80 Jahre 20. Juli: Vom Stachel im Fleisch zum selbstgerechten Narrativ der Konservativen
- 80 Jahre 20. Juli: Vom Stachel im Fleisch zum selbstgerechten Narrativ der Konservativen
- Ein Verräter kann jeder sein
- Auf einer Seite lesen
Verräter wie wir: Wie viel Widerstand, welches Heldentum und wie viel Gewalt sind möglich in der deutschen Republik? Ein Essay.
Ganz nüchtern betrachtet war das natürlich Hochverrat.
Berthold von Stauffenberg, Sohn von Claus von Stauffenberg
Es ist ein Teil unserer deutschen Geschichte. Wer die Deutschen kennt, mag bezweifeln, daß (!) die Diskussion hierüber je zur Ruhe kommt.
Fabian von Schlabrendorff, Widerständler, 1964
Im Vergleich zu fast allen anderen Ereignissen und Teilaspekten des Dritten Reichs und selbst zum Widerstand der Weißen Rose ist der "20. Juli" medial und wissenschaftlich unterrepräsentiert. Nur wenige echte Experten gibt es. Nur wenige Buchveröffentlichungen zum 20. Juli – jedenfalls im Vergleich zu anderen Themen.
Und wenn, dann konzentriert sich alles aufs Biografische und auf ein zwei lichte Heldengestalten, insbesondere auf Claus von Stauffenberg, den eigentlichen Attentäter. Vollkommen unberührt bleibt hingegen das Geflecht zwischen den Widerständlern, den Widerstandsgruppen, das Geflecht zwischen Militär und Zivilgesellschaft und insbesondere zwischen offenen Widerständlern und Unentschlossenen.
Immer noch unaufgeklärt ist die Rolle des für viele Amtsträger des Dritten Reiches typische Denken in Machtblöcken und Kompetenzräumen und das Gerangel zwischen den Apparaten. Die Wehrmacht kämpfte um ihre ohnehin zusammengeschmolzene Autonomie gegenüber Partei, der SS und der Polizei.
Es sei allerdings gerade das Besondere am 20. Juli, "dass Menschen über große soziale und weltanschauliche Gräben hinweg kooperierten. Leider hat sich die Rezeption des 20. Juli auf den konservativ-militärischen Teil verengt", sagt die Historikerin Ruth Hoffmann.
Vom Ausland bezahlte Landesverräter
Anstatt solche Fragen "sine ira et studio" mit wissenschaftlich exakter Feinarbeit aufzuklären, überwogen von Anfang an die Mythen.
Zuerst der schwarze Mythos von den Vaterlandsverrätern und Verschwörern die – so Generalmajor Otto Ernst Remer, der als Kommandeur des Wachbataillons "Großdeutschland" an der Niederschlagung des Putschversuchs beteiligt war, und in der jungen Bundesrepublik seine Version der Geschichte in Vorträgen zum Besten gab – vom Ausland bezahlte Landesverräter gewesen seien. "Sie allein trügen die Schuld am verlorenen Krieg."
Immerhin musste sich Remer 1952 vor Gericht verantworten und wurde zu drei Monaten Haft verurteilt. Der Prozess war ein Wendepunkt in der Erinnerungsgeschichte.
Später dann der Mythos der Helden. Glücklicherweise handelte es sich um bürgerliche oder adelige Offiziere, nicht um Kommunisten – das passte dem Deutschland der Restauration ganz gut.
Ohne Mythologie geht es nicht. Ob man es aber so sagen kann, dass das Stauffenberg Attentat als Ganzes ein Mythos ist?
Ein weithin sichtbares Zeichen für die Existenz eines anderen Deutschland
Heute vor 55 Jahren, am 19. Juli 1969, erschien in der Süddeutschen Zeitung wie in anderen deutschen Zeitungen eine Anzeige der "Aktionsgemeinschaft 20. Juli 1944".
Unterschrieben war sie alphabetisch geordnet gleich zu Beginn von Hermann Josef Abs, dem wichtigsten Manager und Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank in Frankfurt, und von Professor Theodor W. Adorno, dem wichtigsten Philosophen der Bundesrepublik, ebenfalls Frankfurt.
Es folgen weitere illustre Namen, unter ihnen der SPD-Außenminister Willy Brandt, CDU Innenminister Ernst Benda, Staatssekretär Klaus von Dohnanyi, die Politiker Carlo Schmid, Hans-Jochen Vogel, Heinz Kühn, Herbert Wehner, Richard von Weizsäcker, die Schriftsteller Heinrich Böll, Günter Grass und Carl Zuckmayer, die führenden Historiker Werner Conze und Karl-Dietrich Erdmann, die Bildungsreformer Hildegard Hamm-Brücher, Georg Picht und Ludwig von Friedeburg, die Kirchenmänner Julius Kardinal Döpfner und Helmut Gollwitzer – ein breites gesellschaftliches Bündnis.
Im von ihnen lancierten Text heißt es:
Am 20. Juli gedenken wir des Tages, an dem vor 25 Jahren Graf Stauffenberg und seine Freunde zum letzten Mal den verzweifelten Versuch unternahmen, als Deutsche die Herrschaft Hitlers in Deutschland zu brechen. Ihre Tat war nicht vergeblich, sie setzte ein weithin sichtbares und heute noch erkennbares Zeichen für die Existenz eines anderen Deutschland als jenes, dem Hitler seinen Namen gab, sie legitimiert unser geistiges und politisches Dasein heute.
Die deutsche Opposition jener verschiedenen politischen Gruppen, die unter Stauffenberg zusammenfanden, und die "Weiße Rose" sind Teile eines umfassenderen Widerstandes gegen ein verbrecherisches Regime im eigenen Lande.
Zu dessen Gegner gehörte ein jeder, der seinem Gewissen gehorchend und oft sehr vereinzelt im Inland oder in der Emigration die nationalsozialistische Ideologie bekämpfte, sich weigerte, das Recht zu beugen und den Verfolgten des unmenschlichen Systems Hilfe bot.
Die meisten von ihnen ließen ihr Leben, viele blieben unbekannt. Ihnen gilt unser Gedenken am Jahrestag des 20. Juli 1944. Aber auch der Millionen Menschen aller Nationen, die dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallen sind, gedenken wir in Ehrfurcht.
Doch dieses Gedenken muß (!) mehr sein als eine Erinnerung an ein historisches Datum. Es muß (!), heute und immer, erfüllt sein vom Willen, jenen Irrwegen vorzubeugen, die einst eine unselige Zeit möglich machten.
Elementare Menschlichkeit, Überzeugungstreue und rechtsstaatliches Denken sind die Tragpfeiler dieser Gesinnung. Unser Glaube an ihre Verwirklichung ist der Glaube an unsere demokratische Staats-Ordnung und an ein nach innen und außen befriedetes Europa.
Erklärung der Aktionsgemeinschaft 20. Juli 1944
Besser könnte man es heute auch nicht formulieren. Dieses Zitat macht zugleich den doppelten politisch-weltanschaulichen Abstand deutlich: Den, der die Menschen von heute von jenen des Jahres 1969 mit der Aufbruchstimmung nach 1968 trennt, der, der uns alle von den Attentätern des 20. Juli trennt.
Der "entscheidende Wurf" vor der Geschichte
Anfang Juli 1944 fragte Claus von Stauffenberg seinen Mitstreiter Henning von Tresckow an der Ostfront, ob es jetzt überhaupt noch sinnvoll sei, das Risiko eines Attentats auf sich zu nehmen.
Mehrere Anschläge auf Hitler waren bereits gescheitert, und mit der Invasion der Westalliierten in der Normandie und dem Durchbruch der Roten Armee bei Minsk war die Heeresgruppe Mitte zerschlagen, die Niederlage nur noch eine Frage der Zeit. Tresckows Antwort: Das Attentat müsse erfolgen, koste es, was es wolle.
Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat.
Henning von Tresckow
Mit diesem berühmten Zitat beginnt die Journalistin und Historikerin Ruth Hoffmann ihr Buch "Das deutsche Alibi. Mythos 'Stauffenberg – Attentat' – wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird".
Es enthält seine Thesen bereits im Titel, lohnt aber die Lektüre unbedingt durch zahlreiche Details und einen durchweg exzellenten und spannenden Schreibstil. Hoffmann erzählt die Nachgeschichte und politische Mediengeschichte des Attentats und erklärt, wie dieses zum zentralen Gedenkmoment der Bundesrepublik Deutschland wurde. Ein Attentat, ein Verrat, eine Widerstandshandlung wurde zum politischen Symbol und nationalen Gründungsakt.
Hoffmanns Buch ist damit nicht ein weiteres Werk zum 20. Juli, es ist einmalig und bringt Neues zur Sprache; die Autorin leistet Pionierarbeit.
Es entzaubert den Mythos, indem sie zeigt, wie er immer wieder instrumentalisiert wurde.
Die Opfer am Pranger
Der Historiker Hans Mommsen hat vom "Widerstand ohne Volk" gesprochen. Denn die Mehrheit der Deutschen stand bis in den Untergang zu Hitler. Nach dem missglückten Anschlag gab es im ganzen Land freiwillige Solidaritätsbekundungen für den "Führer", den vermeintlich "die Vorsehung" geschützt habe.
Es hat lange gedauert, bis sich solche Einstellungen verändert hatten. Noch in den frühen Nachkriegsjahren verurteilten die Deutschen die Attentäter als Verräter. Im Sommer 1951 bei einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie verurteilten 30 Prozent der Westdeutschen das Attentat auf Hitler. Ebenso viele hatten keine Meinung dazu oder wussten nichts darüber. Lediglich 40 Prozent äußerten sich positiv.
Bis in die 1950er-Jahre hinein, schreibt Hoffmann, "standen mit wenigen Ausnahmen also nicht die Verfolger und Henker am Pranger, sondern ihre Opfer. Während für die einen Pensionen gezahlt, Rechtsbeistand geleistet und Ehrenerklärungen abgegeben wurden, waren die anderen weiterhin Verleumdungen ausgesetzt – und die Regierung ließ es geschehen".
Nicht einmal Bundespräsident Theodor Heuss wagte sich aus der Deckung, obwohl – oder gerade weil – er selbst Kontakt zum Widerstand gehabt hatte. Der Witwe seines hingerichteten Freundes Julius Leber riet er eindringlich von juristischen Schritten ab: Für "Geschichtsurteile" sei die Justiz nicht zuständig.
Verachtet, verehrt, vereinnahmt
Zuerst wurden sie verachtet, dann geschmäht. Dann kritiklos verehrt, heute werden sie schnöde vereinnahmt. Sensationsstoff allerdings waren die Widerständler des 20. Juli von Anfang an immer: Bereits wenige Jahre nach Kriegsende kam es parallel zu den in Westdeutschland höchst erfolgreichen Hollywood-Kriegsfilmen und parallel zur Debatte um die "Wiederbewaffnung" zu einer wahren Welle von Kriegs- und "Offiziersfilmen", die "unpolitischen" Soldatenmut verklärten.
Bemerkenswert oft stammen sie von Filmemachern und Drehbuchautoren, deren Karriere zuvor durch große Nähe zum Nationalsozialismus geprägt ist: Alfred Weidenmann, Herbert Reinecker, Wolfgang Lieben einer, Ernst von Salomon, Hans G. Konsalik.
In dieser Situation kam es auch zur ersten filmischen Behandlung des militärischen Widerstandes. 1955 lieferten sich die beiden Filmproduzenten Artur Brauner und Franz Seitz ein Wettrennen um die Verfilmung des Attentats vom 20. Juli 1944.
Am Ende standen zwei Verfilmungen, die im Abstand von nur 48 Stunden ins Kino kamen: Falk Harnacks "Der 20. Juli" und G. W. Pabsts "Es geschah am 20. Juli". Die beiden Filmstarts waren von öffentlichen Debatten und juristischen Auseinandersetzungen und heftigem Konkurrenzkampf begleitet.
Defizite des 20. Juli: Keine Gabe blitzschneller Improvisation
Aber wenden wir uns einmal der eigentlichen ethischen Frage zu, um die wir bisher etwas geniert einen Bogen gemacht haben: Wann ist der politische Mordanschlag – und um einen solchen handelt es sich – legitim?
Muss man, statt sorgfältig zwischen Verrat und Widerstand zu unterscheiden, nicht besser wieder zu denken wagen, dass Gewalt ein Teil der Politik und Verrat ein Teil des Menschlichen ist?
Auch solche Fragen sind nicht neu – sie wurden bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von der Historikerin und Journalistin Margret Boveri in ihrem epochemachenden Buch "Der Verrat im 20. Jahrhundert" gestellt.
Alt-Bundespräsident Gustav Heinemann schrieb 1976 zur Sonderausgabe bei Rowohlt ein Geleitwort, die Einführung stammt von dem Pädagogen Helmuth Becker.
Boveri schreibt über den 20. Juli, "Stauffenberg und sein Kreis" seien die Attentäter, um die "wie mir scheint die deutschen Chronisten des Widerstandes etwas geniert einen Bogen machen; die Anhänger Goerdelers, weil er ja Goerdelers Haupt-Gegenspieler geworden war, die anderen, weil sie in ihm einen echten Revolutionär wittern, und die marxistischen Sozialisten und Kommunisten, weil er ein hoher Adliger und Generalstabsoffizier, ja im Jahr 1933 sogar ein lauter Anhänger Hitlers war".
Boveri liebt den Verrat in all seinen Facetten, ohne ihn auf das Frivole zu reduzieren und ihm die ethische Tiefe anzusprechen.
Über die Defizite und Fehler der "Helden" des 20. Juli macht sie sich aber im Gegensatz zu allen späteren Hagiographien des Widerstandes keine Illusionen:
Was im engeren und weiteren Umkreise war immer noch fehlte, war der Gangstertyp, der vielleicht ein Gelingen des technischen Teils des Putsches ermöglicht hätte. Davon abgesehen ist es ja schon verwunderlich, dass in der ganzen Serie der Attentatsversuche kein Offizier oder Zivilist unter den Verschwörern sich fand, der selber Chemiker, Physiker und Bastler genug war, um genau den erforderlichen Sprengstoff und Zeitzünder herzustellen, zumal wenn man heute sieht, primitive Marokkaner oder Zyprioten sich zu Bombenspezialisten ausbilden. ...
Stattdessen waren die deutschen Offiziere auf abgeworfene englische Sprengkörper und Zeitzünder angewiesen, zu deren Verwendung ganz bestimmte Vorbedingungen erforderlich waren. Gewiss fehlt dem Deutschen im Gegensatz etwa zum Serben oder Italiener jede Begabung für das politische Attentat. Was aber darüber hinaus am 20. Juli so sehr mangelte, war die Gabe blitzschneller Improvisation, die Bereitschaft, quer durch das ursprünglich Geplante neue Entschlüsse zu fassen.
Margret Boveri
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.