"Escape while you can"?

Das Gespenst des Posthumanismus

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Aus der Neuen Welt kommt auch der Neue Mensch. Jedenfalls gedeihen vornehmlich im Westen der USA Vorstellungen vom Eintritt in ein posthumanistisches und postbiologisches Zeitalter. Ganz neu ist das alles nicht. Bereits die Kommunisten, aber auch die Futuristen haben vom neuen Menschen geträumt, aber jetzt scheint es jedenfalls ernster zu werden, da die entsprechenden Techniken am Entstehen sind. Wolfgang Neuhaus sagt in seinem Essay aus "alteuropäischer" Perspektive, was mit dem Posthumanismus auf uns zukommt.

HEINER MÜLLER

"Es gibt die Forderung nach einem hippokratischen Eid für Computerforscher, der lauten soll: Das Wesentliche im Universum ist nicht das organische Leben, sondern die Information. Das ist zwar menschenfeindlich, aber im Grunde richtig gedacht. Information heißt Zukunft, Tradierung. Das Organische vergeht sowieso. Wenn sich herausstellt, daß der Mensch dem Computer als Träger der Information unterlegen ist, dann muß die Aufgabe des Computerspezialisten sein, die Macht den Computern zu übertragen, dem höheren Wesen. Der Humanismus, an dem wir uns festhalten, ist so gesehen der letzte Mythos."

Ein Hirngespinst geht um in den (post)industriellen Gesellschaften. Im Zuge der gesellschaftlichen Verbreitung neuer Technologien, die eine neue "Verschaltung" des Körpers oder des Bewußtseins ermöglichen und die Umwelt verwandeln, werden erste Diskussionen in der Kulturwissenschaften darüber geführt (in den USA schon länger, seit einiger Zeit auch in Europa), ob eine neue Existenzform des Menschen, die "posthumane", ins Auge gefaßt werden kann.

Mittlerweile hat dieser Topos auch die trendige Welt der Werbung erreicht. In einem Spot von Adidas wird von einem M.I.T.-Wissenschaftler berichtet, der meine, daß es möglich sein werde, die ganze Persönlichkeit eines Menschen, seine Gedanken, Emotionen, auf eine Datenbank zu überspielen - der Körper werde überflüssig und könne sterben. Zu Beginn sieht man einen jungen Mann, der in einer verödeten wüstengleichen Landschaft in einer Kleidung, die vor Sonne und Staub schützt, eine Stadt erreicht. Er betritt ein Haus. Hinter dicken Steinmauern erwartet ihn ein High-Tech-Interieur. Androgyne Cyborgwesen empfangen ihn und geleiten ihn - ästhetisch eindrucksvoll gemacht - in einen unterirdischen Bereich, in dem Menschen leblos in Vorrichtungen von der Decke hängen. Der "Held" setzt sich in eine Apparatur, die wie die stilisierte Fassung eines Hinrichtungsstuhls aussieht. Eine überdimensionale Maschine nähert sich seinem Kopf, scannt sein Gehirn und erzeugt grünliche "Seifenblasen" seiner Erinnerungen an Liebe, Familie usw., die in den Raum projiziert werden. Trotz seiner emotionalen Überwältigung hat er plötzlich eine Eingebung, kann sich befreien und läuft allein durch eine karge Naturlandschaft, im Schlußbild einen Urschrei ausstoßend (?!). Das zur Wiederbelebung des Naturmythos. Escape while you can lautet die Bildunterschrift.

Ganz neu ist die Frage nicht. "Posthumanes" geistert schon länger durch die Ideenlandschaft in Gestalt von Themen wie Cyborgs, "Neuschöpfung" der Menschheit oder Veränderung der Subjektivität u.a. So wie vom "Verschwinden der Körper" schwadroniert wird, wird andererseits "die Gefährdung der Menschlichkeit" beklagt. "Spielen die Wissenschaftler Gott ?" fragt da eine Fernsehdokumentation besorgt und kritisiert, daß das Verhalten von Wissenschaftlern, die an die Machbarkeit, die beliebige Veränderbarkeit der Welt glauben, gegen die "menschliche Würde" verstoße, selbstredend "christlich und human definiert". Theologen melden sich zu Wort, ausgerechnet, und mahnen an, daß Neuroimplantate das "Prinzip der Selbstbestimmung" verletzen. Andere plädieren dafür, die Entwicklung einzufrieren und einen "Ausgleich" zwischen Natur und menschlichem Prothesensystem zu schaffen. Posthumanität hieße, daß der Mensch sich selbst als "unvollkommen" interpretiert und schließlich der eigenen "Liquidation" zustimmt. Eher eine Reihe von Symptomen dafür, daß bald eine breite Allianz im Namen des Humanismus gebildet werden kann, um beispielsweise gegen neue Techniken in der Medizin zu Felde zu ziehen.

Und die Gegenseite ? Immerhin, der Fortschritt hat die deutsche Provinz erreicht. In einem Hörfunkmagazin äußert ein Physiker der Uni Rostock, daß er sich medizinische Mikrosensoren vorstellen kann, die schon Kleinkindern eingepflanzt werden - im Laufe der Jahre soll man Informationen abziehen können über körperliche Entwicklungen und dergleichen. Die Situation ist diffus. Sowohl die uneingeschränkten als auch die kritischen Befürworter der technologischen Invasion in den Körper haben ihre Schwierigkeiten, die Grenze human/posthuman klar zu ziehen. Wann sind Menschen "Cyborgs", wann sind Körper mit Maschinen "fusioniert" ? Schon wenn sie Kontaktlinsen tragen, wenn sie Chemikalien schlucken ? Schnell wird behauptet, daß er Unterschied Körper-Maschine verschwindet. Überlegungen werden angestellt, ob die Cyborgs - die Frage aller Fragen - ein sexuelles Begehren spüren oder ob "transgender experiments" (Sandy Stone) im posthumanen Kontext zu erwarten sind. Und es wird von den Technikenthusiasten versichert, daß in den nächsten fünfzig Jahren alles, aber auch alles in Frage steht.

Posthumane Fragen sind verbunden mit der Neustrukturierung von Umwelt durch Technologien, mit der Tendenz zur "Künstlichkeit". Die Zahl der technisch hergestellten Objekte wächst kontinuierlich - gerade seit den achtziger Jahren eroberten neue Medienobjekte: PC, Fax, Mobiltelefone usw. den öffentlichen Raum. Es entsteht eine immer dichtere technische Umwelt, die jedes Individuum "umgibt" und vor neue Herausforderungen der Wahrnehmung stellt. Zu verstehen ist eine subtile Veränderung unter der "Oberfläche" kultureller Beziehungen, die zunehmend umstrukturiert werden in der allgemeinen Durchsetzung naturwissenschaftlicher und technischer Instrumente. Auf Dauer wird das mit einem humanistisch geprägten Weltbild kollidieren, als einer Weise der Sinnproduktion, die das menschliche Subjekt in das Zentrum des "Weltgeschehens" setzt. Im Zuge der überall sichtbaren wissenschaftlich-technischen Revolution ergebe sich eine neue "zivilisatorische Ausgesetztheit des Subjekts". Mit den neuen Technologien sei es möglich, die "Selbst-Experimentation der eigenen Existenz" zu riskieren, so der Kommunikationswissenschaftler Hans-Peter Weber.

Jedenfalls scheint ein Blick zu fehlen für die wahren Verhältnisse von Technik und Wissenschaft, die längst in Teilbereichen andere Ebenen der Komplexität erreicht haben. Kultur läßt sich beschreiben als fortlaufender Prozeß, in dem immer neue Ebenen des Künstlichen geschaffen werden. Die Existenz der Maschine weist (als Repräsentation) auf Veränderungen in mentalen/körperlichen Funktionszusammenhängen, die Aspekte des "menschlichen Universums" neu in Beziehung setzen.

Neudefinition des Menschen

Es gibt verschiedene Ausgangspunkte, von denen aus man den Posthumanismus diskutieren kann. Der vordergründigste Gehalt bezieht sich auf Konzepte aus der Szene der Technokultur, die "jenseits" der menschlichen Fähigkeiten ankommen wollen, im Umbau der Körper, im Überschreiten des Physischen: die Idee der Unsterblichkeit. Bio- und Nanotechnologien werden genannt, wenn es um die Realisierung geht. Noch gibt es diese Technologien nicht, die Konzepte bleiben sehr spekulativ, auch wenn man meinen mag, daß am Anfang großer Entwicklungen noch immer die Spekulationen einzelner standen, die dann gewissermaßen ins Alltagsbewußtsein sickern und realitätsmächtig werden.

Komplexer zu diskutieren ist, inwieweit eine "virtuelle" Cyborgisierung stattfindet, inwieweit zum Beispiel die Meta-Technik Computer (unbewußt) auf mentale Prozesse Einfluß hat, nicht nur als "äußeres" technisches Hilfsmittel, sondern strukturell, indem sie die Art und Weise prägt, wie Menschen denken und Konzepte bilden. Das "Sich neu erfinden", als Idee, die man gern in diesem Kontext benutzt, wird sich (aus heutiger Sicht) eher auf diesen Aspekt beziehen. "Der Mensch" ist eine Fiktion. Weder als Gedanken- noch als Realobjekt hat er eine "endgültige Form", wie sich abzeichnet. Neue Definitionen sind möglich.

Phantasien von Unsterblichkeit sind alt wie die Menschheit. Schon in religiösen Mythen wurde von Körpern erzählt, die, hatten sie das Zeitliche gesegnet, auseinandergenommen, gereinigt und als lebendige Wesen wieder zusammengesetzt wurden. Das Christentum kennt die "Wiederauferstehung" von den Toten. Die "Unsterblichkeit" der Seele - maschinenkompatibel? Die "technologische Restrukturierung" der Welt jedenfalls stellt das Denken vor neue Herausforderungen.

Das Problem ist, daß der technische Fortschritt derart schnell vor sich geht, daß kulturelle Bedeutungsmuster nicht mehr brauchbar für ihre Interpretation sind. Es sind Technologien geplant, die die Körper selbst umformen, Effekte auf das Bewußtsein erzeugen. Technologie kann zu einer "Quelle totaler Macht" werden. Maschinell wird etwas erzeugt und ausgetauscht, das "natürlich-real" nicht mehr möglich ist. Die Begrenzungen des menschlichen Körpers werden deutlich: die Überforderung der sensorischen und mentalen "Informationsverarbeitung" in Konfrontation mit den neuen technokulturellen Bedingungen, der enormen Vervielfältigung von Möglichkeiten, die der "Dezentrierung" des Subjekts, die im postmodernen Theoriediskurs so ausführlich postuliert wurde, durchaus eine weitergehende materielle Bedeutung geben kann.

Diese neue Freiheit birgt die Möglichkeit in sich, buchstäblich über etwas "hinauszuwachsen". Begriffe wie "technische Zivilisation", "Cyborg-Identität", "Heterogenität" der Subjektivität können aber hilflose Metaphern bleiben, wenn der Gesamtzusammenhang der Entwicklung, die "Formbestimmtheit", nicht einbezogen wird. Die "Mensch-Maschine-Kopplung", in welcher konkreten Form auch immer, wird von der Militärforschung vorangetrieben, um die High-Tech-Soldaten für die "Informationskriege" des nächsten Jahrtausends zu schaffen. Die Sehnsucht" nach Unsterblichkeit oder ewiger Jugend wird heute schon durch die ideologischen Formen der Warenästhetik geprägt. Die Frage aber bleibt, was posthuman an positiven Perspektiven gewonnen werden kann, ohne die Kritik an konkreten Forschungsprojekten und anderem zu vernachlässigen. Sich auf einen moralisch-humanistischen Standpunkt zurückzuziehen, ist angesichts der Komplexität der Entwicklungen zu wenig.

Das menschliche Denken an sich, in seiner unvorhergesehenen Ausprägung als Computersoftware wird zu etwas, das kristallisiert, vervielfältigt, zu einer Ware gemacht wird. Selbst das Innere unserer Gehirne ist nicht heilig; im Gegenteil, das menschliche Gehirn ist ein Hauptarbeitsgebiet von zunehmend erfolgreicher Forschung, ontologische und geistliche Fragen hin oder her. Die Vorstellung, daß es unter diesen Umständen der menschlichen Natur auf eine Art bestimmt ist, sich gegen die Große Maschine zu behaupten, ist einfach albern; sie scheint, nebenbei gesagt, geradezu bizarr.

Bruce Sterling

Viele technisch initiierte Prozesse sind individuell nicht mehr gestaltbar (in bestimmtem Sinn) und gesellschaftlich nicht umkehrbar (oder drohen, unumkehrbar zu werden). Die Technik ist ein Determinationsfaktor geworden, der den individuellen Prozeß der Identifikation auf unvorhersehbare Weise formt.

"Aufgrund der Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklung existieren unterschiedliche Vergesellschaftungstypen nebeneinander bzw. in bestimmten Mischformen. Die Folgen sind dennoch radikal: Es ergeben sich zwei miteinander korrespondierende Prozesse, deren Resultate wir als die Autonomisierung des Maschinensystems und als das periphere Individuum bezeichnen. Der Zusammenhang von Gesellschaft wird durch sich ständig autonomisierende automatische Systeme realisiert. Damit wird die bisherige Identität des abendländischen Menschen radikal in Frage gestellt." Ein bisher unbekanntes posthumanes Dispositiv entstehe mit dem sich weiterentwickelnden globalen technischen Netz, das die "Maß-Verhältnisse" des Humanismus einschränke und ein Kampfgebiet konstituiere, in dem Probleme anderer Gebiete (Politik, Ökonomie, Kultur) gelöst werden müssen.

Die Wirklichkeit besteht aus Elementen, die von Strukturgesetzen in nicht mehr menschlichen Raum- und Zeitmaßstäben organisiert werden.

Jean-Francois Lyotard

Diktiert die technologische Evolution ihre eigenen Vorbedingungen, die "menschlich-geistesgeschichtlich" nicht mehr verstanden werden können ? Ein antiquiertes Menschenbild kann ein Hindernis der Wahrnehmung sein, um die neuen Herausforderungen der Technokultur zu verstehen. Florian Rötzer skizziert den Raum, indem durch den Gebrauch wissenschaftlicher Mittel die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit rekonstruiert wird. "Neue Bereiche sind neben der sensorischen, chemischen oder elektrischen Stimulation etwa die Gestaltung von virtuellen Welten, die Möglichkeiten von Telepräsenz und Telemotorik, also einer Teleästhetik, von künstlichen Lebewesen und natürlich auch der Einsatz der Gentechnik. Heute haben wir den Zustand erreicht, daß die Welt ein riesiges, wenn auch unkontrollierbares Labor geworden ist, in dem neben künstlichen Umwelten auch Lebenswelten und ökologische Systeme entworfen werden können, in dem eben auch neue Modelle des Menschen einschließlich seiner sensorischen, affektorischen und motorischen Systeme auf dem Spiel stehen." Fest steht, da warten einige Aufgaben auf die Apologeten der "Technikfolgenabschätzung".

The fun side of post--humanism, which we can never remind ourselves enough is an altogether science-fictional notion (at least for the moment), is its promise of bodiless kinesis and info-vertigo, its Marvel Comics vision of massively parallel brainpower and cyborgian brawn.

Mark Dery

Diese Diskussion um das Posthumane, die in den USA die Nachfolgeschaft der Postmodernismus-Debatte angetreten hat, wird dort eng mit der Figur des "Cyborg" verknüpft. "In the current social and critical moment, no project is more overdue", schreibt Cary Wolfe , "than the articulation of a post-humanist theoretical framework for a politics and ethics not grounded in the Enlightenment ideal of `Man`."

Die Behauptungen sind - von unterschiedlichen Standpunkten aus Techno- und Kulturwissenschaft - sehr weitgehend : die menschliche Form (mit der Verfassung menschlichen Begehrens und der äußeren Körperlichkeit) könne sich unter Umständen radikal verändern und müsse neu gesehen werden. Die "Denaturalisierung der Erfahrung" wird konstatiert bis eben zum "Ende der Natur.

We are moving beyond the "humanist" phase of history into a new level of combination of human and machines, an extremely suggestive assemblage in which the figures of the cyborg open vast unexplored territories. (...) This of course effects different socio-economic and cultural groups differentially, but a massive secular trend seems to be affecting the human race globally. The question then is not whether this is bad or good because that way of posing the issue confronts us with nostalgia, in fact produces nostalgia rhetorically. The question is, once we face the trend, is how to understand its significance and how to respond to the circumstances in optimal ways, in others ways, to think critically.

Mark Poster

Die Diskussion bahnt sich seit längerer Zeit an. Der Cyborg ist Kristallisationspunkt für eine neue kulturelle Debatte, mit offenem Ausgang. "The cyborg is the specific instance for which the denaturing process is the general case", legt die US-Literaturwissenschaftlerin N. Katherine Hayles klar: "Like the cyborg, denaturing opens up the possibility of unconstructed spaces (...) And like the cyborg, the denaturing process arouses intense ambivalence, especially as it spreads to envelop the human." Wenn Hayles fragt, was beispielsweise mit den "Menschenrechten" passieren wird, ist das weit hergeholt, aber die Frage ist berechtigt, welche Folgen es haben wird, wenn der "Mensch" als Konstruktion gesehen wird wie andere auch.

Auch bundesdeutsche Autoren haben sich zu dem Thema schon geäußert, wobei der Philosoph Norbert Bolz eine rasant verkürzte Darstellung der Situation gibt, die in ihrer Unschärfe eine sinnvolle Diskussion des Posthumanen eher behindert: "Frei ist der Mensch als Maschine, und umgekehrt gilt, daß die Maschine an radikal menschliche Funktionen geknüpft ist. (...) In der technischen Wirklichkeit ist der Mensch nicht mehr Souverän der Daten, sondern wird selbst in Feedback-Schleifen eingebaut. Stetig wächst der Anteil der Kommunikation, der an Maschinen statt an Menschen gerichtet wird. So läßt sich thesenhaft sagen, daß alle Identitätsprobleme der humanistischen Kultur aus den Anforderungen einer neuen Mensch-Maschine-Synergie resultieren."

Da bleibt vieles unklar. Neben der vorschnellen Betonung menschlicher Freiheit "als Maschine" (?), ist der "Einbau" (wie ?) in technische Funktionszusammenhänge doch sehr oberflächlich dargestellt. Daneben gibt es ein Potpourri an kritischen Stimmen. Richard Barbrook kritisiert an den Technowissenschaften , daß sie einen biologischen Reduktionismus, einen "Cyber-Utopismus" propagieren, was er als "zeitgenössischen Mystizismus" interpretiert. Paul Virilio erscheint die Entwicklung zum "überreizten und postevolutionistischen Menschen" wissenschaftlich obskur. "Heute werden die Konsequenzen des autonomen Subjekts auf die Spitze getrieben," moniert ein anderer Kritiker, Hans Ulrich Reck

Der philosophische Kontext des Posthumanismus

The only important thing about an individual is its network of conceptual relationships.

Marvin Minsky

Die Debatten um Subjekt-Modelle sind in den Kulturwissenschaften uralt. Debatten zwischen der System- und der Handlungstheorie reichen in der Bundesrepublik zurück in die Sechziger, parallel begleitet von strukturalistischen Diskussionen aus Frankreich. Die historischen Wissenschaftsforschungen von Michel Foucault waren ein Anfang, über die Konstitution des Subjekts in der Form diskursiver Praktiken nachzudenken: der "Mensch" als Resultat von spezifischen Prozeduren der Wissensproduktion.

Was mir am Humanismus nicht behagt, ist, daß er eine bestimmte Form unserer Ethik zum Muster und Prinzip der Freiheit erklärt. Ich glaube, daß es mehr Geheimnisse gibt, mehr mögliche Freiheiten und weitere zukünftige Erfindungen, als wir uns dies im Rahmen des Humanismus vorstellen können, ...

Michel Foucault

Es bleibt, ohne daß sich in seinen letzten Texten weitere Spuren finden lassen würden, bei einem kryptischen Hinweis, wie diese Erfindungen aussehen könnten, mit Bezügen zu sehr heterogenen Wahrheitsspielen : "Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt." Der Humanismus sei nicht "universell", das Konzept sei an bestimmte kulturhistorische Situationen gebunden.

In der gegenwärtigen Phase beginnt man, sich über den Menschen zu wundern. Man `analysiert` ihn, und es stellt sich heraus, daß nichts drinsteckt. Daß `Mensch` ein Knoten aus physikalischen, physiologischen, psychischen, kulturellen Möglichkeiten ist (eine Kerbe in diesen einander überschneidenden Feldern), und das diese punktartigen Möglichkeiten sich zufällig verknüpfen. Und weil im Menschen nichts steckt (kein `Ich`, kein `Selbst`, kein `Geist`), so stellt sich heraus, daß Welterklärung und Weltveränderung auch von Apparaten geleistet werden können.

Vilém Flusser

Die Veränderung in den kulturellen Bedingungen hat Effekte auf die Subjekte selbst; die "objektiven" und die subjektiven Dimensionen des Wandels stehen in einem neuen Verhältnis. Das individuelle Subjekt wird bedeutender, in einem Moment, wo, technisch bedingt, die Subjekt-Modelle sich ändern. "Es hat sich herausgestellt," meint Flusser , "daß der Computer, der ursprünglich eine schnelle Rechenmaschine war, in Wirklichkeit für uns jetzt das Instrument ist, alternative Realitäten und uns selbst herauszukristallisieren. Das gibt uns einen Anschein einer neuen Anthropologie. Wir sehen uns jetzt, glaube ich, als Knoten eines intersubjektiven Relationsnetzes, die sich ständig verschieben, sich verknoten, entknoten, in Möglichkeitsfeldern schweben, aus denen durch Computation alternative Welten herauskristallisiert werden."

Die neuen Technologien verlangen neue Fähigkeiten und auch neue Denkweisen, um sie einzusetzen. Felix Guattari hat die Vision, daß die neuen Allianzen von Mensch und Maschine zur Vervielfältigung von individuellen und kollektiven Äußerungen beitragen können. Individuelle und soziale Praktiken der "Selbst-Organisation" von Subjektivität seien in Reichweite, die das Potential hätten, eine fundamentale Repositionierung des menschlichen Individuums in Beziehung zu der natürlichen und der maschinellen Umgebung zu erreichen. Guattari hofft auf "eine neue Art maschineller Subjektivität" im Zeitalter der Biotechnologie, die das unbegrenzte Ummodeln der Lebensformen möglich mache, was zu einem radikalen Wandel der Lebensbedingungen, zu einer radikalen Reformulierung auch von imaginären Bezügen führen kann.

Subjectivity today remains under the massive control of apparatuses of power and knowledge, thus consigning technical, scientific and artistic innovations to the service of the most reactionary and retrogade figures of sociality. In spite of that, other modalities of subjectivity production - processual and singularizing ones - are conceivable. These alternative forms of existential reappropriation and self - valorization may in the future become the reason for living for human collectives and individuals who refuse to give in to the deathlike entropy characterizing the period we are passing through.

Felix Guattari

Diese Form der Maschinen-Subjektivität bleibt undeutlich, aber Guattari weist in die richtige Richtung, wenn er meint, daß alle Subjektivierungprozesse sich auf Prozesse beziehen, die die Technologien verkörpern: "Ein subjektives Faktum verweist auf personale Territorien - den Körper, das Selbst -, aber gleichzeitig auch auf kollektive Territorien - die Familie, die Gruppe, die Ethnie. Und daran schließen sich alle Subjektivierungsprozesse an, die in Sprache, Schrift, Informatik und technologischen Maschinen Gestalt annehmen." Guattari nennt neue Werte wie Maschinenkreativität und "Resingularisation der Existenz" als Brennpunkte einer neuen fortschrittlichen Polarität. Er benutzt biologische Metaphern der Evolution, um eine positive technologische Entwicklung zu denken.

Die Konstruktion einer neuen Identität des Menschen

We're bioengineered entities, we're not natural human beings anymore.

William Gibson

Im Zentrum der posthumanen (oder auch transhumanen) Konzepte einiger US-Forscher steht die Idee der Abspaltung einer "geistigen Sphäre" (mit Künstlicher Intelligenz, Bewußtseinstransfer auf Maschinen und ähnlichem), die das Naturprodukt "Mensch" überflüssig macht. Sie ist kompliziert, da enorme technische Fortschritte nötig sind, um diese teilweise sehr technizistischen Phantasien zu bewahrheiten, die sich - da merkwürdig subjektzentriert, ohne gesellschaftliche Reflexion - eindimensional lesen. Die Ingenieure und Wissenschaftler sehen als die große Herausforderung, Schnittstellen zwischen Individuum und Maschine zu entwickeln, die evolutionär, aber auch kulturell bedingte Begrenzungen der "menschlichen Natur" überwinden. Die materiell denkende "Substanz" könne sogar auf verschiedenen materiellen Trägern existieren.

In der Bewegung der Extropians (als Anti-Entropie-Bewegung) finden sie ein Sammelbecken für allerlei Gedankenzeug, wobei es nicht einfach ist, interessantes Material von weniger Interessantem zu trennen. Vieles wirkt wie "Popcorn-Philosophie", leicht konsumierbar wie der unsägliche Cyborg-Kram, der in Hollywood verbrochen wird. Lesen wir Max More, den Chefideologen der Bewegung: "Extropianer befürworten den prometheischen Gebrauch von Wissenschaft und Technik, um immer tiefere und umfassendere Verbesserungen des menschlichen Seins zu erzielen - um den biologischen Prozeß des Alterns und des unerwünschten Sterbens auszurotten, um unsere Intelligenz über die Kapazitäten unseres biologischen Gehirns hinaus zu vergrößern, um uns die Entscheidung über unsere körperliche und psychische Identität zu ermöglichen, anstatt uns mit der Identität zufrieden zu geben, mit der wir geboren wurden."

Viel hängt davon ab, was man unter "Identität" versteht. "Falls wir unser Leben verlängern und unseren Geist vervollkommnen wollen," erklärt der KI-Papst Marvin Minsky, "werden wir unsere Körper und Gehirne verändern müssen. Zu diesem Zweck ist zunächst zu überlegen, wie die biologische Evolution uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Dann müssen wir Möglichkeiten ersinnen, der Abnutzung unseres Körpers mit neuartigen Ersatzteilen zu begegnen. Der nächste Schritt besteht darin, mit geeigneten Strategien die Fähigkeiten unseres Gehirns zu erweitern und größeres Wissen anzusammeln. Schließlich wird uns die Nanotechnologie in die Lage versetzen, unsere Gehirne vollständig zu ersetzen. Sowohl biotechnologische als auch moralische Gründe verwehren es uns, die Methoden der Evolution direkt fortzuführen: biotechnologische, weil wir eine bestimmte Konstruktionslösung darstellen und insofern allzusehr durch die Wirkkräfte der Natur determiniert sind; moralische, weil wir sowohl den blinden Versuch wie auch die blinde Selektion als Methoden ablehnen. Zugleich kann man jedoch die von der Evolution gelieferte Lösung als positiv beurteilen, denn trotz der biologischen Beschränkungen besitzen wir dank der gesellschaftlichen Evolution der Wissenschaft eine - sei es auch nur zukünftige - Freiheit des Handelns."

Das Problem der Unsterblichkeit ist eine Sache für sich, wie schon angedeutet. Der Soziologe Zygmunt Baumann beschreibt die Todesbedrohung als eine Art "Motor" kulturhistorischer Entwicklung, die (imaginär) nie aufgelöst werden kann und darf. "Das ist die letzte Grenze", schreibt dagegen Herbert Marcuse über die "Herrschaft des Todes", "die die Revolution weitertreibt über den je erreichten Grad der Freiheit hinaus: ein Kampf gegen das Unmögliche, dessen Bereich vielleicht doch allmählich reduziert werden kann." Marcuse fragt gar, ob die "Selbstbestimmung" des Endes ein Aspekt des Reiches der Freiheit wäre. Eine Idee, die an eine spätere Aussage von Flusser erinnert, daß der Mensch erst dann `ja` zum Leben sagen könne, wenn er den Tod überwunden habe, als Möglichkeit, sinnvoll `nein` zu sagen: "Und diese radikale Freiheit steht zum ersten Mal theoretisch zur Frage. `Theoretisch` auch in dem Sinn, daß sich diese Frage nur generell, nicht aber für uns selbst stellt. Ein Aspekt unserer Lage: an einer Wende der Zeiten zu leben, also die Zukunft, die man ahnt, nicht erleben zu dürfen."

Die Frage ergibt sich schon, welche Gesellschaftsform überhaupt das Projekt der "Unsterblichkeit" in Angriff nehmen könnte ? Es fällt schwer, die Visionen Moravecs von kapitalistisch motivierten Superintelligenzen ernst zu nehmen, die im aufgeblasenen Cyberspace-Kosmos ihren Geschäften nachgehen. Aufgrund der Komplexität der Entwicklungszusammenhänge, die zu dem Ergebnis von Unsterblichkeit führen können, gehen alle Spekulationen ins Leere. Abstrakt läßt sich die Sinnfrage stellen : Wozu soll es Unsterblichkeit geben ? Um Zeit zu gewinnen für das Vervollständigen von Wissen, die "unendliche" Entwicklung individueller Interessen und Bedürfnisse? Die "Perfektionierung" ist dabei nicht körperzentriert abzubilden als rein materielle Unsterblichkeit, sondern bezieht die "virtuellen", die intelligenten Beziehungen in einer Gesellschaft ein.

Die Langlebigkeit an sich kann ja nicht das Ziel sein. Sie muß zu irgend etwas dienen. Das grundlegende Merkmal des `vervollkommneten Modells` muß deshalb seine autevolutive Potenz sein. Damit es sich in einer Weise und in der Richtung verändern kann, die ihm in Hinblick auf die von ihm geschaffene Zivilisation angemessen erscheint.

Stanislaw Lem

Während andere Autoren mehr "subjektiv" argumentieren: der "Mensch", der Grenzen überschreitet und nach neuen Abenteurn sucht, ist Stanislaw Lems Argumentation "informationstheoretisch", d.h. er sieht Prozesse der "gesellschaftlichen Evolution", die einen "meta-subjektiven" Charakter haben: "Das menschliche Wissen wird das in den lebenden Organismen angehäufte biologische Wissen übertreffen. Dann werden Pläne, die man heute als Hohn auf die Perfektion der evolutionären Lösungen auffaßt, realisiert werden." Es wäre der Point of no return, der endgültige Durchbruch der posthumanen, postbiologischen Welt. "Vollkommener als das biologische System ist ein solches, das um einen Freiheitsgrad reicher ist - im Hinblick auf das Baumaterial. Ein System, das weder in seiner Form noch in seiner Funktion durch das Material determiniert ist. Das nach Bedarf einen Rezeptor oder Effektor, ein neues Sinnesorgan oder eine neue Gliedmaße oder eine neue Fortbewegungsweise erzeugt."

Wenn man will, ergibt sich hier eine spekulative Nähe von Lem und Moravec, da sie zu einem ähnlichen Schluß kommen: die "postbiologische Welt", die sich zu der heutigen Welt verhalte wie die der Bakterien zu der der Menschen, liege jenseits der menschlichen Vorstellungskraft.

Der neue Mensch

Der Posthumanismus bietet Unbeständigkeit und Freiheit und fordert den metaphysischen Wagemut, in Gedanken eine ganz neue Welt zu erschaffen.

Bruce Sterling

Die Suche nach einem "Neuen Menschen" zieht sich durch kulturrevolutionäre Diskurse des ganzen Jahrhunderts, teilweise verbunden mit wirklichen technischen Veränderungen. Der neue Mensch - das ist "der alte Mensch in neuen Situationen", mit neuen Aktions- und Reaktionstypen, wie Brecht meint. Berühmt ist das Zitat von Che Guevara aus den sechziger Jahren, wo er, allerdings metaphorisch, den "neuen Menschen" mit einer "neuen Technik" fordert. Auf der anderen Seite gibt es, angesichts des Faschismus, Visionen des "Neuen Tiers" (Brecht). In einer utopiearmen Zeit macht es jedenfalls Spaß, die gegebenen Verhältnisse in der Phantasie ins Extreme zu übersteigern. Ob als Beschwören einer reinen digitalen Transzendenz (der "Technopaganismus") oder als (pseudo)wissenschaftliche Begründung (Extropianer und andere), die "Entmaterialisierung" des Bewußtseins/des Körpers hat einen einen Faszinationswert, der mehr als Science-Fiction-Begeisterung ist.

Die Phantasien in Gibsons "Neuromancer", wo der Konzernclan der Teshier-Ashpool seine Unsterblichkeit inszeniert, finden ihren Widerhall in der Wirklichkeit, wenn man sich die Reportagen in diversen Medien ansieht, in denen Leute, vor allem aus Kalifornien, nach Wegen der Lebensverlängerung oder der Todesüberwindung suchen: Kryonik, Hormonbehandlung mit Melatonin u.a.; und sie haben das nötige Kleingeld dazu. Insofern wird der Tod eine "Klassenfrage". Bruce Sterling meint, daß die ganze Kosmetikindustrie als riesiger Markt, propagiert zumindest in den Metropolen über die Mode- und Lifestyle-Zeitschriften, schon heute den Beginn einer posthumanen Verwandlung der Körper markiere (selbst eine deutsche Frauenzeitschrift entdeckt jetzt als neuen US-Trend "Body Shaping"). Und die warenästhetisch bedeuteten Werte von "Jugendlichkeit" und "Schönheit" werden mit die treibenden Kräfte sein. In seinem neuen Buch "Holy Fire" beschreibt er einen Prozeß, den er "neotelemaric dissipative cellular detoxification" nennt.

... her body swells up hugely and they do all this weird genetic stuff with her. Turn her lungs inside out and scrape out all her arteries, and remove a lot of toxic chemical build-up from her brain cells. And it's just sort of a very radical dusting and cleaning.

Bruce Sterling

Ein Szenario, in dem Unsterblichkeit durch radikale Erneuerung des Zellmaterials erreicht wird. Sterling hält den Durchbruch in der Biotechnologie für wahrscheinlich, der dazu nötig ist, um eine solche (langwierige) Operation am Körper durchzuführen.

Die Situation ist gekennzeichnet durch eine große Unsicherheit. Daß immer ein Spannung bleibt im Prozeß der Identität, ist unausweichlich. Zum einen wird die forcierte Entwicklung der Technik propagiert, ein neues Verhältnis zu den Individuen, zum anderen rutscht in manchen Diskursen das Subjekt als letzte "Bastion des Widerstands" doch wieder hinein. Es fehlt die Utopie eines neuen Subjekts, das in der Lage wäre, die "multi- chocs" (in Anlehnung an Benjamin) der Umwelt zu verkraften, zu verarbeiten und neue Wahrnehmungen zu trainieren. Bisher ist als posthuman zu charakterisieren, was neue Formen der Selbstwahrnehmung einschließt, in der Bereitschaft, die körperliche Ausstattung mit technischen Prothesen zu denken, das "Selbst" mehr als strukturelles Potential zu sehen, nicht als "Substanz", fixierte "Entität".

Dabei sind verschiedene Subjektmodelle zu kombinieren, um die Beschreibung des gegenwärtigen Subjektivität zu gewinnen - das "Selbst" ist eine dividierte Einheit: fragmentiert, unvollendet, im Prozeß, aber auch reintegriert, orientiert, handlungsfähig mit immer neuen Kompetenzen. Das "Ich" als Schnittpunkt von gesellschaftlichen Beziehungen, wobei die Technik ein immer wichtigerer Faktor beim Finden neuer Identitäten wird - als Vorantreiben von Erkenntnissen und Erfahrungen, die Individuen, die sie durchleben, verändern. Die vielfältige gesellschaftliche Einführung der Computertechnologie zeigt ja, daß neue Subjektanforderungen entstehen, die die Individuen erfüllen müssen, wenn sie eine Position in den Strukturen einnehmen. Was die Individuen aber mit neuen Technologien machen, ist nicht vorherbestimmbar: wenn man im Umgang mit ihnen Fähigkeiten erlernt, gibt es immer einen Sinnüberhang, der nicht in der Struktur aufgeht. Was eine "Identität" ist, wird in Zukunft offener sein, im negativen Sinne vielleicht, daß eine (noch) größere Austauschbarkeit, Oberflächlichkeit entsteht, im positiven, daß eine weitere individuelle Fähigkeit für einige entwickelbar wird, die eigene Identität ständig zu erfinden und auszubauen.

Die einzelnen können in Zukunft hoch"gebildete", vielfach verbundene, technisch gestützte "Einheiten" mit verschiedenen Realitätsbezügen sein. Die Technologie erzeugt den neuen Individualisierungsschub. Jeder, der mit dem Internet arbeitet, kennt das Gefühl, in einen bisher unbekannten Zusammenhang eingeklingt zu sein. Das Netz repräsentiert Möglichkeiten neuer Kollektivitäten, indem es einzelne "anschließt" an neue Vermittlungsstrukturen, ein Vorgang, der antisubjektiv erlebt wird, da das Netz eine "kollektive Struktur" hat, und als eine individuelle Verstärkung, da neue Wissensmöglichkeiten erreicht werden. Die Maschinen stecken in Zukunft den Rahmen ab, in dem das heutige "Menschsein" in neue Kontexte gestellt wird. Die Wirkungsmächtigkeit der Technologien wird sehr groß sein; sie kann wahrscheinlich auch nicht mehr "verstanden", sondern nur (mit spezifischem oder prinzipiellem Verständnis) eingesetzt werden für Vorgänge der Erkenntnis.

Tendenziell wird die Allseitigkeit einer maschinellen "Vermitteltheit" der individuellen Existenz erreicht: das Ideal ist, schnell überall zu jeder Zeit auf dem Planeten über Medien erreichbar (und präsent) zu sein. Weitergehende Verschiebungen im Erleben von "Kollektivität" werden zu beobachten sein, die Guattari andeutet: die Individuen leben nur als gesellschaftliche Wesen, ihre Gehirne sind "vernetzt" durch Sprache - sie sind keine "Einheiten", die man einfach technisch aufrüstet, um sie intelligenter zu machen. Das als Argument gegen Moravec, der das Gehirn als einzelnen "Prozessor "beschreibt, die Entwicklung der Technik hochrechnet und zu der Aussage kommt, daß irgendwann im nächsten Jahrtausend die Leistung erreicht ist, wo es Künstliche Intelligenz gibt, weil die technischen Prozessoren dann schneller als das Gehirn sind; das ist sicher unhistorisch gedacht: das Bewußtsein ist ein vielfach kulturhistorisch vermittelt.

Der "Übergang" wird nicht einfach sein. Die Technologien werden kommen, und es lassen sich einige gesellschaftliche Konflikte, ideologische wie ökonomische, vorstellen, die diesen Prozeß begleiten werden. Wie immer die kulturelle Konfrontation auch ausgeht, eine Flucht in einen "Naturzustand" ist unmöglich. Es gibt berechtigte Zweifel an einer reibungslosen Verwirklichung der US-Konzepte, aber es gibt möglicherweise andere Wege, um über sinnvolle posthumane Perspektiven zu reden. Ist es ein "Projekt, an dem jeder persönlich beteiligt ist: die Umformung des menschlichen Körpers durch die moderne Technologie", wie es zum Beispiel in David Cronenbergs Ballard-Verfilmung "Crash" heißt ? Eine Vorstellung, die später in dem Film als "Science-Fiction-Konzept" "an der Oberfläche" bezeichnet wird, weil das eigentliche Thema die Ausweitung von erotischen Erfahrungen ist. Die Menschen (er)finden sich neu in ihrem körperlich-sexuellen Erleben, das in seiner Dynamik eine letztlich unfaßbare Größe bleibt, aber nicht als "Maschinenwesen".

Die posthumane Identität ist vielleicht ähnlich unfaßbar, da sie zunehmend "vereinzelt" ist und Aspekte der sinnlichen Wahrnehmung einbeziehen wird. Man kann sich einigen über die "Struktur", in der Subjektives sich verwirklicht, den Rahmen, ohne daß eine Übereinkunft besteht, bestehen muß, ob das Individuum bestimmte ethische Regeln befolgt oder nicht. Aber das ist nur eine Ahnung. Das Ende des Humanismus kann (in einem vielschichtigen Prozeß) erst einmal bedeuten, daß die "universale" Einbindung der einzelnen wegfällt, zuerst ideologisch, indem das "ideologische Jenseits" der "Großen Subjekte" von Gott oder Staat zunehmend verschwindet, zum anderen auch in einem materiellen Sinn, wenn die Aufspaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Ausrichtungen den Individuen neue Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens eröffnet. Interessant wird dann die Verbindung der posthumanen Implikationen neuer Technologien und neuer gesellschaftlicher Utopien.

Eine Voraussetzung wäre sicher eine umfangreichere Kritik am "theoretischen Humanismus", wie sie von Foucault und anderen begonnen wurde. Eine solche Vorstellung von "Selbstbestimmung" als gemeinschaftlicher Bestimmung eines Rahmens ist nur möglich auf der Basis freier gesellschaftlicher Beziehungen, was die Verfügung über Technologien und andere "Mittel" angeht. Insofern wird es notwendiger, die Phantasie zu trainieren, um die Tragweite bestimmter Ideen zu begreifen, die, wenn man sie in andere Zusammenhänge stellt, durchaus zu positiven utopischen Vorstellungen beitragen können.

Die Verwirklichung von technischen Potentialen hängt ab von einer intelligenten Konzeption der Eingriffsmöglichkeiten, basierend auf einem grundlegenden Verständnis der Prozesse, die zu den beschriebenen Effekten von subjektiver Freiheit führen können (aber nicht müssen). Das, was für die menschlichen Individuen Bedeutung hat, wird immer nur in der Reichweite ihrer Erkenntnisse, ihrer Fähigkeiten liegen - es gibt es für den menschlichen Maßstab nichts Vorherbestimmtes; alles kann in der Perspektive neu konstruiert werden (in sukzessiver Realisierung bis hin zur Noosphäre, dem Gedankenuniversum nach Teilhard de Chardin). Wenn es aber gesellschaftlich nicht "artikuliert" ist, wird es keine allgemeine Bedeutung haben (und unter Umständen verloren gehen). Allerdings stellt sich die Frage, ob es eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in dem Umfang geben wird, daß tatsächlich einzelne oder Gruppen (Klassen) in eigenen "Welten" buchstäblich verschwinden, in denen ihnen ganz andere Technologien und Wissensmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die denjenigen, die "draußen" bleiben, völlig unbekannt bleiben. Das liest sich wie Science-Fiction, aber selbst heute, kurz vor Beginn eines neuen Jahrtausends, sind Milliarden Menschen von vergleichsweise primitiven Kulturtechniken wie dem Telefon ausgeschlossen. Letztlich ist es schwer zu vermitteln und wird auf eine merkwürdige Weise zu einer "Glaubensfrage".

Es geht darum, die Technik auszubauen und zu benutzen. Es geht um die Hochzeit von Mensch und Maschine. Dadurch wird der Mensch weniger störanfällig gegen seine natürlichen Impulse. Natur ist alt, Technik ist neu. (...) Was bekämpft werden muß, ist das Primitive. Es ist nicht natürlich, in einem Kasten zu sitzen und zu fliegen. Und deswegen muß es sein, denn die Natur saugt uns auf, bringt uns zum Verschwinden.

Heiner Müller

Und Moravec ist nicht der einzige, der sich auf ein Drama kosmischen Ausmaßes bezieht. Jean-Francois Lyotard erklärt, daß das zentrale Problem von Technik und Wissenschaft sei, für die "Software" des (menschlichen) Denkens eine Hardware zu entwickeln, die nicht mehr von den Lebensbedingungen der Erde abhängig ist - das sei ein Prozeß, der über kurz oder lang ohne menschliches Subjekt vollzogen werde (d.h., ohne im engeren Sinn menschlich-verkörperlichtes Denken), sondern mit Künstlicher Intelligenz, da das Ausbrennen der Sonne ein kosmisches Exil notwendig machen werde.

Die Technisierung kultureller Teilprozesse, die Denken/Körper vielfältig beeinflußt, ist der Katalysator einer Subjekttransformation in eine offene Zukunft: eine Art "Cyborg" entsteht, der virtuell/direkt mit verschiedenen Technologien verbunden ist (in der Umgebung, am Körper, im Körper), die verschiedene Funktionen haben und das Wachstum der "neuen Einheit" neu dimensionieren. Wahrscheinlich ist, daß die Körper technisch "entwickelt" werden als Vorbereitung auf noch nicht vorstellbare und bislang noch nicht erreichbare Raum-Zeit-Dimensionen. Daneben werden Künstliche Intelligenzen zu "Motoren" der Entwicklung, da sie stoffliche Beziehungen unabhängig formen werden. Der Prozeß der Erkenntnis wird eine ungeheure Beschleunigung erfahren in der Kultur der Mensch-Maschine-Verbindungen.

Das Posthumane ist dabei eine Aufforderung, die neuen Potentiale zu begreifen und Wege auszuprobieren, sich mit ihnen zu verbinden. In der abzusehenden Durchsetzung der Automation in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entstehen noch größere Freiräume, die in einem kulturellen Projekt "ausgefüllt" werden müssen. In den Zeiten steigender Komplexität von technischen Umweltbeziehungen wird eine neue "Zivilisationsidee" notwendig: das Erobern neuer Sinnbereiche in der künstlichen Produktion von Welt (und darin integriert: die Ausdehnung der Kultur in den Kosmos).