80 Jahre 20. Juli: Vom Stachel im Fleisch zum selbstgerechten Narrativ der Konservativen

Seite 2: Ein Verräter kann jeder sein

Sträflicherweise kommt auch Boveri in Hoffmanns Buch gar nicht vor – obwohl sie und ihr in drei Teilen schon in den 1950er-Jahren auch als Taschenbuch erschienener Bestseller für die Rezeption des Attentats und die Veränderungen des Verrats-Topos entscheidend war.

Ein Verräter kann jeder sein. Der Verrat ist der Sprung in den Abgrund. Es ist der existenzielle Seitenwechsel, eine Stellungsverlagerung, hinter die es kein Zurück mehr gibt.

Der Verrat, ob als Liebesverrat, ob als Whistleblowing, ob als banale Korruption, ob als intellektuelles Spiel oder als ideologischer Seitenwechsel ist das Urmenschliche. Der Verräter weiß darum und versucht nicht darum herumzureden, dass jede Gesellschaft und jeder Mensch Geheimnisse hat, dass es keine Diplomatie ohne Geheimnisse gibt, keine Politik und keinen Krieg.

Erst im Geheimnis wird der Mensch zum Menschen und deswegen im Verrat. Denn das Geheimnis ist der Schutz für das Verwundbare, das Intime, das noch nicht zu Ende gedachte, das Vermutete, das Menschliche und der Verräter ist einerseits der, der dieses Geheimnis an den Tag bringt und auf der anderen Seite einer der selbst fortwährend im Geheimnis lebt.

Der Verräter befreit uns alle von der Illusion der Gewissheiten und klärt uns darüber auf, dass jede Sicherheit in jedem Augenblick zusammenbrechen kann.

Trump: eine Gefahr für die Demokratie in den USA

Es war bemerkenswert, was geschehen ist, als in der vergangenen Woche die Schüsse auf Donald Trump fielen. Unisono waren sich die demokratischen Gesellschaften einig, dass man dieses Attentat zu verurteilen habe und dass Gewalt kein Mittel der Politik sei. Warum eigentlich?

Denn zugleich ist sich die gleiche Gesellschaft sofort einig, dass Donald Trump eine Gefahr für die Demokratie in den USA ist, eine Gefahr für den Westen und für die Nato, und dass er auf keinen Fall Präsident werden darf. Dieser Widerspruch ist unaufgelöst.

Genau, weil den Deutschen dieses Unaufgelöste Angst macht, versuchen sie es wirklich gar nicht zur Sprache zu bringen.

Als es jetzt doch einer tat, der provokante Autor und Podcaster Sebastian Hotz ("El Hotzo") – "Leider knapp verpasst.", "Ich finde es absolut fantastisch, wenn Faschisten sterben", "Absolut niemand zwingt einen, Mitleid mit Faschisten zu haben, man kann es ohne die geringste Konsequenz einfach lassen" – wurde ihm die RBB-Zusammenarbeit gekündigt und strafrechtliche Konsequenzen angedroht.

Das ist nach Ansicht des Verfassers dieses Beitrags intellektuell und politisch unangemessen. Zumindest wenn Trump wirklich als "der neue Hitler" gilt, so der Vergleich, der öfter angestellt wird, und eine "Gefahr für die Demokratie", könnten wir das Trump Attentat mit dem 20. Juli zusammendenken.

Ist Hotz ein Verräter an den demokratischen Werten, oder verrät die deutsche Öffentlichkeit diese demokratischen Werte, wenn sie Hotz nicht in seiner Meinungsfreiheit verteidigt (siehe auch: Was darf Satire?) und seiner Billigung des Anschlags Verständnis entgegenbringt, anstatt ihn öffentlich zu sanktionieren?

Zumal Hotz damit in der deutschen Gesellschaft kaum allein stehen dürfte.

Ein Mythos, dem die Botschaft abhanden gekommen ist

Hoffmanns Buch hat seine Oberflächlichkeiten, Mängel und Leerstellen, aber es hat keine Fehler und ist alles in allem eine wunderbare Fundgrube und sehr lesenswerte Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik. Die Autorin fasst an einer Stelle zusammen:

Die Mehrheit der Deutschen war nicht bereit, den Widerstandskämpfern und -kämpferinnen Respekt zu zollen. Es hätte bedeutet, sich mit dem eigenen Wegsehen zu befassen, und anzuerkennen, dass es Menschen gegeben hatte, die hingeschaut hatten und nicht bereit gewesen waren, das Unrecht hinzunehmen. Der Widerstand war ein Stachel im Fleisch der deutschen Nachkriegsgesellschaft, weil er die Deutschen mit einer Scham konfrontierte, die sie so gründlich abwehrten, dass sie nicht zu spüren war.

Ruth Hoffmann

Am Ende bilanziert Hoffmann: Der 20. Juli sei "im Laufe der Zeit zurechtgebogen, beschnitten und geplündert worden: als Gründungslegende der Bundesrepublik und ihrer Armee; als kollektives Alibi für eine Vergangenheit, die wir uns lieber nicht so genau anschauen wollten; als Eintrittskarte in die Nato und Abgrenzung zur DDR; zur Verteufelung des Kommunismus undzur Legitimierung konservativer Politik. Übrig geblieben ist ein Mythos, dem die Botschaft abhanden gekommen ist".

Dieses Urteil ist wichtig. Aber es ist hart, zu hart und auch zu allgemein. Denn der 20. Juli ist vor allem der seltene Fall eines Widerstandes gegen ein menschenfeindliches System, das aus diesem System selber kommt. Der nicht von den üblichen Verdächtigen kommt, von denen, die immer schon dagegen waren. Der 20. Juli gibt uns Anlass, Fragen zu stellen wie die, wo denn ein 20. Juli in Nordkorea ist?

Der 20. Juli ist der Lackmustest, der uns zum Beispiel den Unterschied zwischen Israel und der Hamas glasklar erkennen lässt: In Israel gibt es eine Friedensbewegung und Widerstand. Aber wo ist der 20. Juli der Hamas?

Ruth Hoffmann: Das deutsche Alibi. Mythos "Stauffenberg-Attentat". Wie der 20. Juli 1944 verklärt und politisch instrumentalisiert wird. Goldmann Verlag. München 2024. 400 Seiten.

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