Enthemmte Russophobie führt uns auf einen gefährlichen Weg
Die Dämonisierung der russischen Kultur und Bevölkerung nimmt bizarre Züge an – von den USA bis Europa. Es trifft selbst Regierungskritiker. Warum das Putins Propaganda nützt und einen Ukraine-Frieden verhindert.
In der westlichen Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine zeichnet sich eine zutiefst unheilvolle und gefährliche Tendenz ab. Es handelt sich darum, dass der Hass auf das Putin-Regime und seine Verbrechen gegen das russische Volk, die russische nationale Tradition und die russische Kultur immer größere Ausmaße annimmt.
Diese Tendenz ist natürlich aus der Geschichte feindlicher Propaganda bestens bekannt, aber gerade deshalb sollten wir gelernt haben, sie zu meiden.
Das Verbot russischer Kulturveranstaltungen und die Forderung nach einer "Entkolonialisierung" der russischen Literatur und der russischen Forschung erinnern an die Propaganda von allen Seiten während des Ersten Weltkriegs, die so viel dazu beigetragen hat, den Krieg zu eskalieren und seine friedliche Beilegung so gut wie unmöglich zu machen.
Jüngster Ausdruck davon ist der erfolgreiche Druck auf die US-amerikanische Autorin Elizabeth Gilbert, die Veröffentlichung ihres neuesten Buches zu verhindern, nicht weil es in irgendeiner Weise pro-Putin oder pro-Krieg ist, sondern nur weil es in Russland spielt.
In einem anderen Fall sah sich Mascha Gessen, die in den USA lebende Russin, politische Emigrantin, scharfe Putin-Kritikerin und entschiedene Gegnerin der russischen Invasion, gezwungen, aus dem Vorstand des Pen America, einer Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der freien Meinungsäußerung, auszutreten, nachdem der Pen dort zwei russische Schriftsteller – selbst Emigranten, die den Krieg angeprangert haben – ausgeschlossen hatte.
Der Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des britischen Parlaments, Tom Tugendhat, hat die Ausweisung aller russischen Staatsbürger aus Großbritannien gefordert, unabhängig von ihrem legalen Aufenthaltsort. Der tschechische Präsident hat zustimmend auf die Internierung der japanischen Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs verwiesen.
Dämonisierung dieser Art ist an sich moralisch falsch. Sie ist intellektuell verquer, bei näherer Betrachtung. Sie ist unvereinbar mit dem liberalen Internationalismus. Sie verrät die pluralistische Demokratie in der Ukraine. Sie ist katastrophal für einen zukünftigen Frieden in Europa. Sie schürt die Paranoia und den gewalttätigen selbstgerechten Extremismus, der der US-Politik über die Jahre so viel Schaden zugefügt hat.
Und indem sie dazu beiträgt, Schritte in Richtung einer vernünftigen Beilegung des Konflikts zu blockieren, vergrößert sie die Gefahren für die Vereinigten Staaten, Europa, die Welt und die Ukraine selbst, die in einer Fortsetzung des Krieges liegen.
Das vielleicht Verrückteste an alldem ist, dass die Menschen, die solche Gefühle gegenüber Russland äußern, zwar behaupten, gegen das Putin-Regime zu sein, ihre Handlungen und Schriften aber in Wirklichkeit eine perfekte Propaganda für Putin darstellen, die er selbst in dieser Form nicht herstellen könnte.
Ein besonders ungeheuerliches Beispiel für diese Art von Chauvinismus wurde letzte Woche von Peter Pomerantsev verfasst, dessen russischsprachige Familie aus der Sowjetukraine auswanderte, als er ein Baby war, und der jetzt in Großbritannien lebt. Der Artikel sollte beachtet werden, sowohl wegen der allgemeinen Tendenz, die er repräsentiert, als auch wegen des Ortes, an dem er erschien – in der britischen liberalen Zeitung The Guardian.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der Guardian diese Art von hasserfülltem Angriff auf ein ganzes Volk niemals veröffentlicht hätte, wenn er sich gegen ein anderes Volk als das russische gerichtet hätte. Wenn er anderswo erschienen wäre, hätte der Guardian ihn (zu Recht) als Rassismus angeprangert.
Pomerantsev orientiert sich an der Zerstörung des Kachowka-Staudamms, die er automatisch Russland in die Schuhe schiebt – obwohl es, wie Kelley Vlahos auf Responsible Statecraft dargelegt hat, völlig unbewiesen ist, wer den Damm in die Luft gesprengt hat. Die Zerstörung des Damms kann zudem sowohl der ukrainischen als auch der russischen Seite zugutekommen. Der Autor fügt eine ganze Litanei übertriebener oder frei erfundener russischer Gräueltaten hinzu und nutzt diese, um zu erklären:
Unter dem Deckmantel der russischen militärischen "Taktik" verbirgt sich die stupide Zerstörungswut um ihrer selbst willen. ... In Russlands Kriegen scheint die Sinnlosigkeit selbst der Sinn zu sein. ... Zum russischen Völkermord kommt noch der Ökozid.
Er verweist auf die ukrainische Literaturkritikerin Tetyana Ogarkova:
In ihrer Neufassung von Fjodor Dostojewskis russischem Romanklassiker "Verbrechen und Strafe", einem Roman über einen Mörder, der einfach tötet, weil er es kann, nennt Ogarkova Russland eine Kultur, in der es "Verbrechen ohne Strafe und Strafe ohne Verbrechen" gibt. Die Mächtigen morden ungestraft, die Opfer werden ohne Grund bestraft.
Wir sind Patrioten, unsere Gegner sind bösartige Nationalisten
Glaubt die "Literaturkritikerin" Ogarkowa wirklich, dass Dostojewski Raskolnikovs Verbrechen guthieß und nicht darstellte, wie er dafür gerecht bestraft wurde? Oder verlässt sie sich darauf, dass ihr westliches Publikum bereit ist, russische Autoren zu hassen, ohne sie gelesen zu haben?
Pomerantsev schließt mit einer fast unglaublichen Passage daran an:
Ogarkova und Jermolenko weisen auf den Unterschied zwischen Hitler und Stalin hin: Während die Nazis einige Regeln hatten, wen sie bestraften (Nicht-Arier, Kommunisten), konnte in Stalins Terror jeder in jedem Moment zum Opfer werden. Willkürliche Gewalt zieht sich durch die russische Geschichte.
Das ist die gleiche alte widerliche Heuchelei. Sie sind Nationalisten, wir sind Patrioten. Ihre Bombardierung von Zivilisten spiegelt einen blinden Zerstörungsdrang wider, der in ihrem nationalen Charakter verwurzelt ist, unsere ist entweder rein zufällig oder ein unglücklicher Teil eines gerechten Kampfes.
Ihre Folterung von mutmaßlichen Feinden ist auf ihre angeborene kollektive Grausamkeit zurückzuführen. Die unsrige spiegelt "nicht das, was wir sind".
Es ist ein klassisches Beispiel für das, was Psychologen den "fundamentalen Zuordnungsfehler" nennen – die Tendenz, unsere eigenen Übertretungen als das Produkt schwieriger Umstände zu rationalisieren, während wir die Sünden anderer als das Ergebnis ihrer bösartigen Natur erklären.
Indem sie die russischen Gräueltaten in der Ukraine auf ewig währende, quasi rassische Aspekte des russischen Nationalcharakters zurückführen, versuchen solche Autoren, Russland als einzigartig verrückt und böse darzustellen, während die von Russland im Ukraine-Krieg begangenen Verbrechen in Wirklichkeit auch von mehreren westlichen Staaten in modernen Kriegen begangen wurden, darunter die Vereinigten Staaten.
Einige waren in der Tat völlig grundlos. Andere sind, wie General Sherman uns erinnerte, dem Krieg selbst inhärent. Pomerantsev und seinesgleichen müssen keine professionellen Historiker sein, um das zu wissen. Sie könnten sich einfach den Film "Die Schlacht von Algier" oder gute Filme über den Vietnamkrieg ansehen.
Diejenigen, die solche Grausamkeiten auf die Besonderheiten der traditionellen amerikanischen und europäischen Kultur zurückführten und forderten, dass die gesamte Kultur dieser Nationen deswegen auf den Müll gehört, folgte die Mehrheitsmeinung in diesen Ländern zu Recht nicht und wies den konstruierten Zusammenhang zurück.
Würde irgendjemand mit einem Funken Anstand oder gesundem Menschenverstand vorschlagen, dass wir Herman Melville und Nathaniel Hawthorne nicht lesen sollten, weil das US-Militär Zivilisten in Vietnam bombardiert und illegal in den Irak einmarschiert ist?
Nebenbei bemerkt: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges produzierte Hollywood-Filme wie "Krieg und Frieden" und "Dr. Schiwago", und das sowjetische Kino brachte hervorragende Versionen von "Hamlet" und "König Lear" hervor.
Eruptionen wie die von Pomerantsev im Guardian können auf eine blinde, wenn auch verständliche Wut über die russische Invasion und die dadurch verursachte Zerstörung zurückgeführt werden. Sie haben jedoch auch sehr praktische und katastrophale Folgen.
Sie entmutigen nicht nur die Suche nach einem Kompromissfrieden heute, sondern, indem sie Russland als dauerhaft böse darstellen, suggerieren auch, dass jede zukünftige friedliche Koexistenz mit einem russischen Staat moralisch falsch ist und daher dauerhaft unmöglich sein sollte.
In seinem großen Werk "Der Verrat der Intellektuellen" (La Trahison des Clercs), das Julien Benda nach dem Ersten Weltkrieg verfasste, prangerte er die Bereitschaft zu vieler liberaler Intellektueller an, sich – sei es aus Emotion oder Opportunismus – dem politischen und vor allem dem nationalen Hass hinzugeben.
Er warnte immer wieder, präzise prognostizierend, dass die Förderung des Hasses in den kommenden Jahren zu noch größeren Katastrophen führen könnte. Er sagte voraus, dass das 20. Jahrhundert "zu Recht als das Jahrhundert der intellektuellen Organisation des politischen Hasses bezeichnet werden wird".
Wir sollten aufpassen, dass unsere Nachkommen, falls es welche gibt, das nicht von diesem Jahrhundert behaupten.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).