Fabelhafte Intelligenz

New Rules for the New Economy: Im Dezember 97 ließ Rewired Redakteur David Hudson Autoren zu den von Kevin Kelly aufgestellten "neuen Regeln für eine neue Ökonomie" Stellung beziehen. Stück für Stück werden diese Regeln auseinandergenommen. Telepolis präsentiert eine Auswahl der besten Texte, die in diesem Kontext entstanden sind. Im folgenden David Hudsons Einleitungstext.

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Im Septemberheft des Magazins 'Wired' warnt Chefredakteur Kevin Kelly im Begleittext seiner 'New Rules for the New Economy':

"Diejenigen, die sich nach den neuen Regeln richten, werden gedeihen - die übrigen nicht."

Das ist entweder ein Rückfall in frühere, aggressive und elitärere Zeiten des Magazins 'Wired' - in denen "the Wired Ones" als unaufhaltsame Gipfelstürmer dargestellt wurden, die die "tired" Schlaffis mit einer Hand lässig abtropfen lassen - oder es ist reine Marketing Strategie, nicht mehr und nicht weniger. Kaufe, Lese, Handle und Gedeihe.

Der Untertitel des Artikels lautet: "Zwölf abhängige Prinzipien, um in einer turbulenten Welt nach oben zu kommen." Das klingt sehr nach einer lukrativen Idee für ein Buch, das 'How-To-...' Techniken mit der momentanen Welle an spirituell angehauchten Theorien verbindet. Und in der Tat wurde die Idee auch schon für 420,000 US Dollar an den Mann gebracht. Zählt man die Urheberrechte für den ausländischen Vertrieb dazu (Deutschland ist schon unter Dach und Fach), so sieht man die wirtschaftliche Seite des Verlagsgeschäfts. Diese Ideen werden unter uns weilen, was immer sie Wert sein mögen.

Es macht also Sinn, sie auf den Prüfstand zu bringen. REWIRED hat sich die Mühe gemacht, eine Gruppe von Redakteuren, Wirtschaftswissenschaftlern und Kritikern zusammenzubringen und Antworten zu ein paar grundlegenden Fragen zu suchen. Sollte Jason Pontin, Redakteur von 'Red Herring' richtig liegen, wenn er behauptet "Es gibt keine New Economy," kann Kevin Kelly immer noch seine Stellung halten? REWIRED hat sich seit Anfang Dezember täglich eine der Regeln zur Brust genommen.

Betrachten wir zunächst jedoch den Kontext. Mit seiner ersten Regeln, "the Law of Connection", liefert Kelly den Slogan gleich mit: "Embracing dumb power" (Gesetz der Verschaltung: Vereinnahme stupide Kräfte) und führt dies aus:

Ein PC läßt sich als einzelnes Neuron betrachten, das in einem Plastikgehäuse sitzt. Werden diese in einem Telekosmos miteinander zu einem globalen Netzwerk verschaltet, so bildet sich aus diesen stupiden PC-Knoten die fabelhaft Intelligenz, die wir World Wide Web nennen.

Kevin Kelly

Vielleicht verweist Kelly dabei auf die Intelligenz an Phrasen und Tagebüchern, Bots, zweitverwerteten Nachrichten aus News-Tickern und Magazinen, Girlie Cams und Webcasting und benennt dies als "fabelhaft" - in einer buchstäblichen Bedeutung...

Erreicht diese Verschaltung genügend Aktivität, entsteht Bewußtsein - vergleichbar mit Athene, die vom Rücken des Zeus springt.

Jeder, der mit Kellys Kelly's Out of Control vertraut ist (und wer dies nicht ist, kann hier anfangen), erkennt das Vertrauen in die Entwicklung intelligenter Systeme aus stupiden PCs wieder. Die Grundlage für diesen Vertrauensvorschub ist die Überlegung, daß menschliche Intelligenz sich aus dem Netzwerk stupider Neuronen herleitet. Erreicht diese Verschaltung genügend Aktivität, entsteht Bewußtsein - vergleichbar mit Athene, die vom Rücken des Zeus springt.

Sehen wir momentan mal darüber hinweg, daß bis jetzt niemand weiß, wie menschliche Intelligenz überhaupt funktioniert, so müssen wir uns trotzdem wundern, daß dieses Argument von einem bekennenden 'Born Again Christian' kommt. Wo bleibt die Seele, wundert man sich, oder zumindest der Glaube an Individualität? William Grassie, Theologe an der Temple University, hat versucht die Teile des Puzzles in seinem Artikel "The Nine Laws of God: Kevin Kelly's Out of Control Techno-Utopic Program for a WIRED World" zusammenzufügen.

Wie viele, allerdings nicht alle der Beitragenden zu dieser Serie gibt Grassie zu, daß "Kelly ein brillanter Intellektueller und ein begabter Schreiber" ist. Dahinter jedoch "zeigt sich, daß er sich durch und durch zu einer Art sozialdarwinistischer, laissez faire, sozial techno-evolutionären Non-Politik bekennt", einer potentiell katastrophalen Formel in einer Welt des wirtschaftlichen Aufschwungs auf einem Planeten, der von globaler Erwärmung, Löchern in der Ozonschicht, Giftmüll, radioaktiver Strahlung und anderen substantiellen Problemen befallen ist.

Sozialdarwinistische Ansichten sind nicht neu, es handelt sich gleichzeitig nicht einfach um eine kategoriale Zuordnung. Solche Ansichten lassen sich auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Steven Johnson hat kürzlich in FEED darauf hingewiesen, daß darwinsche Metaphern momentan nur zu gerne und mit Leichtigkeit in die Runde geworfen werden. Ob sich Kellys Ideen einfach in die Peripherie des Diskurses, in das Gebiet der Bionomics einordnen ließen, bleibt zu diskutieren. Richard Barbrook beschreibt in seiner Besprechung von 'Out of Control', The Pinnochio Theory, daß Kellys Grundgedanken mit sozialdarwinistischen Ansichten deckungsgleich sind, in anderen Worten:

"Die 'unsichtbare Hand' der Marktwirtschaft und die blinden Kräfte der Darwinschen Evolution sind ein und dasselbe."

Hundert Jahre amerikanischer Vorherrschaft [wurden] im Bereich industrieller Produktion von Japan und anderen asiatischen 'Tigern' abgelöst.

Barbrook liegt in vielem richtig, ein oder zwei Jahre später sehen wir, daß er in vielem daneben liegt. Indem er Kellys Ideen als typisch amerikanisch beschreibt, versucht Barbrook sie zu entkräften, indem er das Schwinden der amerikanischen Vormachtstellung feiert. Vor nicht all zu langer Zeit sah es wirklich danach aus, daß "Hundert Jahre amerikanischer Vorherrschaft im Bereich industrieller Produktion von Japan und anderen asiatischen 'Tigern' abgelöst wurden." In letzter Zeit ließ sich jedoch beobachten, wie diese Tiger einige Krallen lassen mußten und die Realität des tsunami Japan heimsuchte - Barbrooks Party ist einstweilig verschoben.

Jeder der ein Auge auf Brüssels Politiker wirft, sieht wie diese mit dem Euro und allem was sie sonst noch in die Finger kriegen hadern, muß gestehen, daß Barbrooks Ansicht, daß die U.S.A. als "Zentrum der Demokratie durch die Vereinigung Europas abgelöst wurde" so nicht zu beobachten ist. Die Wahrheit ist, daß Amerika zunehmend an Dominanz in wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen gewinnt. Geschäftsmänner, die nach Jakarta oder St. Petersburg aufbrechen bringen alle dieselbe Botschaft, die William Greidler als "The Manic Logic of Global Capitalism" beschreibt - folge oder verliere.

Kellys Beharren, daß die Welt ihre Netzwerke öffnen soll und das Chaos umarmen, klingt in den U.S.A. anders als außerhalb. Viele empfinden bei der Idee,stupide Technik zu vereinnahmen, einen Verlust der eigenen kulturellen Identität und die Notwendigkeit zu einem gehorsamen Bürger zu verkommen - im Sinne von Benjamin Barbers "Mc World."

Globalisierung ist eines der wichtigsten Themen unserer Zeit und 'Wired' Magazin hat eine spezielle Position dieses Thema auszuleuchten. Man hört, daß 'Wired' sich weiter öffnen will und die vielen diversen Stimmen zulassen möchte, die nach Meinung der extremsten Technoliberalisten durch die politischen und wirtschaftlichen Realitäten des zum Mainstream verkommenen Internets verstummt sind. Die Zukunft des Magazins könnte vielleicht wirklich zu einer allumfassenden, wenn auch abgerundeten Reflexion unserer nahen Zukunft führen.

Gleichzeitig scheint vieles dessen, was der Chefredakteur feststellt, schon beobachtbare Realität zu sein. Der 'Mix' (churn), den Kelly zum Beispiel in Gesetz 11 beschreibt, die Abkehr von der Idee der 'Karriere' in einer Zeit in der Arbeiter und Angestellte nomadische Wanderer von Kurzzeitvertrag zu Gelegenheitsarbeit werden. Protestlose Zugeständnisse an solche Abstriche werden diejenigen, die Kinder zu ernähren und Kredite abzuzahlen haben, allerdings nur ungern machen.

Was nach wie vor in 'Wired's Hochglanz und Kellys abstrakter Analyse fehlt, ist die menschliche Sicht auf die Technologie, die unsere Welt verändert. Klammert man Bürger aus der Gleichung aus, fällt es nur zu leicht das Chaos zu propagieren. Ein gutmütigeres, sanfteres 'Wired' läßt sich vielleicht absehen, allerdings muß man schon genauer hinhören, wenn schlechte Ideen nicht mehr marktschreierisch daherkommen.

David Hudson

Die englische Fassung dieses Artikels auf Rewired.

Regel 1, "Gesetz der Verschaltung: Vereinnahme 'dumb power'"
Regel 2, "Das Gesetz der Reichhaltigkeit"
Regel 3, "Prophezeiungen im ausgehenden 20. Jahrhundert und 'New Economy'"

Aus dem Englischen übersetzt von Micz Flor