Erfolgreicher gewaltloser Widerstand: Die 3,5-Prozent-Regel

Hochgereckte Fäuste und nackte Arme

Bild: PeopleImages.com - Yuri A / shutterstock.com

Langjährige Forschung über unterschiedliche Formen des Widerstands: Gewaltlosigkeit als Mittel des Widerstands ist deutlich vielversprechender als häufig angenommen. (Teil1).

Den Staaten oder einem beliebigen von ihnen oder einer beliebigen Stadt der Staaten: "Widersetzt euch viel gehorcht wenig!" Einmal unbesehens gehorcht, heißt einmal völlig versklavt, Einmal völlig versklavt aber, wird weder eine Nation, noch Ein Staat, noch eine Stadt der Erde nachher jemals ihre Freiheit weidergewinnen.

Walt Whitman. Grashalme, 1855. Übersetzt von Johannes Schlaf

Schon Aristoteles hatte erkannt: "Und doch sind die Oligarchie und die Tyrannis von geringerer Lebensdauer als alle anderen Staatsverfassungen (…) Die meisten Tyrannenherrschaften (…) währten allesamt nur kurze Zeit."

Allerdings mag aus leicht nachvollziehbaren Gründen, das Wissen der begrenzten Dauer kaum helfen, wenn Menschen konkret unter Unterdrückung zu leiden haben. Daher stellt sich die Frage, wie am besten auf Unterdrückung und andere Formen des Unrechts und der Ungerechtigkeit reagiert werden sollte.

Am Anfang war die Skepsis

Als die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth im Jahr 2006 an einem Workshop des International Center on Nonviolent Conflict (ICNC) teilnahm, um Theorien und Strategien des gewaltlosen Widerstands zu diskutieren, war sie skeptisch.

Die vorherrschende Meinung unter Politikwissenschaftlern war, dass Oppositionsbewegungen Terrorismus und gewaltsame Aufstandsstrategien nutzen, weil diese Mittel effektiver sind als gewaltfreie Strategien, um die politischen Ziele zu erreichen.

Sicherlich gab es viele beeindruckende Fälle erfolgreicher gewaltsamer Widerstände, aber gab es nicht ebenso viele schockierende Niederlagen dieser Widerstandsform? Ungarn, Prag, der Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Und war es nicht wahrscheinlich, dass sich die Erfolge der Gewaltlosigkeit durch andere Faktoren erklären ließen?

Als Chenoweth wiederholt ihre Einwände formulierte, forderte sie ein Teilnehmer auf, sie könne ja als Forscherin der Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Erfolgs gewaltlosen Widerstands wissenschaftlich auf den Grund gehen. Chenoweth nahm die Herausforderung an.

Überraschende Entdeckung

Chenoweth untersuchte anschließend 323 zu diesem Zeitpunkt in der Forschung bekannte Widerstände seit dem Jahr 1900:

Nach zwei Jahren der Datenerhebung und der Überprüfung gemeinsam mit Fachleuten habe ich die Zahlen geprüft. Ich war schockiert. Mehr als die Hälfte der Kampagnen, die sich in erster Linie auf gewaltlosen Widerstand gestützt hatten, waren erfolgreich, während es bei den gewalttätigen Aktionen nur etwa ein Viertel war.

Das Ergebnis ihrer Forschung veröffentlichte sie in ihrem ersten Buch "Why Civil Resistance Works".

In den folgenden Jahren spezialisierte sich Chenoweth auf ihr neues Forschungsgebiet. 2021 veröffentlichte sie dann "Civil Resistance", das jetzt Daten zu 627 Fällen von Widerständen berücksichtigte.

Die beeindruckende Erfolgsquote des gewaltlosen Widerstands änderte sich nicht:

Ich definiere "Erfolg" als den Sturz einer Regierung oder die territoriale Unabhängigkeit, die aufgrund der Kampagne innerhalb eines Jahres nach ihrem Höhepunkt entscheidend erreicht wurde. Wendet man diese Standarddefinition von Erfolg auf beide Arten von Revolutionen an, so waren über 50 Prozent der gewaltlosen Revolutionen von 1900 bis 2019 vollständig erfolgreich, während dies nur bei etwa 26 Prozent der gewaltsamen Revolutionen der Fall war.

Sogar wenn das herrschende Regime aktive und gewalttätige Unterdrückung betrieb, sind die Erfolgsaussichten immer noch erstaunlich: In diesem Fall waren bei Widerständen im überprüften Zeitraum die gewaltlosen Formen in 45 Prozent der Fälle von Erfolg gekrönt, während bei Rebellionen, die auf Gewalt setzten, nur ein gutes Viertel einen Erfolg vorzuweisen hatte.

Liste des Erfolgs

Formen des gewaltlosen Widerstands sind schon so lange und deutlich vor Mahatma Gandhi bekannt. Der erste aufgezeichnete Streik in der Geschichte der Menschheit fand beispielsweise um 1170 v. Chr. statt, als ägyptische Arbeiter, die die Grabkammern für König Ramses III. bauten, sich weigerten zu arbeiten, bis sie stabile Essensrationen erhielten.

In den 1980er-Jahren und zu Beginn der 1990er konnten eine ganze Reihe von Diktaturen gestürzt werden: Estland, Lettland und Litauen, in Polen, der DDR, der Tschechoslowakei und Slowenien, in Madagaskar, Mali, Bolivien und auf den Philippinen.

In Nepal, Sambia, Südkorea, Chile, Argentinien, Haiti, Brasilien, Uruguay, Malawi, Thailand, Bulgarien, Ungarn, Zaire, Nigeria und verschiedenen Teilen der früheren Sowjetunion hat zudem der gewaltlose Widerstand die Demokratisierung entscheidend vorangetrieben.

In den letzten zehn Jahren vor Erscheinen ihres zweiten Buches gab es weitere Fälle: der Arabische Frühling, aber auch in Ländern wie Armenien, Bulgarien und Thailand war der gewaltlose Widerstand erfolgreich.

Im Anhang ihres aktuellen Buches "Civil Resistance" listet Chenoweth alle 627 untersuchten Widerstände von 1900 bis 2019 mit ihren Details auf.

Grundsätzliches Gegenargument

"Die Behauptung, dass gewaltloser Widerstand niemals gegen völkermordende Gegner wie Adolf Hitler und Joseph Stalin funktionieren könnte, ist das klassische Strohmann-Argument, mit dem die inhärenten Grenzen dieser Form des Kampfes aufgezeigt werden sollen.

Es ist zwar möglich, dass gewaltloser Widerstand nicht wirksam eingesetzt werden kann, wenn der Völkermord in vollem Umfang ausgebrochen ist (oder dass er unter solchen Umständen dem bewaffneten Kampf inhärent unterlegen ist), aber diese Behauptung wird durch keine stichhaltigen empirischen Beweise gestützt",

bemerkt Chenoweth.

Beeindruckende Gegenbeispiele

Es gibt eine Reihe von vermutlich weniger bekannten Beispielen gewaltlosen Widerstands, die dessen Potential auch unter schlimmsten Umständen demonstrieren.

1. Norwegen 1942

Als in Norwegen im Februar 1942 die vom Dritten Reich eingesetzte Regierung unter Vidkun Quisling plante, den Lehrplan an den Schulen so zu ändern, dass er die nationalsozialistische Ideologie sowie Propaganda vermittelte, und den Lehrern befahl, einer nationalsozialistischen Lehrervereinigung beizutreten, weigerten sich bis zu zehntausend der norwegischen Lehrer.

Ganze 83 Prozent.

Sie traten gemeinsam in den Streik oder führten den Unterricht im Untergrund weiter. Da die Schulen geschlossen waren, blieben aber auch Zehntausende von Kindern zu Hause. Die Folge war, dass sich die Eltern mit der Lehrerbewegung verbündeten.

Hunderttausende von Eltern schrieben Briefe, in denen sie eine sofortige Kursänderung der Politik von Quisling forderten.

Als Reaktion setzte die Regierung Gewalt ein. Die Gestapo verhaftete eintausend Lehrer. Nachrichten über ihre unmenschliche Behandlung wurden veröffentlicht, um Angst zu schüren, aber die Lehrer gaben nicht klein bei. Vielmehr sammelten nun die Gemeindemitglieder Geld, um die Familien der streikenden und inhaftierten Lehrer zu unterstützen.

Die eingesetzte Regierung verschärfte die Gangart noch einmal und schickte im April 1942 fast fünfhundert Lehrer in ein Konzentrationslager nahe der Arktis. Die Reaktion: Norwegische Bauern versammelten sich entlang der Zuggleise, um zu singen und den Gefangenen auf der Fahrt nach Norden Essen zu reichen.

Die Lehrer kapitulierten immer noch nicht. Im November 1942 kam Quisling schließlich zu dem Schluss, dass er nicht weiter auf Gewalt und Unterdrückung setzen konnte, ohne die Zustimmung der Bevölkerung nicht vollständig zu verlieren und an der Macht zu bleiben.

Die Regierung gab ihr Vorhaben auf, den Lehrplan zu nazifizieren.

2. Dänemark 1943

Als sich in Dänemark die Nachricht verbreitete, dass die Nazis die Juden des Landes verhaften wollte, um sie in die Vernichtungslager zu deportieren, reagierten Tausende von Dänen. Sie versteckten ihre jüdischen Nachbarn, schmuggelten sie an die Küste und brachten sie mit der Fähre über das Meer ins Asyl nach Schweden.

Salle Fischermann berichtete später über den Widerstand der Dänen:

Spontan ergriffen viele, viele Dänen die Initiative – alle halfen mit, wo sie nur konnten, Verstecke oder Fluchtwege zu organisieren: in Krankenwagen, ja sogar in Müllwagen, alles, was fahren konnte. Auch Krankenhäuser und Kirchen waren wichtige Verstecke. Die Dänen haben sogar Geld gesammelt, um die Fischer für die gefährliche Fluchtüberfahrt zu bezahlen. Sie hatten ja während dieser Zeit keine Einnahmen. Selbst die dann Deportierten vergaßen sie nicht und sammelten Geld für Hilfspakete, die sie in die Lager schickten. Ich möchte behaupten, dass wir nur dadurch überlebt haben.

Von den 7.800 damals in Dänemark lebenden Juden konnten so 7.220 gerettet werden sowie 686 nichtjüdische Ehepartner.

Der Militärhistoriker Basel Liddell Hart schreibt:

Die Nazis waren Experten in Sachen Gewalt und darauf trainiert, mit Gegnern umzugehen, die sich dieser Methode bedienten. Aber andere Formen des Widerstands verblüfften sie – und zwar umso mehr, je subtiler und versteckter die Methoden waren.

3. Drittes Reich 1943 Der berühmte Fall erfolgreichen gewaltsamen Widerstands im Dritten Reich dürfte die größte spontane Protestaktion gewesen sein: der sogenannte Rosenstraßenproteste.

Nachdem am 27. Februar 1943 die SS und die Gestapo die noch verbliebenen Berliner Juden verhaftet und in Sammellage gebracht hatte, sammelten sich noch am Abend selbst eine Gruppe von deutschen Frauen und weitere Familienangehörige vor dem Gestapo-Büro in der Rosenstraße, um lautstark die Rückkehr ihrer jüdischen Ehemänner zu fordern.

In den nächsten Tagen wuchs die Protestgruppe auf mehrere Hundert Menschen an. Die Frauen, deren Zahl mit dem Fortgang der Proteste zunahm und die mehr Aufmerksamkeit auf sich zogen, störten mit ihren anhaltenden gewaltfreien Protesten so sehr, dass ihnen nachgegeben wurde.

In den beiden folgenden Wochen wurden die in der Rosenstraße gefangenen Juden aus "Mischehen" sowie "Geltungsjuden" freigelassen. Vermutlich kamen so fast alle der 2.000 dort festgehaltenen Juden schlussendlich wieder frei.

Um das Potential des gewaltlosen Widerstands auch gegen solche Herrschaften wie das Dritte Reich zu demonstrieren, führt Chenoweth zwei Zitate von Hitler selbst an, in denen er zugesteht, dass Gewalt allein keineswegs die Herrschaft sichern kann.

Im Sommer 1943 erklärte er Alfred Rosenberg: "Die Herrschaft über die Menschen in den eroberten Gebieten ist, so möchte ich sagen, natürlich ein psychologisches Problem. Man kann nicht nur mit Gewalt regieren." (Aus dem Englischen zurück übersetzt. A. W.)

An einer anderen Stelle schreibt Hitler: "Auf Dauer werden Regierungssysteme nicht durch den Druck von Gewalt zusammengehalten, sondern durch den Glauben an die Qualität und die Wahrhaftigkeit, mit der sie die Interessen des Volkes vertreten und fördern." (Aus dem Englischen zurück übersetzt. A. W.)

Eine Faustregel

Seit den 1940er-Jahren, als gewaltloser Widerstand nur von geringem Erfolg gekrönt war, nahm seine Erfolgsquote bis 2010 stetig zu.

Einen zentralen Grund für den Erfolg friedlicher Bewegungen hat Chenoweth darin ausgemacht, dass naturgemäß Menschen eher bereit sind, sich an einem gewaltlosen Widerstand zu beteiligen, als wenn Ausbrüche wahrscheinlich von Gewalt begleitet werden oder diese gar Teil der Taktik sind.

Daher führen gewaltlose Widerstände zu einer deutlich höheren Beteiligung der unterdrückten Menschen.

Für den Erfolg eines gewaltlosen Widerstands hat Chenoweth aufgrund ihrer wissenschaftlichen Analyse eine einfache Faustregel gefunden:

Jede Bewegung, die 10 Prozent aktive Beteiligung der Bevölkerung hinter sich wusste, war erfolgreich. Fast alle waren erfolgreich, wenn es 3,5 Prozent waren.

Im zweiten Teil der Artikelserie werden die Gründe für die hohe Erfolgswahrscheinlichkeit der Gewaltlosigkeit sowie die Probleme und Gefahren eines Widerstands beschrieben, der auf Gewalt setzt oder diese zumindest zulässt.

Literatur

Chenoweth, Erica: Why Civil Resistance Works
Chenoweth, Erica: Civil Resistance
Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie

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