Es geht um die Zerteilung der Russischen Föderation
Wie im Diskurs um "Dekolonisierung" alte Pläne des deutschen Imperialismus neumodisch begründet werden. Der reale russische Nationalismus begünstigt dies. Er macht es aber nicht richtiger.
Sollte sich das Gorki-Theater umbenennen? Diese Frage diskutierten kürzlich eine Autorin und ein Autor der Wochenzeitung Freitag öffentlich. Natürlich ging es um den Krieg in der Ukraine – und da gilt für manche der Name eines 1936 verstorbenen sowjetischen Schriftstellers für ein Theater in Berlin als Provokation, obgleich er mit dem aktuellen Krieg der russischen Föderation nichts zu tun hat.
Michael Jäger hat in seinen Kontra-Beitrag gut begründet, warum ein Verschwinden des Namens Gorki aus dem Berliner Stadtbild bestimmt nichts zum Ende des Krieges in der Ukraine beiträgt. Auch gehörte Gorki nicht zu dem von Lenin kritisierten Typus der russischen Chauvinisten, die es auch unter den Bolschewiki gab. Gorki reiste in jungen Jahren durch viele Staaten der späteren Sowjetunion und setzte sich gegen Nationalismus ein.
Zudem gehörte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den russischen Linken, die in enger Beziehung zu den Bolschewiki standen, aber auch immer wieder Differenzen mit ihnen hatten. So unterstützte Gorki den Kurs des Aufstands nicht, den die Bolschewiki nach der Verkündigung von Lenins Aprilthesen eingeschlagen hatten. Diese Linie, die Bolschewiki in der Zeit zwischen April und November 1917 sehr nah an die Anarchisten rückte, bezeichnete Gorki als ultralinks.
Erst in den späten 1920er-Jahren revidierte er seine damalige Kritik und wurde Mitglied der Kommunistischen Partei. Man kann kritisieren, dass er den einsetzenden Prozess der Stalinisierung in der Sowjetunion nicht bemerken wollte – aber Nationalismus wird man ihm nicht vorwerfen können.
Wie "ethnopluralistische" Thesen in die Kunstwelt Einzug halten
Doch die Debatte ist eingebettet in einen gar nicht so neuen Diskurs, der Russland "dekolonisieren" will. Dass bedeutet konkret, dass Anhänger dieser Strömung die unterschiedlichen russischen Ethnien zu eigenen Kleinstaaten führen wollen. So heißt es auf der Webseite des "Forums Freier Völker Postrusslands" unmissverständlich:
Wir müssen mit russischen Bürgern zusammenarbeiten, die außerhalb der Russischen Föderation leben. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen sie einfach keine andere Wahl haben, als etwas anderes zu tun, außer der Zerstörung der Russischen Föderation.
Es ist notwendig, mit westlichen Sonderdiensten und dem Sicherheitsdienst der Ukraine zusammenzuarbeiten, um Sabotagegruppen sowie ideologische Gruppen auszubilden, die auf dem Territorium der Russischen Föderation mit der örtlichen Bevölkerung zusammenarbeiten werden.
Es ist notwendig, mit den lokalen Eliten zusammenzuarbeiten, die mit dem Status quo unzufrieden sind oder die "Schwächen" haben – Übertretungen, Beteiligung an korrupten Machenschaften und andere Dinge, die sie nicht öffentlich machen wollen.
Forum Freie Völker Postrusslands
Die ganze Prämisse dahinter ist ethnonationalistisch, weil davon ausgegangen wird, dass jede Ethnie ihren eigenen Staat haben muss und nur dort ihre Bräuche und ihre Kultur verteidigen kann. Da sind dann Trachten und Brauchtumspflege nicht weit. Doch längst haben diese ethnisch-völkischen Diskurse auch schon in die Kunstwelt Eingang gefunden.
Wo das hinführt, wird bei der aktuellen Ausstellung im Kunstraum Kreuzberg deutlich, wo sich unter dem Titel "Baschkirisch für kollektive Selbsthilfepraktiken" verschiedene Anhängerinnen und Anhänger der Kolonialismustheorie präsentieren können. "In russland** leben Menschen aus 185 verschiedenen ethnische Gruppen. Trotzdem gilt das Land, gerade im Westen, nach wie vor als ‚weiß‘", heißt es da. Tatsächlich wechseln dort künstlerische Beiträge, die gut unter den Begriff "Volkstumspflege" fallen könnten, mit einer interaktiven Präsentation ab, mit der große Teile der Linken als fünfte Kolonne Putins dargestellt werden.
In einem künstlerisch gut gemachten Video über den Gau von Tschernobyl wird behauptet, es habe sich hier um atomaren Kolonialismus gehandelt. Dabei wird übersehen, dass es sich hier um einen falschen Begriff von Fortschritt um jeden Preis ging, der in der stalinisierten Sowjetunion hegemonial war und es auch noch bis in die 1980er-Jahre blieb.
An dem AKW-Bau waren Menschen aus den unterschiedlichsten sowjetischen Regionen beteiligt – und auch der Strom ging nicht nur an Russland. Insofern ist es merkwürdig, dass hieraus eine Kolonialismusgeschichte konstruiert wird.
Aber die These hat einen historischen Hintergrund, der mehr als 100 Jahre zurückreicht. Damals erfassten Matthias Erzberger von der Zentrumspartei und der baltendeutsche Pfarrer Paul Rohrbach Kriegszieldenkschriften. Dort wird propagiert, wie man "den russischen Koloss in seine natürlichen, geschichtlichen und ethnographischen Bestandteile zerlegen" könne.
Rohrbach fand hierfür in einem Vortrag von 1916 im Auswärtigen Amt die Metapher von Russland als einer Apfelsine, die man in ihre einzelnen Segmente trennen könne, und zwar so, dass dabei "bei gehöriger Vorsicht durch keinen Riss und keine Wunde ein Tropfen Saft zu fließen braucht".
Wie das Projekt Sowjetunion denunziert wird
Hieran knüpfen Organisationen wie da Forum Freier Völker, aber auch die Gesellschaft für Bedrohte Völker (GfbV) mit ihrem Entkolonisierungskonzept an. Auf ihrer Homepage findet sich das Wunschbild dieser Entkolonisierer – lauter mehr oder weniger kleine Staaten auf dem Territorium des heutigen Russland, die dann zum Einflussgebiet der Deutsch-EU werden könnten – der alte deutschimperialistische Traum seit mehr als 100 Jahren.
Dieses Konzept der Staatszerlegung hat nichts mit libertären und anarchistischen Vorstellungen von einer Überwindung von Staat und Nation zu tun. Worin das Konzept der Staatszerlegung im Sinne des deutschen Imperialismus führt, zeigte sich am Beispiel Jugoslawiens.
Hier hatte Deutschland in den frühen 1990er-Jahren einen wichtigen Anteil daran, dass es eine ethnonationalistische Aufspaltung gab, die von allen Seiten mit oft mörderischen Nationalismus verbunden war und zu den Kriegen führte, die Deutschland dann die Möglichkeiten gaben, sich dort wieder als Militärmacht zu profilieren, wo auch die Wehrmacht schon gebombt hatte – wie in Belgrad.
Es ist kein Zufall, dass die beiden Staatenbünde Jugoslawien und der Sowjetunion im Visier der deutschen Staatszerleger standen. In Jugoslawien war der Partisanenkampf gegen Nazi-Deutschland besonders stark und für die Invasoren verlustreich – und die Sowjetunion hat mit Stalingrad die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg eingeläutet.
So hat die deutsche Staatszerlegungspolitik auch etwas von einer Revanche. Im Bündnis waren dabei sowohl im Fall von Jugoslawien wie auch von der Sowjetunion ethnonationalistische Gruppen, deren Vorläufer oft schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg die deutschen Interessen dort unterstützt hatten.
Wie rechte Exilgruppen den Kolonialismusdiskurs vereinnahmten
Der Historiker Matthias Thaden hat in seiner in der Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte unter dem Titel "Migration und Innere Sicherheit" herausgebenes Buch am Beispiel von kroatischen Exilgruppen in der Bundesrepublik Deutschland 1945 bis 1980 gründlich aufgearbeitet, wie die Politik die ehemaligen NS-Verbündeten der kroatischen Ustascha zunächst protegierte.
Federführend war bis in die 1960er-Jahre das "Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte" – und die Unterstützung der alten Verbündeten lief auch unter dem Label der Brauchtumspflege. Thaden zeigt in seiner akribischen Untersuchung den Wandel in der Politik, der in den späten 1960er-Jahren auch in kroatischen Exilopposition einsetzte.
Ab Mitte der 1970er-Jahre zog dort auch der Kolonisierungsdiskurs ein, dabei blieb allerdings der ultrarechte Politikansatz erhalten. Jugoslawien wurde jetzt als serbische Kolonie denunziert, was sich moderner anhörte als die altrechten Phrasen vom Jugo-Kommunismus.
Ab 1990 hatten die Staatszerleger schließlich Erfolg. Ob es in Russland auch klappt, ist noch offen. In der Zeit, wo manche an einen schnellen ukrainischen Sieg über Russland redeten, gab es schon Vorstellungen, die Staatszerlegung auch in die Praxis umzusetzen. Begünstigt wird das natürlich durch den real existierenden russischen Nationalismus und Rassismus.
Dagegen gilt es aber erst einmal festzustellen, dass das heutige Russland so wenig mit der Sowjetunion zu tun hatte wie das Milosevic-Serbien mit dem früheren Jugoslawien. Beide Staatenbünde, Jugoslawien wie die Sowjetunion, waren die Umsetzung von Konzepten, die es bereits lange vorher am linken Flügel der Arbeiterbewegung gab.
Da war beispielsweise die Rede von der Vereinigung der Balkanvölker. Die Idee dahinter war, einen Staatenbund aufzubauen, in dem die ethnische Zuschreibungen und völkische Blut-, Boden – und Trachtenpolitik der Vergangenheit angehören sollten. Dieses Konzept sollte von Linken gegen die neuen ethnopluralistischen verteidigt werden. Die Idee, dass jede Ethnie ihren eigenen Staat braucht, ist Nationalismus und hat nichts mit linken Emanzipationsvorstellungen zu tun.
Dabei sollte natürlich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch bei der Umsetzung des multinationalen Konzepts der Sowjetunion nicht vergessen werden. Es war nicht zuletzt Lenin, der vor den großrussischen Chauvinismus auch in den Reihen der Bolschewiki gewarnt hatte.
Mit der Stalinisierung der Sowjetunion nahm dieser Nationalismus zu. Daraus sollte eine Linke auf der Höhe der Zeit Konsequenzen ziehen. Das heißt, dass der Kampf gegen jede Form von Nationalismus, Rassismus und auch Antisemitismus auch in der Linken ständig geführt werden muss. Diese notwendige Selbstkritik bedeutet aber nicht, Zuflucht in tendenziell nationalistischen Konzepten zu suchen, wie sie bei den Staatszerlegern und Dekolonisierern durchaus anzutreffen sind.