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Fakten und ihre Einordnung: Was Ansichtssache ist und was nicht

Die Publizistin Hannah Arendt starb 1975, konnte die "Querdenker"-Bewegung nicht kennen und schrieb ihr dennoch gewissermaßen ins Stammbuch. Foto: Murray Buckley / CC0 1.0

Der Streit um Tatsachenwahrheiten führt oft zu nichts. Hannah Arendt hat in "Wahrheit und Politik" erklärt, warum (Teil 2 und Schluss)

Teil 1: Fake News und die Erosion der Fakten: Tatsachen und Meinungen im Widerstreit [1]

Welche Rolle spielen die Tatsachenwahrheiten, das heißt Fakten, für die Meinungen? Die Tatsachenwahrheiten geben der Meinung ihren Gegenstand vor und halten sie in Grenzen, damit sie nicht ins Fantastische ausufert. Hannah Arendt (1906 - 1975) spricht in "Wahrheit und Politik" bezüglich der Tatsachenwahrheiten von einer "eigentümlichen Undurchsichtigkeit". Man kann nicht schlüssig sagen, warum es so ist, wie es ist. "Jedes Ereignis, jedes Geschehnis, jedes Faktum könnte auch anders sein, und dieser Kontingenz sind keine Grenzen gesetzt."

Tatsachenwahrheiten, also Fakten, sind eher zufälliger Natur. Das unterscheidet sie von Vernunftwahrheiten, die "zwingende Evidenz besitzen". Tatsachenwahrheiten umfassen die menschlichen Angelegenheiten, Vernunftwahrheiten die ewigen Dinge. Deshalb hat es die Philosophie lange abgelehnt, sich mit diesen menschlichen Dingen, dem "trostlosen Ungefähr" (Kant) zu beschäftigen. Ein weiterer Grund für die relative Instabilität von Tatsachenwahrheiten besteht darin, dass sie nur in der Vergangenheit rückblickend als gegeben gelten können.

Politisches Handeln, das auf die Zukunft gerichtet ist, hat mit Tatsachen nichts zu tun, da es diese Tatsachen der Zukunft eben noch nicht gibt. Wie der Name schon sagt: Tatsachen sind Sachen, die getan sind. Handlungen indes können so oder so ausfallen. Jede Tat wird eine Tatsache erzeugen. Diese erkennen wir aber erst im Nachhinein. Da Tatsachen mithin genauso wenig evident sind wie Meinungen, ist es möglich, "Tatsachenwahrheiten dadurch zu diskreditieren, dass man behauptet, sie seien eben auch Ansichtssache" (S. 65).

Dies findet man sehr oft in der Politik und insbesondere in den Diskussionen um die Corona-Maßnahmen. Der Streit darüber, ob diese Viruserkrankung gefährlich oder harmlos ist, oder ob etwa ein Mundschutz die Ansteckungsgefahr verringern kann oder nicht, wird zwar über Fakten ausgetragen, das heißt, man führt zahlreiche Messdaten, wissenschaftliche Untersuchungen oder die Aussagen von populistischen Kommentatoren ins Feld.

Man gibt sich also den Schein einer Faktizität. Aber die Selektion und die Bewertung der Fakten stützt nur die eigene Meinung und die Fakten werden sogar allzu oft behandelt, als seien sie Meinungen, wenn sie nicht sowieso verbogen werden. Ein schlagendes Beispiel ist die aufflammende Diskussion um die Anzahl der Teilnehmer an der "Tag der Freiheit"-Demonstration am 1. August 2020 in Berlin. Polizei und offizielle Stellen sprechen von 20.000 Teilnehmer:innen, die Veranstalter von 1,3 Millionen.

Es ist geradezu absurd, wie weit hier die Zahlen auseinanderliegen, und es wird offensichtlich, dass es hier gar nicht mehr um das Faktum, sondern um Macht und die Meinung im Sinne der politischen Überzeugung geht. Meistens handelt es sich bei den umstrittenen Fakten jedoch um feinere Unterschiede. Dann tritt die dahinterliegende Komponente nicht so deutlich zutage. Sobald also eine Tatsachenwahrheit den Meinungen und Interessen im politischen Bereich entgegensteht, ist sie mindestens so gefährdet wie irgendeine Vernunftwahrheit.

Meinungen

Deshalb ist es meines Erachtens müßig, im politischen Bereich über Tatsachen zu streiten. Es geht um die Meinungen und die Interessen. Der ganze Schlagabtausch von Fakten und "alternativen" Fakten ist Augenwischerei. Wir werden unseren Gegner niemals durch unsere Fakten und Argumente überzeugen können, genauso wenig wie sie uns. Viel wichtiger ist es deshalb, die hinter den Argumenten liegenden Grundthesen beziehungsweise die hinter den Fakten liegenden Meinungen herauszuarbeiten und zu offenbaren.

Wir müssen herausfinden, welche Grundtheoreme eine Person oder eine Gruppe ihren Argumentationen zugrunde legt. Dann wissen wir auch, um was es geht. Das ganze Hin und Her der Argumente und Fakten wird also bei sehr stark überzeugten Protagonisten zu keiner Veränderung ihrer Meinung führen. Allerdings können Argumente und Fakten bei Menschen wirken, die sich ihre Meinung noch nicht gebildet haben, da in einem realen und vernünftigen Diskurs die Tatsachenwahrheiten die Entscheidungsgrundlage sind.

Außerdem sollten wir in einer gesellschaftlichen Diskussionen so lange wie möglich diese Haltung der Offenheit beibehalten, in der wir keine dezidierte Meinung vertreten, um wirklich den Tatsachenwahrheiten und den Argumenten ausreichend Raum geben zu können, damit sie ihre Wirkung entfalten können.

Vertrauen

Neben diesen Grundüberzeugungen, die hinter den Fakten stehen, gibt es noch eine andere Kategorie, die unserer Ebene der faktischen Argumente vorangeht und sie bestimmt: das Vertrauen. Wenn wir die Frage der Fakten stellen, müssen wir oft zugeben, dass wir es nicht so genau wissen. Sei es, dass die Faktenlage wissenschaftlich sehr anspruchsvoll ist, zum Beispiel in der Frage, wie ein Virus biologisch und epidemiologisch funktioniert, oder sei es, dass die Beweiskraft der Tatbestände strittig ist, weil zum Beispiel Zeugen oder Dokumente nicht vertrauenswürdig sind.

Für den Fall, dass wir es nicht genau wissen, bleibt uns letztendlich nur das Vertrauen in Autoritäten, denen wir glauben, dass ihre Aussagen wahr sind. Um also herauszufinden, durch was eine bestimmte Partei motiviert ist, macht es Sinn, sich anzuschauen, wem diese Menschen vertrauen bzw. misstrauen.

Gefährlicher Blanko-Vertrauensvorschuss für "alternative Medien"

Bei den Corona-Maßnahmen-Gegner:innen finden wir ein großes Misstrauen in die Regierung und die Leitmedien, das dazu führt, dass allen Informationen, die von der Regierung und den an ihr orientierten Medien kommen, misstraut wird. Man beruft sich auf "alternative Medien", die einen Blanko-Vertrauensvorschuss bekommen, einfach weil sie die Opposition sind. Misstraut man den sogenannten Mainstream-Medien in einem fundamentalen Maße und glaubt überhaupt nichts, was von ihnen kommt, so vertraut man umgekehrt den alternativen Medien vollumfänglich und glaubt alles, was sie sagen.

Auch hier wird deutlich, dass sich das Urteilsvermögen nicht entlang der Fakten, sondern entlang der Meinungen organisiert. Wenn das Wissen nicht ausreicht, behelfen wir uns mit Glauben. Fatal ist nur, dass unwissende Menschen annehmen, dass es mit dem Glauben getan sei.

Ist es überhaupt sinnvoll, mit der Wahrheit im Bereich der Politik anzutreten? Hannah Arendt macht deutlich, dass "die philosophische Wahrheit den Menschen im Singular betrifft » und sie deshalb "ihrem Wesen nach unpolitisch" (S. 68) ist. Es ist deshalb nicht förderlich, den Versuch zu unternehmen, die Wahrheit im Widerstreit der Meinungen zur Geltung zu bringen. Der Philosoph wird immer versuchen, interesselos zu schauen. In der Politik geht es jedoch um handfeste Interessen und um das Gemeinwohl, das ebenso interessengeleitet ist.

Der Philosoph, der sich in den Kampf der Meinungen und Mächte einlässt, degradiert auf jeden Fall seine Wahrheit zu einer bloßen Meinung, einer Ansicht unter vielen möglichen und wirklichen Ansichten.

(Hannah Arendt: Wahrheit und Politik / Wahrheit und Lüge in der Politik, Piper, 2019, S. 68f.)

Irrtum und Lüge

Während der Gegensatz zur Vernunftwahrheit der Irrtum ist, ist der Gegensatz zur Tatsachenwahrheit die bewusste Unwahrheit oder Lüge. Tatsachenwahrheiten sind sehr spezifisch, denn sie beziehen sich auf das, was ist. Sie sind, was sie sind. Ein Tatbestand ist zum Beispiel, dass Deutschland im August 1914 in Belgien einmarschiert ist. Ein solcher Tatbestand ist an sich nicht politisch. Er erhält eine politische Bedeutung erst, wenn man ihn mit einem bestimmten Interesse verknüpft.

Die gegenteilige Aussage - Belgien fiel in Deutschland ein - wäre indes von vornherein politisch. Sie wäre eine politische Handlung, weil sie die Vergangenheit verändern will. Wir begegnen diesem Sachverhalt der Geschichtsfälschung oder Geschichtsmodifizierung in den politischen Lagern permanent. Will man zum Beispiel die Frage klären, welche Rolle die Sowjetunion im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs gespielt hat, gibt es dazu definitiv einen Tatbestand, denn es sind mit Sicherheit bestimmte Handlungen geschehen, die bestimmte Folgen hatten.

Viel schwieriger ist es jedoch, diesen Tatbestand in seiner reinen Objektivität, wie es denn gewesen ist, herauszufinden. Die Interessen der US-Regierung und der mit ihr verbündeten Staaten, die unter anderem darin bestehen, das heutige Russland zu schwächen, dürften die Tatsachenbehauptungen in eine Richtung bewegen, die ihren Zielen nützlich ist. In gleicher Weise dürften die Darstellungen vonseiten Russlands und Putins entsprechenden komplementären Interessen nützen.

Einem möglichst objektiven Beobachter ist es deshalb anzuraten, alle Seiten in den Blick zu nehmen. Was jedoch sehr oft passiert, auch und gerade in den aktuellen Verschwörungserzählungen, ist Folgendes:

Das gleiche gilt, wenn der Lügner nicht über die Macht verfügt, seine Fälschung öffentlich als Wahrheit zu etablieren, und daher erklärt, dies sei eben seine Ansicht von der Sache, für die er dann das Recht der Meinungsfreiheit in Anspruch nimmt. Subversive Gruppen haben sich dieses Mittels häufig bedient, und in einer politisch ungeschulten Öffentlichkeit kann die daraus entstehende Verwirrung beträchtlich sein. Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen, ist eine der Formen der Lüge, die wiederum insgesamt zu den Modi des Handelns gehören.

(S. 73)

Damit diese Verwirrung nicht geschieht, ist es zwingend geraten, die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Meinungen klar und deutlich aufzuzeigen. Dies sollte zum Grundwissen in jeder politischen Debatte gehören. Die Verwischung der Trennlinie zwischen Tatsachen und Meinungen ist das Geschäft der Populisten, die damit eine Verunsicherung in der politischen Landschaft hervorbringen wollen. Ihr Hauptinteresse ist die Destabilisierung des Systems, um in dem daraus entstehenden Chaos die Unzufriedenheit der Menschen zu schüren und emotionale Affekte gegen das etablierte System aufzuwiegeln.

Wenn deshalb heute der Standpunkt vertreten wird, dass Meinungsfreiheit bedeute, nicht nur alles glauben zu dürfen, was man wolle, sondern dies auch als Tatsache proklamieren zu können, dann wird das Basisprinzip der Politik bereits ad absurdum geführt. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass man Meinungen zu Tatsachen umdeuten dürfte. Meinungsfreiheit bedeutet, dass jeder seine Meinung vertreten kann, und zwar unter anderem gerade deshalb, weil eine Meinung keine Tatsache ist. Um echte Meinungsfreiheit zur Geltung bringen zu können, ist es deshalb zwingend notwendig, klar zwischen Meinung und Tatsache zu unterscheiden.

Die Freiheit zu lügen

Hannah Arendt vertritt auch eine interessante Definition von Handlung. Da ich durch eine Lüge die Absicht habe, eine Tatsache zu verändern, ist dies eine Handlung, eine Einflussnahme auf die Wirklichkeit. Wenn ich jedoch die Wahrheit sage, verändere ich die Wirklichkeit nicht und nehme auch keinen Einfluss auf sie. Deshalb ist das Sagen der Wahrheit keine Handlung.

Wie also der Philosoph, der seine Wahrheit als herrschende Meinung etablieren möchte, sich um die Wahrheit bringt, weil diese zum Schluss nur noch eine Meinung ist, so bringt sich auch der Berichterstatter, der eine Information kundtun möchte, um seine Glaubwürdigkeit, wenn er diese in den Dienst von Interessen und Macht stellt. Man kann diesen Einfluss nehmen, indem man bestimmte Tatsachen betont und andere in den Hintergrund stellt, wobei man sich der politischen Künste des Überredens und Überzeugens bedient.

Unliebsamen Tatsachen wird dann ihre Kraft genommen, weil sie einfach durch den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit entkräftet werden können. Die Glaubwürdigkeit des Berichterstatters, der den Tatsachen und der Wahrheit verpflichtet ist, hängt gerade an seiner Unabhängigkeit und Integrität. In der politischen Sphäre ist dies jedoch anders. Hier wirkt der Anspruch, wahrhaftig zu sein, zweifelhaft.

Der Lügner wirkt hier paradoxerweise ehrlicher, weil er als politisch Handelnder immer schon die Absicht hat, die Dinge nicht so zu akzeptieren, wie sie sind. Er will etwas ändern und seine Ziele liegen auf einer anderen Ebene als die Wahrheit. "Was immer er sagt, ist nicht ein Sagen, sondern ein Handeln; denn er sagt, was nicht ist, weil er das, was ist, zu ändern wünscht." (S. 74)

Der Mensch ist in der Lage, zu lügen, und das ist bemerkenswerterweise auch das, was seine Freiheit verbürgt. Unsere Fähigkeit, zu lügen, und keineswegs unser Vermögen, die Wahrheit zu sagen, "bestätig[t] uns, dass es so etwas wie Freiheit wirklich gibt"(ebd.). Ist es auch die Freiheit, die uns das Lügen ermöglicht, so wird diese Freiheit zugleich durch das Lügen missbraucht und pervertiert. Der Politiker wird indes "immer dazu neigen, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen und mit Tatbeständen nach Belieben umzuspringen" (ebd.).

Wahrscheinlich kommen wir in der politischen Sphäre nicht ganz ohne das Lügen aus, denn das einfache Sagen dessen, was ist, dürfte die Menschen eher dazu veranlassen, sich damit abzufinden, dass die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind.

Wahrhaftigkeit ist nie zu den politischen Tugenden gerechnet worden, weil sie in der Tat wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat.

(S. 74f.)

Vielleicht kann man hier verstehen, warum die Gegner eines Systems die Lüge als politische Waffe verwenden, um gegen das System zu kämpfen. Dieses Phänomen dreht sich jedoch an einer Stelle um, nämlich wenn prinzipiell gelogen wird. Dann wird auch das einfache "Sagen was ist", das zuvor unpolitisch war, zu einer politischen Handlung.

Der Lügner indes, der Tatsachen frei erfindet, klingt unter Umständen einleuchtender und logischer als die Wirklichkeit, da er das Element des Unerwarteten - das eigentliche Merkmal aller Ereignisse - eliminiert. Er richtet sich einfach nach dem, was seinem Publikum gelegen kommt, oder nach dem, was zu erwarten ist.

Lüge und Verlogenheit

Was würde passieren, wenn die modernen Lügner sich nicht mehr mit Einzelheiten zufriedengeben würden, sondern den Gesamtzusammenhang umlügen und einen neuen Wirklichkeitszusammenhang anbieten? Es kann passieren, dass der Lügner so gut lügt, dass er am Ende sich selbst glaubt. Er wird vom Lügner zum Verlogenen. Je mehr er seiner Selbstlüge glaubt, umso überzeugender ist er.

In einem Streit über die Fakten, wo jeder den anderen des Lügens bezichtigt, mag dann der Verlogene den überzeugenderen Eindruck hinterlassen. "Wer sich selbst belügt und auf seine eigene Lüge hört, kommt schließlich dahin, dass er keine einzige Wahrheit weder in sich noch um sich unterscheidet." So steht es in Dostojewskis "Die Brüder Karamasow". Während der Lügner immerhin noch weiß, was die Wahrheit ist, die er entstellt, so ist bei dem Verlogenen die Wahrheit ganz verloren. "Um diese mögliche Endgültigkeit und Vollständigkeit, die früheren Zeiten unbekannt war, handelt es sich aber bei der organisierten Manipulation von Tatbeständen, der wir heute überall begegnen." (S. 80)

Das Resultat kann sein, dass sich ganze Nationen an Lügen statt an Tatsachen orientieren. Wenn dann die Informationen der Gegner oder der feindlichen Interessen nicht mehr akzeptiert werden, ist das nur noch ein kleiner Baustein in der Gesamtideologie. Zum Glück sind solche Manöver normalerweise nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt. In voll entwickelten Demokratien pflegen diese Dinge aufzufliegen. Deshalb braucht es hermetisch abgedichtete Systeme, die das Kriterium der Totalität erfüllen. Verschwörungstheorien arbeiten nach diesem Muster. Sie blenden alle widerstreitenden Informationen aus und unterliegen einer Binnenorientierung in ihrer Filterblase.

Ohne die Wahrheit verlieren die Menschen allerdings ihre Orientierung. In einem Klima der Verlogenheit, in dem "alternative Fakten" präsentiert werden, ändern die Menschen nicht einfach ihre Gesinnung, sondern sie entwickeln einen Zynismus, der sich weigert, irgendetwas als wahr anzuerkennen.

Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.

(S. 83)

Es ist in der Tat eine verheerende Konsequenz, wenn der menschliche Orientierungssinn vernichtet wird. Ganz abgesehen von moralischen Erwägungen oder religiösen Geboten, dass man nicht lügen soll, weil man dann in die Hölle komme, gibt es handfeste politische Konsequenzen. Mag die objektive Verlogenheit ursprünglich sich auf einen Gegner richten, der bekämpft werden soll, so richtet sich diese kognitive Verunsicherung bald schon nach innen auf die Gruppe selbst. Die Gruppe zersetzt sich dadurch selbst.

Der Sturz ins Bodenlose

Fakten sind einfach das, was sie sind. Sie sind einfach da. Ihnen liegt aber auch eine gewisse Beliebigkeit inne, denn alles, was geschieht, hätte auch anders kommen können. Damit ist der Lüge die Tür geöffnet und sie findet unbegrenzte Möglichkeiten vor.

Die Propagandafiktionen zeichnen sich dagegen stets dadurch aus, dass in ihnen alle partikularen Daten einleuchtend geordnet sind, dass jedes Faktum voll erklärt ist, und dies gibt ihnen ihre zeitweise Überlegenheit; dafür fehlt ihnen die unabänderbare Stabilität alles dessen, was ist, weil es nun einmal so und nicht anders ist. Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.

(S. 84)

Ist das Wirkliche obsolet geworden, dann gibt es keinen Punkt mehr, von dem aus man handelnd eingreifen könnte, um etwas zu ändern. Die tatsächliche Wirklichkeit wurzelt in der Vergangenheit, denn dort liegen die Tatsachen, die nicht mehr zu ändern sind. In der Zukunft liegen die Tatsachen, die es noch nicht gibt, und die durch Handeln noch zu schaffen sind.

Eine Lüge über die Tatsachen kann durch keine Macht die Sicherheit und Stabilität der tatsächlichen Wirklichkeit bieten. Macht ist ein politisches Motiv. Sie entsteht, wenn Menschen sich für ein bestimmtes Ziel zusammentun, und verschwindet, wenn dieses Ziel erreicht oder verloren ist. Sie kann die Wahrheit nicht ersetzen.

Die Einsamkeit der Wahrheit

Wer die Wahrheit vertreten will, positioniert sich außerhalb des politischen Bereichs und damit außerhalb der Gesellschaft. Obwohl innerhalb der Politik die Wahrheit nicht die Diskussion trägt, gibt es nichts, was sie ersetzen könnte. Sie ist ein essenzieller Bestandteil menschlicher Erfahrung. Die Position außerhalb der Gesellschaft ist immer ein Alleinsein.

Unter den existenziellen Modi des Alleinseins sind hervorzuheben die Einsamkeit des Philosophen, die Isolierung des Wissenschaftlers und Künstlers, die Unparteilichkeit des Historikers und des Richters und die Unabhängigkeit dessen, der Fakten aufdeckt, also des Zeugen und des Berichterstatters.

(S. 86)

Hannah Arendt macht darauf aufmerksam, dass diese Formen des Wissens und der Berufung auf das Alleinsein angewiesen sind und politisches Engagement, das Eintreten für eine Sache, ausschließen. Dies ist der Grund, warum die Wissenschaftler, die sich mit den wissenschaftlichen und medizinischen Aspekten der Corona-Pandemie beschäftigen, wie zum Beispiel Prof. Christian Drosten, sich explizit aus der politischen Entscheidungsfindung heraushalten. Unseriöse Verschwörungstheorien vermischen Wissenschaft und Politik.

Vermeintliche Wissenschaftler stellen politische Urteile und Forderungen aus, während andererseits Menschen ohne wissenschaftlichen Hintergrund angeblich wissenschaftliche Fakten als Meinungen in die politische Debatte werfen.

Die Dekonstruktion der Wirklichkeit

Der nicht-politische oder anti-politische Charakter der Wahrheit wird uns vor allen Dingen im Falle des Konflikts bewusst. Dies wurde bis hierhin behandelt. Es gibt jedoch bestimmte Institutionen, die zum öffentlich-politischen Bereich gehören und für die Wahrheit eingerichtet sind. Dazu gehören die Rechtsprechung und die Bildungsanstalten.

Es ist zum Beispiel die Rolle der Universitäten, die von ihrem Ursprung her ein Gegengewicht zur politischen Praxis darstellen sollten. Schon Platon hatte diesen Traum, mit der Akademie eine Gegengesellschaft zur Polis zu erschaffen. Sein Ideal vom Philosophenstaat hat sich niemals verwirklicht. Es gibt wohl auch kein geschichtliches Ereignis, wo Akademien oder Universitäten versucht hätten, die Macht zu ergreifen.

Aber woran Platon nie auch nur im Traum gedacht hat, ist Wirklichkeit geworden: die Mächte innerhalb des politischen Raumes haben eingesehen, dass sie einer Stätte bedürfen, die außerhalb des eigenen Machtbereichs liegt. Denn ob nun die Hochschulen formal privat oder öffentlich sind, die Lehr- und Lernfreiheit muss genauso vom Staat anerkannt und geschützt werden wie eine unparteiische Rechtsprechung.

(S. 87)

Die Verpflichtung zur Wahrheit und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung und der Bildungsanstalten ist also nicht nur eine moralische Forderung, sondern konstitutives Prinzip der Gesellschaft. Sie ist eine dialektische Notwendigkeit. Die Polis, also die per se politische Gesellschaft, braucht einen Raum des Unpolitischen, um zu existieren. Das sollte auch den Corona-bewegten Systemgegner:innen klar sein.

Wenn sie einerseits die akademisch anerkannte Wissenschaft als willfährige Dienerin des Systems verfemen und andererseits die kritischen Wissenschaftler:innen, die es natürlich in einer wissenschaftlichen Debatte immer gibt, für ihre politische Ideologie instrumentalisieren, verwischen sie diesen Unterschied und destabilisieren damit nicht nur das System - was ihre Absicht ist -, sondern sie destabilisieren auch die Wirklichkeit, was für alle Menschen und auch für sie selbst destruktiv ist.

Es ist diese Desorientierung in der Wirklichkeit, die wirklich Angst erzeugt. Dagegen ist die berechtigte Angst vor dem Virus nachgerade harmlos. Eine echte Gefahr berechtigt auch zu echter Angst. Diese echte Angst führt zu Wachsamkeit und Handlungsbereitschaft. Ideologische Angst hingegen ist eine illusionäre Angst, die keinen Handlungsimpuls zu implizieren vermag und deshalb zur Lähmung führt.

Generell halte ich die immer wieder zu hörende litaneienhafte Aufzählung von allen Übeln, die es in der Welt gibt, für kontraproduktiv. Man möchte damit die Menschen aufrütteln und einen moralischen Aufruhr erzeugen, damit sich dann etwas ändert. Die Negativität dieser Aufzählungen vermag aber meines Erachtens keinen positiven Handlungsimpuls zu erzeugen. Sie sind nicht lebensrichtig.

Das Narrativ

Wenn nun zum Beispiel Zeitschriften oder sonstige Medien die Aufgabe haben, Informationen zu verbreiten, das heißt über Tatbestände zu berichten, so bedeutet diese Nachrichtenvermittlung, dass hier im Sinne der Wahrheit kein Handeln und keine Entscheidungen impliziert sind. Dies ist die eigentliche Funktion der Presse, die von ideologisch gebundenen Zeitschriften verfehlt wird.

Gleichwohl ist die Wirklichkeit nicht allein die Summe aller Fakten. Wer sagen will, was ist, muss eine Geschichte erzählen, also diese Fakten so einordnen, dass sie einen Sinn ergeben. Die politische Funktion des Geschichtenerzählers wie des Geschichtsschreibers liegt darin, "dass sie lehren, sich mit den Dingen, so wie sie nun einmal sind, abzufinden und sie zu akzeptieren. Dieses sich Abfinden kann man auch Wahrhaftigkeit nennen; jedenfalls entspringt in der Gegend dieser Realitätsnähe die menschliche Urteilskraft." (S. 90)

Dies ist ein starker Punkt. Echte Urteilskraft kann nur da entstehen, wo wir so nah wie möglich am Wirklichen sind. Dieses Wirkliche, das "Wie es ist", ist das Faktische und das Rohmaterial, das aber zwangsläufig in einer Art Geschichte erzählt werden muss. Eine offene Objektivität kann meines Erachtens nur erreicht werden, wenn man sich dieses Akts des Erzählens bewusst ist und ihn offenlegt. Einer naiven Behauptung, dass das, was man erzählt, schon objektiv sei, wird sich die Wahrheit nie erschließen.

Sie erschließt sich in der Offenlegung des subjektiven Faktors. Es ist ein Grundprinzip des Denkens und der ihm inhärenten Fähigkeit des Urteilens, dass gerade die nicht-intentionale und nicht-ideologische Annahme dessen, was ist, am ehesten die Chance mit sich bringt, die richtige Handlung zu finden, um das jeweilige Problem zu lösen. Dies ist in der Tat eine politisch bedeutsame Funktion, die sich außerhalb des politischen Bereichs abspielt.

Sie setzt Unabhängigkeit des Denkens und Urteilens voraus. Eine Geschichtsschreibung in diesem Sinne verschweigt nicht nur nicht die Niederlage und das Leiden derjenigen, die verloren haben, sondern lässt dem Feind auch Gerechtigkeit widerfahren, indem sie auch seine großen und wunderbaren Taten gleichberechtigt erzählt. Dies ist Objektivität und intellektuelle Integrität. Dies ist Wissenschaft.

Fazit

Die vorliegende Arbeit widmete sich der Politik unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit. Es sollte unterschieden werden, was zur Politik und was zur Wahrheit gehört. Es zeigt sich, dass die Politik eine Aufgabe hat, die gerade nicht der Wahrheit gerecht wird, weil es darum geht, widerstreitende Interessen Einzelner und Gruppen im öffentlichen Raum zu organisieren. In der Politik geht es um Handeln und um Kämpfen und um die Frage, wer was bekommt. Das klingt, als ginge es nur um Verwaltung. Hannah Arendt macht am Ende ihres Buches darauf aufmerksam, dass das politische Leben doch mehr umfasst und auch eine eigene Schönheit hat:

Die hohe Freude, die dem schieren Zusammenkommen mit seinesgleichen innewohnt, (…) die Befriedigung des Zusammenhandelns und die Genugtuung, öffentlich in Erscheinung zu treten, (…) die für alle menschliche Existenz entscheidende Möglichkeit, sich sprechend und handelnd in die Welt einzuschalten und einen neuen Anfang zu stiften.

(S. 92)

So kommt Arendt im letzten Absatz ihres Aufsatzes zur Quintessenz dessen, was sie zuvor weiträumig entfaltet hat:

Denn worum es in diesen Betrachtungen geht, ist zu zeigen, dass dieser Raum [der Politik, R. E.] trotz seiner Größe begrenzt ist, dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt, sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch lügenden Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können. Die Politik kann ihre eigene Integrität nur wahren und das ihr inhärente Versprechen, dass Menschen die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert. Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.

Arendt würdigt damit sowohl die Politik als auch die Wirklichkeit außerhalb der Politik. Sie macht deutlich, dass wir die ganze Wirklichkeit mit all ihren Sphären nur dann konstruktiv und würdevoll bewohnen können, wenn wir die Weisheit der Unterscheidung anwenden und die Dinge auseinanderhalten, die verschieden sind: "Um sie zu verbinden, darf man sie nicht vermischen." (Eliphas Levi)

Wenn einerseits Politik und Wahrheit verschieden sind und sich gegenseitig ausschließen, so darf es dennoch nicht darum gehen, sich für eines der beiden zu entscheiden und das andere zu verwerfen, also etwa nur dem Politischen oder nur dem Wahren zu folgen. Wir müssen beide Elemente im Blick behalten und in einer dialektischen Bewegung simultan denken. Mit einer monokausalen, linearen Ideologie werden sich weder die Wirklichkeit noch konstruktive Lösungen für problematische Fragen der Menschheit finden lassen.

Hannah Arendt: Wahrheit und Politik / Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, Piper Verlag, München 2019 (alle Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe)

Ronald Engert [2] ist Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift Tattva Viveka [3]


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