt die FDP - völlig zu Unrecht - auch 2013 als Steuersenkungspartei. Rot-Grün dagegen hat tatsächlich 1998 die Steuern für Unternehmen und die Spitzensteuer gesenkt, gilt aber als kommunistisches Diebesduo. Frame the debate.
In den Wahlumfragen hat den Grünen die Ankündigung nicht geschadet. Das kann den Grund haben, dass alle Grün-Wähler Grün als Juniorpartner in einer Koalition sehen, also nicht befürchten müssen, dass der Vorschlag umgesetzt wird.
Merkel etwa konnte seit Jahren mit dem Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer punkten, die immer von anderen Staaten abgelehnt wurde. Merkel bemerkte immer listig, sie könne ja auch für etwas sein, das andere noch ablehnten, deren Zustimmung aber für das Gelingen notwendig sei. Es kann aber auch einen anderen, subtileren Grund für die Akzeptanz der Erhöhung des Steuersatzes geben: Viele grüne Wählerinnen und Wähler gehören einer Gesellschaftsschicht an, in der das Einkommen eine untergeordnete Bedeutung gegenüber Bildung und Eigentum hat.
Im Gespräch mit Dr. Hauke Janssen, Leiter der Dokumentation von Spiegel, Autor des von Trittin getwitterten Artikels und Mitgesellschafter der Spiegel AG kommen wir auf diesen Punkt. "In unserer Kindertagesstätte", erzählt Janssen, "war eine Mutter Halbtagsbeschäftigte, die in einer geerbten Villa lebte. Trotzdem musste sie für ihre beiden Kinder nur den niedrigsten Beitrag bezahlen."
Die Höhe des Einkommens ist nur dann wichtig, wenn man ganz und ausschließlich von diesem Einkommen leben muss. Viele aus der grünen Klientel sind Erben und können es sich leisten, ihren Lieblingsberufen auch mit niedrigerem Einkommen nachzugehen. Oder sie sind Doppelverdiener in akademischen Berufen, in denen bereits die Teilzeitbeschäftigung ein gutes Auskommen sichert.
Die höchste nachweisbare Wählerschaft innerhalb einer identifizierbaren Gesellschaftsschicht finden die Grünen übrigens unter den höheren Beamten. Nach einer Studie der Universität Leipzig von 2012 verfügten 45 Prozent der Wähler der Grünen über ein Einkommen von über 2.500 Euro netto. Nur die FDP-Wähler lagen mit 55% noch darüber. In den 80er Jahren war der Wähleranteil der Grünen bei Einkommen unter damals 1000 Mark im Monat mit 20 Prozent am höchsten. Jungakademiker, die später Karriere machten?
Das "grüne" Bundesland Baden-Württemberg wies 2012 nach Auskunft der Bausparkassen [8] eine Wohneigentumsquote von 52,8 Prozent auf. Das bedeutet, dass 52,8 Prozent aller Einwohner in einer selbstgenutzten, eigenen Immobilie leben. Da diese Quote mit der Haushaltsgröße steigt, spiegelt sie nur bedingt die Eigentums- und Einkommensverhältnisse von Akademikern wieder. Diese studieren und arbeiten oft in Großstädten, weit ab vom Häusle der Eltern. Nicht wenige wohnen in einer Eigentumswohnung, die der Familie gehört. Oder in einer Mietwohnung, die die Familie bezahlt. Nur wenigen Jungen wurde die elterliche Immobilie bereits übertragen. Deshalb könnte die Quote auch 70 Prozent betragen.
In den deutschen Metropolen wie Berlin, Hamburg, Köln, Stuttgart und München wird das Nettoeinkommen längst nicht mehr von den Steuern und Sozialabgaben bestimmt, sondern von der einfachen Tatsache, ob man von dem Einkommen auch noch Miete bezahlen muss - oder eben nicht.
Eine Million Euro Freibetrag kann kein Gutverdiener ansparen
120.000 Euro Bruttoeinkommen mögen viel erscheinen - in München oder Hamburg reichen sie gerade, um eine vierköpfige Familie in einer guten 4-5-Zimmer-Wohnung unterzubringen, den Höchstbeitrag im Kindergarten und den ÖPNV zu bezahlen. Noch immer können viele Frauen aufgrund der hohen Kosten für Kinderbetreuung und Anfahrt zum Arbeitsplatz aus wirtschaftlichen Gründen keine normal bezahlte Stelle annehmen. Sie bleiben zuhause. Als Mutter und Gattin.
Dass der Haushaltsernährer nun auch noch höhere Steuern zahlen muss, trifft ihn zumindest dann, wenn er weder Beamter, noch Erbe ist, aber sein Einkommen in voller Höhe benötigt. Ist das gerecht? Mit dem Frame "Gerechtigkeit" treiben die Grünen ein perfides Spiel. So treten sie etwa für eine Vermögenssteuer ein. Freibetrag: eine Million Euro. Der Freibetrag der Vermögenssteuer in Europas reichster Stadt, der Kaufmannsstadt Basel, beträgt ganze 50.000 Franken. Das sind 40.000 Euro. Ein Fünfundzwanzigstel dessen, was die Grünen für besteuerungswert halten.
Frieder P. ist nach seinem Einser-Studium bei einem deutschen Großkonzern untergekommen. Sein Anfangsgehalt beträgt 40.000 Euro. "Eigentlich würde ich ja die Grünen wählen, aber damit wäre ich ja suizidal veranlagt. Im Grunde heißt das doch: Ich werde nie in meinem Berufsleben Vermögen aufbauen können, nicht einmal mit 120.000 im Jahr."
Um ein von den Grünen zu schonendes Nettovermögen von einer Million aufzubauen, müsste man zwanzig Jahre jedes Jahr 50.000 Euro sparen können. Da man bei 120.000 Euro Jahreseinkommen nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben aber nur 60.000 netto verdient, blieben einem dann gerade noch 10.000 Euro für das Leben in einer deutschen Großstadt und den Aufbau einer Familie übrig.
Frieder P. hat erkannt, dass unter dem Deckmantel "Gerechtigkeit" in Wirklichkeit die Vermögensunterschiede dauerhaft zementiert werden. Die Regel dabei ist einfach: Je höher der Steuer- und Abgabensatz, desto geringer die Chance, noch ein Vermögen aufzubauen. Frieder P. bleibt garantiert Mieter. Sein Leben lang.
Ähnlich funktionieren in Deutschland die Baugenehmigungen: Obwohl hunderttausende Hektar unproduktiven landwirtschaftlichen Grundes allerorten zu bezahlbarem Wohnraum führen würden, sichern die Landkreise und Gemeinden durch fest zementierte Flächennutzungspläne und staatliche Agrarsubvention, dass nicht gebaut werden darf. Der Effekt sind kontinuierlich steigende Preise.
Die Grünen vertreten die key values der Eigenheimbesitzer
Die Grünen vereinen nun zwei Kerninteressen von Eigenheimbesitzern in bester Lage, nämlich dauerhaft steigende Preise und zugleich den Erhalt der Umwelt- und damit Lebensqualität. Eigentlich sind steigende Preise nur durch Wachstum, also durch Bevölkerungszuwachs möglich. Dieses wiederum verstärkt die Zersiedlung und Vermassung. Eine restriktive Baupolitik aber sorgt auch ohne Verdichtung und Ansiedlung ärmerer Bürger für Preissteigerung, indem sie den Wohnwert der Bestandsimmobilien erhöht.
Für das erste Interesse sorgen die Gemeinderäte und die Flächennutzungspläne. Für das Zweite der Naturschutz. In beiden Bereichen sind die Grünen meinungsbildend.
In diese Kerninteressen passt ausgerechnet das erfolgreichste, den Grünen zuzurechnende Projekt, nämlich die Förderung der Sonnenenergie. Dass seit der Verabschiedung des Stromeinspeisungsgesetzes Mieter bis zum Wohngeldbezieher über eine Strafsteuer die Vergütung von wohlhabenden Eigenheimbesitzern und Landwirten für deren Solarinvestition zahlen, ist wohl weltweit einer der verrücktesten Wege, regenerative Energien zu fördern. Er könnte geradezu in amerikanischen Think-Tanks oder im Kabinett von Tony Blair entstanden sein: Motto: "Let the poor pay for the political correctness of the rich."
Bei der Lektüre der 2560 Seiten des Bundeshaushaltes kann man durch den Vergleich der Posten 683 14-631 mit 683 21-166 herauslesen, wie sich die grüne Regierungsbeteiligung seit 1998 ausgewirkt hat. Das Ergebnis: In der gesamte Regierungszeit wurde von Rot-Grün nicht regenerative Energie, sondern in erster Linie Steinkohle gefördert.
Im Haushaltsplan des Bundeswirtschaftsministeriums des Jahres 2000 [9] waren für die Steinkohleförderung unvorstellbare 8,189 Milliarden Mark vorgesehen. Der Etat für die Erforschung von regenerativen Energien dagegen wurde im gleichen Jahr von 350 Millionen Mark 1999 auf 285 Millionen Mark zusammengestrichen.
Natürlich gibt es für solche Zahlen viele Erklärungen. Koalitionsdisziplin. Strukturwandel NRW. Dauerhafte Verpflichtungen. Dennoch ist das Ungleichgewicht zwischen den beiden Posten frappierend für die erste "grüne" Regierung der Welt.
Wie das "grüne" Waging Erdgasvorzeigegemeinde wurde
Im Sommer 1995 besuchten zwei junge Ingenieure eines Nachbardorfes einen ebenso jungen Landwirt im Weiler Nirnharting, der zur Gemeinde Waging zählt. Sepp Daxenberger (1962-2010) kandidierte für die Grünen als Bürgermeister des wohlhabenden Kurortes Waging. Die beiden Ingenieure legten dem "Daxei", wie er in der Gegend kollegial genannt wurde, einen faszinierenden Plan vor. Darin zeigten sie, dass die Gemeinde Waging sich durch ein Fernwärmesystem ganz durch heimische Holzabfälle versorgen könne. Daxei war sofort begeistert und fand im Gemeinderat eine Mehrheit dafür, die beiden Ingenieure mit einer Machbarkeitsstudie zu beauftragen.
Deren Ergebnis: Da sich mitten im Ortszentrum von Waging auch noch die Käserei Bergader befand, die einen hohen Prozesswärmebedarf besitzt, könnten nicht nur Rathaus, Hotels und Schule, sondern auch die Wohngebiete problemlos auf heimische Biomasse umgestellt werden. 1996 wurde Daxenberger zum ersten grünen Bürgermeister Deutschlands gewählt. Als die Ingenieure nach seiner Wahl bei ihm vorbeischauten, beschied er sie, die Entscheidung sei doch sehr komplex.
Zu diesem Zeitpunkt wurden in Südostbayern große Erdgasleitungen gelegt. Eine davon führte direkt an Waging vorbei. Am 9. Januar 1992 wurde vom Wirtschaftsministerium die "Verordnung über Konzessionsabgaben für Strom und Gas" [10] erlassen. In Gemeinden unter 25.000 Einwohnern - also allen Gemeinden Südostbayerns außer Burghausen - können durch diese Verordnung je verbrauchten Kubikmeter Erdgas 0,51 Cent von der Gemeinde berechnet werden.
Wie der Haushaltsplan der Gemeinde Waging [11] zeigt , konnte diese 2005 bereits 223.000 Euro aus der Konzessionsabgabe lukrieren, während die Zuweisungen des Freistaates Bayern nur 182.000 Euro betrugen. Da nicht nur in Waging der Großteil der Gemeindeausgaben Personalausgaben, Gebäudekosten und Kreisumlagen sind, ermöglicht die Konzessionsabgabe eine Haushaltsflexibilität ohne unangenehme und kontroverse Umverteilungen und Sparmaßnahmen. Die Erdgaspenunze ist sozusagen lokales Spielgeld, mit dem man Vereine und Brauchtum, Sport und Kultur großzügig sponsern kann.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Bürgermeister Daxenberger anstelle des kommunalen Holzheizwerkes als ersten Amtsakt das Erdgas einführte. Erdgas war und ist ein Angebot, das man als Wahlbeamter nicht ablehnen möchte und sollte. Indes gewannen die Ingenieure die nahegelegene Gemeinde Burgkirchen an der Alz für ein heute noch laufendes 4-Megawatt-Holzheizwerk. Dort regierte die CSU.
Ein sinnloses Gas-BHKW bringt die doppelte Konzessionsabgabe
Allerdings ging Daxenbergers Erdgas-Engagement weit über seinen kommunalen Pragmatismus hinaus. So fuhr er ab 2008 demonstrativ ein Erdgasauto und stand noch 2010, kurz vor seinem Tod auf der Rednerliste eines Erdgas-Lobbykongresses [12]. Sein Thema, für das ihn die Manager der Greenfield-Group, der Erdgaslobby und E.ON offenbar für besonders kompetent hielten: "Die zukünftige Rolle der Biomassenutzung". Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bayerischen Landtag.
In Waging ging 2009 in einem Altersheim sogar ein Blockheizkraftwerk zur Stromerzeugung durch Erdgas [13] ans Netz, nach Ansicht von Fachleuten eine der unwirtschaftlichsten und unökologischsten Nutzungen von Erdgas, wenn es keine Prozesswärmeabnehmer für Dampf und Kühlung oder zumindest eine hohe Grundlast gibt.
Allerdings zeigt die Lektüre der Verordnung über die Konzessionsabgabe, dass diese auch auf jedes Kilowatt Strom erhoben wird. Die Gemeinde steigert also durch das absurde Werk, dessen Kosten auf die Verbraucher umgelegt werden, wiederum ihr begehrtes Gas-Taschengeld gleich doppelt: Einmal für jeden Kubikmeter sinnlos verfeuerten Gases, dann noch einmal für jedes Kilowatt Strom, das mit geringem Wirkungsgrad aus diesem Gas gewonnen wird.
Kann man den Erdgasproduzenten des Nabucco-Konsortiums vorwerfen, dass sie gerade in Joschka Fischer den idealen Imageträger für ihr Anliegen, Deutschland mit Erdgas vollzupumpen, fanden? Erst im Juni 2013 zog [14] das Konsortium in Sachen Erdgasversorgung den Kürzeren.
Waging ist dank seinem Bürgermeister Daxenberger heute eine Vorzeigegemeinde für die Auswüchse und Abhängigkeiten des Erdgas-Lobbyismus.
Wie mir der grüne Abgeordnete Kamm berichtet, fuhr Horst Seehofer am Tage des Begräbnisses von Sepp Daxenberger hinter ihm - und hielt sich strikt an die Geschwindigkeit. Nicht nur Waging, alle bayerischen Kommunen und die Landespolitiker hängen am Sponsortropf der Erdgaslobby.
Stammesbruder Seehofer vergötterte Daxenberger
Kamm war übrigens Mitglied des Bundesverbandes für Kraft-Wärme-Kopplung. Als ich ihm die Daxenberger-Geschichte erkläre, bemerkt er: "Das ist die klassische oberbayerische Dialektik. Daxenberger war nicht frei von Stammesdenken."
Horst Seehofer über Daxenberger: "Sepp Daxenberger war eine Persönlichkeit, wie sie typischer für unser Land nicht sein könnte. Selbstbewusst, kantig, willensstark und dabei erfüllt von einer tiefen Liebe zu seiner oberbayerischen Heimat."
Diese ethnologische Erklärung ist auf jeden Fall schmeichelhafter, als die grüne Energiepolitik als rein rhetorische Werbemasche zu entlarven.
Dass Kamm 1997 sein Mandat niederlegte, lag aber nicht an der Bigotterie der grünen Politik. Kamm: "Ich war ein Superrealo. Ich wollte den Regierungswechsel. Ich wollte Weichenstellung programmatisch und personell."
Ruth Paulig, die damalige Parteivorsitzende, war für Kamm eine "Hausfrauenpolitikerin", von der man nicht erwarten konnte, dass sie Regierungsverantwortung übernehme. "Es gab keinen Ehrgeiz, wirklich Regierungspartei zu sein", sagt Kamm. "Das ist noch heute so."
In der CSU dagegen, so Kamm, herrsche eine harte Auslese, die oft hochqualifizierte Abgeordnete hervorbringe. Bei den Grünen gäbe es diesen Wettbewerb nicht. Bei Landtagsmandaten spielten die politischen Ziele und die persönliche Qualifikation eine zu geringe Rolle..
In einem Land, in dem die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Politik als korruptes Geklüngel von Honoratioren betrachtet, ist diese Charakterisierung der Grünen - Kamm sagt allerdings, dass es bei der SPD nicht anders sei - ein vernichtendes Urteil. Kamm über seine ehemaligen Kollegen: "Da waren viele Volksvertreter in einem sehr wörtlichen Sinn, also viele Leute, die nur klein denken wollten."
Avancierte Verschwörungstheoretiker könnten daraus ableiten, dass nicht nur Erdgaslobbyisten, sondern auch andere Interessengruppen einen hohen Stimmenanteil der Grünen für durchaus fördernswert halten könnten. Deren unreflektierte Partikularinteressen, die erklären, warum Hartz-IV-Empfänger Solarzellen auf Studienratsdächern, warum 60-Stunden arbeitende Alleinverdiener die Kindergartenbeiträge von halbtags tätigen Erbinnen bezahlen, macht die Grünen politisch kalkulierbar.
Schonung der eigenen Wähler als Erfolgsgarantie
Mit der Bezifferung des Freibetrages für eine Vermögenssteuer von einer Million Euro sind die Grünen tief in das bürgerliche Lager, in die Wählerschichten von CSU, CDU und FDP eingedrungen, die davon überzeugt sind, dass ihr Vermögen "ja schon einmal" versteuert wurde - und daher unantastbar ist. Wer ein Nettovermögen von einer Million besitzt, für den sind 3 Prozent mehr oder weniger Einkommenssteuer keine existentielle Frage. Es klingt aber gut und gerecht.
"Die Reichen" - das sollen dann noch immer die Henkels, Quandts, Porsches und Dietmar Hopp als einziger Aufsteiger sein. Dabei ist es gerade für die leicht, ihr Nettovermögen, also ihr Vermögen abzüglich der Verbindlichkeiten, nahezu beliebig zu definieren. In der Vorlage der Grünen zum Freibetrag sollen übrigens Betriebsvermögen ausgenommen werden. Natürlich nur "mittelständische".
Wieder die Parallele: Energieintensive Betriebe wurden von der Stromumlage ausgenommen. Hauptsache, die kleinen, nicht energieintensiven Zwangszahler können gepfändet werden.
Der Erfolg der Grünen, der sich auch in der Wahl im September fortsetzen wird, kann auch deshalb erzielt werden, weil die eigenen Wähler immer geschont werden. Die grünen Forderungen richten sich an stets anonym bleibende andere, die unterm Strich die Zeche bezahlen. "Mehr Krippenplätze" heißt zum Beispiel auch "mehr Gebühren". Da in den Kita-Gebühren aber nur die Einkommen berücksichtigt werden, nicht die Familienverhältnisse und die Vermögen, werden automatisch jene begünstigt, die offiziell gar keine oder nur niedrige Einkommen beziehen. In dieser Gruppe bewegen sich aber auch echte Arme und Niedrigverdiener. Die ungerechtfertigt Begünstigten schleichen sich sozusagen unter sie - auf Kosten der hart arbeitenden Mittelverdiener. In Düsseldorf wurde vor kurzem einem Ehepaar in einer öffentlichen KiTa eine Beitragsrechnung von 845 Euro präsentiert - im Monat.
Die Vermischung von Armen und Reichen ist eine perfide Strategie, die wir aus den Tarifverhandlungen für Beamte kennen: Obwohl kaum noch Beamte im "einfachen" und immer weniger im "mittleren" Dienst arbeiten, werden diese immer als Beispiel für die stagnierenden Gehälter herangezogen.
Der Claim "Gerechtigkeit" der Grünen, den sie in der Finanz-, der Bildungs- und Sozialpolitik in der Fahne führen, verdeckt, dass bei näherem Hinsehen nur bestimmte Gruppen Vorteile haben. Dass die Gruppe der gutverdienenden Akademiker und ihrer Erben in einem Land, das seit 60 Jahren Frieden und Wohlstand aufbaut und erhält, nicht kleiner, sondern größer wird, ist kein Rätsel. Auch die Armen werden wieder mehr. Und die Superreichen. Aber die Interessen der entspannten gehobenen Mittelschicht mit den Mitteln für politisch korrektes Shopping sind nicht immer als "gerecht" zu bezeichnen.
Die FDP würde ohne die Leihstimmen von CDU und CSU-Wählern an der geschickten Klassenpolitik der Grünen zu Grunde gehen. Die grünen Erben möchten Begriffe wie "Leistung", "Freiheit" und "Steuersenkung" nicht hören. Sie vereinbaren sich nicht mit ihrer Selbstdefinition als Leser von Zeitschriften wie Brandeins und Enorm, in der die Angehörigen der besitzenden Klasse als Vorbilder in ökologischer Askese, als Innovatoren und Social Entrepreneurs vorgestellt werden.
Diplom-Ökonom Kamm ist noch vom alten Schlag der grünen Revolutionäre. Er hat einen Umweltskandal aufgedeckt und ist dabei ein hohes persönliches Risiko eingegangen. Er kämpfte sozusagen an der Umweltfront. Das tut er noch heute im Kampf gegen die atomaren Zwischenlager. Er ist mit der Bahn angereist und fährt auch mit der Bahn wieder ab. In drei Jahren wartet auf ihn eine Pension von rund 3000 Euro monatlich für die elf Jahre im bayerischen Landtag. 270 Euro pro Jahr. Üblich sind 270 Euro je zehn Jahre. Aber Neid ist in diesem Fall unangebracht: Als Entschädigung für das, was Theo Müller ihm angetan hat, ist eine würdige Altersversorgung durchaus vertretbar.
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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.angeln.de/Gew%C3%A4sser/Fl%C3%BCsse/Fluss-Schmutter-198
[2] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488250.html
[3] http://www.zeit.de/1992/46/unter-der-guertellinie
[4] http://www.topagrar.com/news/Home-top-News-Theo-Mueller-droht-mit-Schweizer-Pass-1213017.html
[5] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/muenchhausen-check-baut-die-schwarz-gelbe-koalition-schulden-ab-a-903440.html
[6] http://www.gruene.de/themen.html
[7] http://books.google.de/books?id=zbJ1oxHC9a0C&printsec=frontcover&dq=frame+the+debate&hl=de&sa=X&ei=ScYQUsykJ4e3hAfch4CICQ&ved=0CDgQ6AEwAQ#v=onepage&q=frame%20the%20debate&f=false
[8] http://www.bausparkassen.de/fileadmin/user_upload/newsletter/NL_12_II.pdf
[9] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/014/1401400.pdf
[10] http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/kav/gesamt.pdf
[11] http://www.waging-am-see.de/fileadmin/gemeinde/Haushalt.pdf
[12] http://www.biogaspartner.de/fileadmin/biogas/documents/Veranstaltungen/2010/GreenfieldSymposium2010.pdf
[13] http://www.gemeindewerke-waging.de/gemeindewerke-waging/waerme/waermeversorgung/blockheizkraftwerk.html
[14] http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-06/tap-gas-aserbaidschan
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