Eskalation im Ukraine-Krieg: Russisches Atomraketen-Frühwarnsystem getroffen
Mutmaßlicher Angriff der Ukraine beschädigt russisches Frühwarnsystem für Atomraketen. Wird nun ein atomarer Gegenschlag folgen? Ein Interview mit Markus Reisner.
Satellitenbilder bestätigen, dass ein russisches strategisches Frühwarnradar im Südwesten des Landes vermutlich durch einen ukrainischen Drohnenangriff Anfang der Woche schwer beschädigt wurde. Die ukrainische Seite hat sich bisher nicht offiziell zu dem Angriff bekannt, aber in der englisch-sprachigen Presse wird es als wahrscheinlich angesehen.
Telepolis hat Markus Reisner, dem bekannten österreichischen Historiker, Offizier des Bundesheeres und Militärexperten über die Bedeutung der Anlage gesprochen – und über das mögliche Konfliktpotenzial, das damit verbunden ist.
Warum ist der mutmaßliche ukrainische Drohnenangriff auf die russische Radarstation Armawir im Südwesten der Region Krasnodar überaus bemerkenswert?
Markus Reisner: Auf am 24. Mai 2024 aufgetauchten Bildern ist zu erkennen, dass zumindest eines der beiden in Armawir stationierten russischen Voronezh-DM-Frühwarnradarsysteme bei einem gezielten Angriff schwer beschädigt wurde. Russland verfügt derzeit über bis zu zehn derartige Frühwarnradarsysteme.
Sie sind über ganz Russland verteilt, auf Standorten in Murmansk, bei St. Petersburg, in Kaliningrad, in Barnaul, in Omsk, bei Irkutsk, bei Workuta, in Krasnogorsk und im genannten Armawir. Letztere aus zwei Radaren bestehende Anlage wurde gebaut, um ähnliche, ursprünglich in der Westukraine und auf der Krim installierte sowjetische Systeme zu kompensieren.
Bei diesen Voronezh-DM-Radaren handelt es sich um "Over-the-Horizon" (OTH) – "Ultra High Frequency" (UHF)-Radare, welche Teil des russischen Frühwarnradarsystems zur Erkennung ballistische Raketen sind. Die Radare haben eine Reichweite von horizontal 6.000 und vertikal 8.000 Kilometer. Ihr Ziel ist es, vor allem anfliegenden US-amerikanische Atomraketen früh erkennen zu können, um rasch eigene Maßnahmen, darunter im äußersten Fall einen russischen nuklearen Gegenschlag, einleiten zu können. Denkbar ist auch die Weitergabe von Frühwarndaten an Verbündete, wie z. B. dem Iran, Nordkorea oder China.
Welchen Nutzen hätte die Ukraine von solch einem Angriff auf russische Frühwarnradarsysteme?
Markus Reisner: Die Ukraine verfügt nur mehr über Raketenwaffen mit begrenzter Reichweite. Eigene Systeme wie Tochka-U sind verbraucht und an vom Westen gelieferten Systemen sticht das von den USA stammende System Army Tactical Missile System (ATACMS) heraus. Dieses hat eine Reichweite von 300 Kilometern bei einer Flugbahnhöhe von bis zu 60 Kilometern.
Man könnte nun mutmaßen, dass die ukrainischen Streitkräfte Armawir ins Visier genommen haben könnten, weil sie befürchteten, dass der Standort dazu beitragen könnte, eine Vorwarnung für ihre Angriffe mit von den USA gelieferten ballistischen ATACMS zu geben. Armawir befindet sich jedoch knapp 700 Kilometer von möglichen ATACMS Abschussräumen bei Cherson entfernt.
D. h. aufgrund des Voronezh-DM-Radarhorizonts ist es bei dieser Reichweite schwierig, mit niedriger Scheitelbahnhöhe fliegende ATACMS-Raketen zu detektieren. Die anvisierte einfliegende Rakete sollte sich zur exakten Messung zumindest in einer Höhe von über eintausend Kilometern befinden. Interkontinentalraketen fliegen in der Regel in Höhen von bis zu 2.000 Kilometern. Also im optimalen Detektionsbereich des Voronezh-DM-Radars. Für taktische Kurzstreckenraketen, wie ATACMS sind andere Radarsysteme vorgesehen.
Gibt es noch anderes Erklärungsmodell für einen Angriff und warum ist dieses bedeutungsvoll?
Markus Reisner: Die beiden russischen Voronezh-DMs in der Anlage bei Armawir sind ein integraler Bestandteil des strategischen Frühwarnerkennungssystems Russlands, und ihr Ausfall könnte die Fähigkeit des Landes, ankommende nukleare Bedrohungen zu erkennen, beeinträchtigen.
Im Moment befinden sich die russischen Streitkräfte in der Ukraine in der Initiative. Dies wird zudem hinterlegt bzw. abgesichert mit fortlaufenden russischen Drohungen betreffend einen Einsatz von Mitteln des eigenen Nuklearpotentials. Im Herbst 2022, kurz vor dem überraschenden Abzug der vor dem Einschluss stehenden russischen Truppen aus dem Brückenkopf bei Cherson, berichteten die US-Geheimdienste von möglichen Vorbereitungen eines russischen taktischen Nukleareinsatzes.
Nicht zuletzt derartige Ereignisse erklären das überlegte, aber nicht überschießende Vorgehen der USA (Strategie "Boiling the Frog") gegenüber Russland. Es ist daher durchaus schlüssig, dass die USA mit dem durch die Ukraine ausgeführten Angriff auf die Voronezh-DMs in Armawir Russland zeigen möchte, dass man die unerträgliche Situation der russischen Drohungen mit Atomwaffen nicht länger akzeptieren möchte.
Ist dies tatsächlich der Fall, lassen sich zwei weitere Feststellungen treffen. Erstens ist die Lage in der Ukraine überaus ernst und zweitens der Krieg um die Ukraine ist neuerlich eskaliert.
Es bleibt nun abzuwarten, wie oder ob Russland auf diesen Angriff auf seine nukleare Abschreckungskapazität reagiert. Das russische Frühwarnerkennungssystem ist Teil der nuklearen Abschreckungsstrategie des Landes.
Der Angriff auf Armavir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten. Hinzu kommt der Umstand, dass eine mögliche Zusammenarbeit Russlands mit seinen engen Verbündeten im Raum eingeschränkt wurde, zum Vorteil von engen Partnern der USA.
Vielen Dank für das Gespräch.