Europa nach der KFOR

Die "Ethik von 1945" ist zurückgekehrt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Ethik von 1945 ist zurückgekehrt. Wieder einmal werden US-amerikanische und englische Truppen als Befreier in Europa von einer Bevölkerung gefeiert, die Angst um ihr Leben hatten. Die Linke in Europa kann sich nicht mehr hinter der Entschuldigung verstecken, daß die NATO-Strategie nicht funktionieren würde. Sie hat funktioniert. KFOR ist in das Kosovo siegreich eingerückt und hat die Greueltaten der Serben beendet, ohne einen einzigen Soldaten zu verlieren. Die NATO-Unterstützer würden behaupten, daß der Widerstand gegenüber dem Einmarsch der US-Truppen in das Kosovo so ähnlich sei wie ein Widerstand gegen den Einmarsch der US-Truppen in Dachau. Das stimmt. Ist es also nicht Zeit für Europa, die Ethik von 1945 wieder aufzunehmen?

Der Kosovo-Krieg hat Europa mehr verändert als "1989". Wenn man das verstehen will, dann sollte man sich Tony Blair 1989 als Bundeskanzler in der BRD vorstellen: monatelanges Bombardement der DDR, Tausende von Toten, die Infrastruktur zerstört, Fernsehsender bombardiert, kein Wasser und keinen Strom, Wolken von giftigem Gas aus brennenden chemischen Fabriken, Angriffe mit Spezialbomben auf Panko und die Normannenstraße und schließlich der triumphale Einmarsch der NATO-Truppen in Leipzig und Ostberlin, die von jubelnden und hungrigen Menschenmassen begrüßt werden.

Das Post-KFOR-Europa ist ein Europa des aggressiven und überzeugten Liberalismus und Neoliberalismus. Man wartet nicht mehr auf friedliche Revolutionen: jetzt setzt das Militär die Demokratie durch. Und das ist kein Widerspruch. Die Demokratie kam in Europa historisch nicht "vom Volk". Im Unterschied zu den ursprünglichen Demokratien wurde sie von außen aufgezwungen. Demokratien führen selten Krieg miteinander, sondern sie probieren die "demokratische Eroberung" von Nichtdemokratien aus. Die neoliberalen demokratischen Marktwirtschaften können dies jetzt in Europa ohne Opposition machen.

Folglich ist Kosovo "1945" und nicht 1989. Zumindest Daniel Goldhagen sieht dies deutlich. In seinem Artikel A New Serbia schlägt er für Serbien vor, was die USA mit Westdeutschland machte: die Durchsetzung der liberalen Marktwirtschaftsdemokratie über die militärische Besetzung. Die Bilder aus dem Kosovo verstärken die Analogie mit 1945. NATO-Soldaten standen neben den verbrannten Leichen der Opfer von Massakern, NATO-Soldaten wurden durch jubelnde Menschenmassen begrüßt.

Der große Unterschied besteht darin, daß es nur noch eine Befreiungsmacht gibt, die nur eine Ideologie mit sich bringt. 1945 schickte Stalin 5 Millionen Soldaten in die Schlacht gegen Deutschland. 1999 sandte Rußland 200 Soldaten nach Pristina, die britische Soldaten um Wasser anbettelten. Die NATO kann überzeugt behaupten, in Kontinuität mit den "Befreiern von 1945" zu stehen - und natürlich sagten eben dies Joschka Fischer, Tony Blair, Robin Cook und Rudolf Scharping. Niemand anderes kann eine Anerkennung als Befreier für sich beanspruchen: die NATO hat die Kosovo-Albaner gerettet, die NATO ganz alleine.

Jetzt also haben wir ein Europa, in dem führende Politiker wie Tony Blair glauben, daß sie ein moralisches Recht besitzen. Sie betrachten ihre Ideologie nicht mehr als eine politische Position, sondern als eine absolute Moral. Sie sehen die Marktwirtschaftsdemokratie vielleicht nicht als das absolute Gute an, zumindest aber als die Antwort auf das absolute Böse. Sie identifizieren ihre Gegner zunehmend mit den Verteidigern von Diktaturen und Greueltaten oder einfach mit Nazis. Die Regierungen der demokratischen Marktwirtschaften werden immer weniger dadurch legitimiert, daß sie den Willen des Volkes verkörpern, sondern immer stärker durch die Behauptung "Wir oder Auschwitz!". Die Atlanta Jewish Times gab für die wiederholten Vergleiche zwischen dem Kosovo und dem Holocaust die beste Erklärung: "Warum der Vergleiche mit dem Holocaust? In einer Welt des moralischen Relativismus ist der Holocaust zum Symbol für das absolute Böse und daher zum Fundament für alle Werte geworden."

Nicht nur regierende Politiker, sondern die Mehrheit der Westeuropäer glaubt, daß die Gesellschaft, in der sie leben, eine Antwort auf das absolute Böse ist. Ihre Regierungen sind bereit, für diesen Glauben zu töten, und die Mehrheit sieht das als gerechtfertigt an. Welcher Staat könnte eine bessere Legitimation haben? Gibt es einen besseren politischen Triumph als den von Tony Blair: militärisch einen Industriestaat zu besiegen, ohne einen Soldaten zu verlieren, mehr als eine Million Menschen zu retten und im Triumph in den Kosovo unter den Augen der Weltöffentlichkeit einzumarschieren?

Die Gegner des Krieges äußerten hingegen nur Dummheiten. Einige zogen sich auf die Verteidigung des Nationalstaates und der staatlichen Souveränität zurück. Andere versuchten es mit dem Gegenteil: sie klagten, daß die NATO nicht die Tibetaner oder andere bedrohte Minderheiten verteidigt hat. Doch seit die NATO entdeckt hat, daß man mit neuen Techniken große Armeen ohne Verluste an eigenen Menschen besiegen kann, wird die NATO das vielleicht auch machen. Mit einer in der Geschichte einzigartigen militärischen Überlegenheit wird die Versuchung groß sein, ein "anderes Kosovo" zu inszenieren. In Afrika gibt es viele sezessionistische Bewegungen, die freudig eine Unterstützung durch die USA begrüßen würden. Ein Bombardement, die Befreiung durch US-Truppen, jubelnde Menschenmassen, ein neuer pro-westlicher Verbündeter. Es ist dumm und inkonsistent, gegen die Intervention zu argumentieren, indem man weitere Interventionen verlangt.

Die Hoffnung auf eine dritte Kraft stellte sich auch als Illusion heraus. Der Krieg zeigte, daß die Opposition in Serbien keine "Alternative" zu Milosevich und der NATO war. Sie wurde einfach zu einem Instrument der NATO. Im KFOR-Protektorat wird sie ein Instrument der OSZE sein. Besonders die sogenannten "unabhängigen Medien" sind vollständig daran gescheitert, eine dritte Kraft darzustellen. Innerhalb von Wochen sendete Radio B92, der Lieblingssender westlicher Intellektueller und Künstler, von einem NATO-Flugzeug. Die Zeitung Koha Ditore von Pristina wurde einfach von der britischen Regierung aufgekauft, nachdem die Angestellten nach Albanien geflohen sind.

In Westeuropa selbst waren die Anti-Kriegsproteste klein und hatten keinen Einfluß auf den Krieg. Ein Teil der Friedensbewegung unterstützte die NATO. Und obgleich Westeuropa eine große und komplexe "Zivilgesellschaft" besitzt, übte auch diese keinen Einfluß auf das Geschehen aus. Sie ist keine Alternative zur demokratischen Marktwirtschaft, sondern ein Teil von ihr. Jeder, der dachte, daß der Verkauf von Greenpeace-T-Shirts Kriege verhindert, wurde enttäuscht. Und jeder, der dachte, daß grüne Parteien Kriege verhindern, wurde noch mehr enttäuscht.

Es erstaunt also nicht, daß "Europa" gedemütigt wurde. Niemand hält es für ungewöhnlich, daß das FBI Ermittlungen über die Massengräber im Kosovo durchführt. "Europa" kann keine Alternative für Massenmörder oder für ihre Bestrafung anbieten. Es wurde auf eine Kolonie mit amerikanischen Polizeioffizieren und amerikanischen Richtern in englischsprachigen Gerichtshöfen reduziert - ein in vielen Bereichen der Gesellschaft und der Kultur sich wiederholendes Beispiel. Jedenfalls gibt es keine unabhängige Entität "Europa". Es gibt Nationalstaaten, die entweder Verbündete der USA sind oder finanziell von Verbündeten der USA abhängen. In einigen Ländern besteht die "Politik" aus der Regierung und der Soros-Stiftung. Die einzigen politischen "Alternativen", die eine große Unterstützung besitzen, sind nicht attraktiv: der ethnische Nationalismus, die kulturellr Rückwendung wie beim Panslawismus, die religiös-konservative Ablehnung der Konsumgesellschaft oder der radikale Fundamentalismus der islamischen Migranten. Folglich ist es keine Überraschung, wenn Neoliberale wie Bodo Hombach und Peter Mandelson die Zukunft Europas gestalten können. Bevor Mandelson wegen eines Finanzskandals zurücktrat, begannen sie das Manifest zu schreiben, das jetzt von Tony Blair und Gerhard Schröder veröffentlicht wurde: Europa: The Third Way/Die Neue Mitte

Der Ausblick auf die nächsten Jahre ist eine Kombination aus einer zunehmend radikaleren neoliberalen Rekonstruktion, zunehmend konformistsichen und marktorientierten Gesellschaften, liberalem Expansionismus in Osteuropa durch das Militär oder durch die Androhung militärischer Gewalt, einer Festlegung der Zahl der Staaten und ihrer Grenzen durch die USA, der Integration osteuropäischer Staaten in die EU als zweitrangige und von Hilfe abhängige Mitglieder, der Konsolidierung der politischen Macht in Europa in den Händen einer englischsprachigen Elite, einer Unterschicht, die ganz aus dem politischen Prozeß ausgeschlossen ist, der Ausbildung der Identität eines nach rückwärts blickenden "Europamuseums", der Akzeptanz des anglo-amerikanischen Liberalismus als der Grundlage der politischen Ethik, dem Beginn einer europäischen Verfassung, die nach der amerikanischen Verfassung formuliert wird - und all dies ohne ernsthafte Opposition. Solange die Mehrheit in Europa denkt, daß dies die einzige Alternative zu Hitler, Gaskammern, Massengräbern und Vergewaltigungscamps ist, wird dieser Trend nicht enden und wird es keine Innovation geben.

Wie steht es nun mit dieser schrecklichen Entscheidung? Der Einmarsch der US-Truppen in ein Konzentrationslager im Jahr 1945 kann ebensowenig als "Befreiung" beschrieben werden wie die "Befreiung" des Kosovo durch die NATO. Sie kamen nicht, um die "absolute Freiheit" zu bringen, wenn es so etwas überhaupt gibt, sondern um ein politisches, soziales und ethisches System in Westeuropa einzuführen. Es war keine "fremde" Kultur, da sie im europäischen Denken entstanden ist. Zunächst wurde Deutschland aus dem Plan ausgeschlossen, nachdem jedoch der Kalte Krieg einsetzte, wurde es mit einbezogen. Entscheidend ist, daß die USA und ihre Verbündeten dieses System nach Europa brachten, um Hitlers Europa zu ersetzen. Auch wenn die Europäer nicht im Sinne einer "absoluten Freiheit" befreit wurden, so gab es 1945 eine historische Entscheidungsmöglichkeit. Jetzt steht man ähnlichen Entscheidungen gegenüber.

Wofür würden Sie sich entscheiden: für Tausende von Gefangenen, die in Dachau verhungert sind, oder für die freie Marktwirtschaft? Es ist sinnlos, darüber zu klagen, daß es keine dritte Option gibt. Die US-Armee bot keine dritte Option an. Wofür würden Sie sich entscheiden: für Massenmorde im Kosovo oder für die freie Marktwirtschaft? Es ist sinnlos, darüber zu klagen, daß man gerne eine dritte Option hätte. Die NATO bot keine dritte Option an. Wofür würden Sie sich entscheiden: für die Neue Mitte oder für Morde an Albaniern, die nicht von britischen Truppen beschützt werden? Es ist sinnlos, darüber zu klagen, daß Sie lieber eine dritte Option hätten. Tony Blair bot keine dritte Option an.

Wie Sie habe ich keine Macht. Wie Sie kann ich nicht darüber bestimmen, welche Entscheidungsmöglichkeiten mir angeboten werden. Ich kann auf die Fragen nur mit Ja oder Nein antworten. Während des Kosovo-Krieges dachte ich über die Fragen nach und kam zu folgenden Antworten:

  1. Ich würde keine freie Marktwirtschaft in Europa akzeptieren, um Tausende von Gefangene vor dem Verhungern in Dachau zu retten.
  2. Ich würde keine freie Marktwirtschaft in Europa akzeptieren, um Massenmorde im Kosovo zu verhindern.
  3. Ich würde mich der Umsetzung des neoliberalen Hombach/Blair/Schröder-Manifestes "Europa: The Third Way/Die Neue Mitte", selbst wenn dies bedeuten würde, daß eine gewisse Anzahl von Albaniern im Kosovo stirbt.

Ich habe schließlich niemanden in ein Konzentrationslager gebracht. Ich habe keine Albaner erschossen. Ich habe meine moralische Verantwortung gegenüber den Opfern erfüllt, indem ich mich nicht der SS oder den serbischen paramilitärischen Gruppen anschloß. Ich habe keine "zusätzliche" moralische Verpflichtung, für Tony Blair oder Gerhard Schröder zu stimmen, ihre Politik oder die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa zu unterstützen. Wenn dieser Planet nur neoliberal oder faschistisch sein kann, dann ist eine zynische oder gleichgültige Moral das Beste. Wenn Sie ein weiteres Massengrab im Fernsehen sehen, dann fragen Sie sich einmal: "Durch welche Logik verpflichtet mich dies, die Gesellschaft, in der ich lebe, zu unterstützen?"

Wenn die US-Truppen, die Dachau befreit haben, oder wenn die KFOR im Kosovo das perfekte Gute und eine gerechte Welt mit sich gebracht hätten, dann gäbe es vielleicht eine gewisse Verpflichtung, ihre Aktionen zu unterstützen. Doch weder der freie Markt noch eine andere Form der liberalen Gesellschaft ist gut, geschweige denn vollkommen. Daher sind trotz aller solchen Ansprüche keine moralischen Verpflichtungen darin enthalten. Letztlich ist ein politischer Bluff, für eine politische und soziale Ordnung durch den Verweis auf Greueltaten Unterstützung zu fordern, so entsetzlich diese auch sein mögen. Die "Ethik von 1945" ist eine schockierende Propaganda über schreckliche Geschehnisse, aber sie ist eine Propaganda. Als Politik ist das alles jedoch sehr erfolgreich, und besonders Tony Blair und Joschka Fischer sind sehr kluge Politiker. Aber sie haben, so klug sie auch sein mögen, keine Antwort, wenn man ihren Bluff beim Namen nennt. Versuchen Sie das doch einmal.