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Es war der Krieg, nicht das Selfie

Flüchtlinge in Slowenien im Oktober 2015. Bild: slovenskavojska.si/CC BY-3.0

Studie ergründet Folgen medialer Berichterstattung auf Fluchtentscheidungen

Waren es gar nicht Terror, Krieg oder Armut, die im vergangenen Jahr hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland trieben, sondern die Nachrichten über offene Grenzen und ein Selfie-Foto der Kanzlerin? Berliner Forscher sind dem Klischee nun nachgegangen.

Eigentlich war sie nur widerwillig gekommen. Monatelang hatten linke Kritiker der Kanzlerin vorgeworfen, zu wenig Empathie für Flüchtlinge zu zeigen, und sie dazu gedrängt, endlich auch einmal eine Flüchtlingsunterkunft zu besuchen.

Doch als Angela Merkel dann tatsächlich im Herbst 2015 eine Berliner Erstaufnahmeeinrichtung besuchte, sollte sich das öffentliche Bild der Kanzlerin radikal ändern: Nur Sekunden brauchte der irakischen Flüchtling Schakir Kedid um sich mit Merkel abzulichten, innerhalb von Stunden verbreitete sich das Selfie tausendfach in sozialen Netzen, schon Wochen später war es das bekannteste Abbild einer Frau, die nun Flüchtlingskanzlerin genannt wurde und bis heute hält sich das Klischee, dass es auch jenes Foto war, welches hunderttausende Menschen nach Deutschland lockte.

Wie sehr Berichterstattung deutscher Medien Einfluss auf die Fluchtentscheidung genommen hat, haben nun Forscher der Freien Universität Berlin herauszufinden versucht. Dazu befragten die Wissenschaftler des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaften 404 Männer und Frauen aus Syrien, dem Irak, Pakistan, Afghanistan, Indien und Iran.

Gerüchte über ein eigenes Haus, Sozialleistungen und Familiennachzug

Eine Ergebnis der repräsentativen Studie [1]: Die mediale Berichterstattung hatte Einfluss auf das Deutschland-Bild der Flüchtlinge. Fast alle (90 Prozent) der Syrer und Iraker hätten davon gehört, in Deutschland ein eigenes Haus und kostenlose Sozialleistungen zu bekommen und ihre Familien nachholen zu können.

Die Forscher halten es allerdings für unwahrscheinlich, dass solche Gerüchte und Halbwahrheiten fluchtentscheidend waren. Auch weil sich zusätzlich über ein Drittel der Befragten über bereits in Deutschland lebende Kontakte informierte. Rund die Hälfte der Flüchtlinge fühlte sich durch diese in ihrer Fluchtmotivation bestätigt. Rund 30 Prozent der befragen Syrer hingegen gaben allerdings gegenüber den Forschern an, man hätte ihnen von der Flucht abgeraten.

Smartphone ist für viele Flüchtlinge überlebenswichtig

Ein anderes Klischee über Flüchtlinge konnten die Forscher hingegen bestätigen: Über 80 Prozent der Syrer und Iraker hatten auf der Flucht ein Smartphone dabei. Aus guten Gründen: Der Studie zufolge nutzten die Flüchtlinge dieses in den allermeisten Fällen nicht, um sich über die Flüchtlingsberichterstattung zu informieren, und wenn, nur mit großer Skepsis.

Stattdessen nutzte die Mehrheit von ihnen Messaging-Dienste wie Whatsapp, um Kontakt zu Verwandten und Freunden zu halten. Und diese Kontakte seien häufig für die Flüchtlinge relevanter als Nachrichten in den Medien: 84 Prozent der Befragten aus Pakistan, Afghanistan, Indien und Iran und rund 57 Prozent der Syrer und rund 39 Prozent der Iraker gaben an, vor allem Informationen aus dem persönlichen Umfeld zu vertrauen.

Das Urteil der Forscher deshalb: "Anders als öffentliche Debatten mitunter vermuten lassen, sind Smartphones für Flüchtlinge kein überflüssiges Luxusgut. Vielmehr stellen sie ein wichtiges, teils überlebensnotwendiges Werkzeug dar – denn es ermöglicht mehr als alle anderen Medien Orientierung und Rückversicherung in Notsituationen."

Die Wirkung eines anderes Smartphones sehen die Forscher hingegen überbewertetet: Jenes, welches das berühmte Merkel-Selfie schoss. Nur etwas mehr als ein Drittel der Syrer (35,6 Prozent) gab an, das Foto überhaupt zu kennen. Unter Irakern (27,1 Prozent) und Flüchtlingen aus Zentralasien (18,5 Prozent) sei der Anteil noch geringer gewesen. Fotos, auf denen zu sehen ist, wie Deutsche Flüchtlinge willkommen heißen, hätten weniger als die Hälfte der befragten Flüchtlinge vor ihrer Flucht schon einmal gesehen.

Es sei "daher nicht davon auszugehen, dass diese Bilder bei der Entscheidung eine bedeutsame Rolle gespielt haben", schreiben die Forscher. Stattdessen nennen sie einen anderer naheliegenderen Grund für die Flucht hunderttausender Menschen: "Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge hat ihre Heimat aus Not verlassen."


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https://www.heise.de/-3459404

Links in diesem Artikel:
[1] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Expertise_Mediennutzung_von_Gefluechteten.pdf