Fake News und die Erosion der Fakten: Tatsachen und Meinungen im Widerstreit

Die Erkenntnisse von Hannah Arendt (hier 1958) sind zeitlos aktuell. Foto: Barbara Niggl Radloff / CC-BY-SA-4.0

Warum der Streit um Tatsachenwahrheiten oft zu nichts führt: Hannah Arendts "Wahrheit und Politik" liefert einige Antworten (Teil 1)

Der Streit um die Fakten ist eine falsche Auseinandersetzung. Fakten, die Teil der Wahrheit sind, werden in der Politik oft als Meinungen instrumentalisiert. In Wirklichkeit geht es um die dahinterliegenden Interessen. Wir müssen uns also die jeweilige Ideologie anschauen, anstatt uns um einzelne Fakten zu streiten. Gleichwohl hat Hannah Arendt in ihrem Essay "Wahrheit und Politik" auch deutlich gemacht, dass wir uns in einen bodenlosen Abgrund begeben, wenn wir die Tatsachenwahrheiten aufgeben. Der Mensch braucht die Wirklichkeit, um eine stabile Orientierung in der Welt zu finden.

Arendt vergleicht in ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik und macht deutlich, dass Wahrheit etwas anderes ist als Macht. Der Bereich der Politik dreht sich um die Macht. Die Wahrheit erweist sich aber in der öffentlichen Welt allzu oft als ohnmächtig. Das Gegenteil der Wahrheit ist die Lüge, und so ist die Lüge so gut wie immer konstitutiv für die Ziele, die die Macht erstrebt. Allein, wir fühlen, dass dies nicht befriedigend ist. Hannah Arendt formuliert es so: »Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?« (Arendt, S. 44)

Bereits Platon wusste, dass die Wahrheit nicht immer beliebt ist. Am Ende seines Höhlengleichnisses schreibt er, dass derjenige, der versucht, die Menschen aus der Fessel der Illusion zu befreien, gefährlich lebt. Sie würden ihn, "wenn sie seiner habhaft werden und ihn töten könnten, auch wirklich töten" (S. 47). So erging es Sokrates, und so erging es Jesus. Auch Thomas Hobbes wusste in seinem Hauptwerk "Der Leviathan" zu berichten, dass "Menschen Wahrheit nur willkommen heißen, wenn sie niemandes Vorteil oder Gefallen beeinträchtigt". Heute kann man dazu sagen: Wir akzeptieren jedes Argument, das zu unserer Meinung passt.

Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten

Hannah Arendt unterscheidet in Anlehnung an Leibniz zwischen Vernunftwahrheit und Tatsachenwahrheit. Die Vernunftwahrheit betrifft Dinge, die zur Mathematik, Philosophie und Wissenschaft gehören. Tatsachenwahrheiten sind indes die heute so genannten Fakten, die Dinge, die tatsächlich passiert sind. Ein einleuchtendes Beispiel: "Belgien ist 1914 in Deutschland einmarschiert." Dies ist definitiv falsch, denn es verhält sich genau umgekehrt: Deutschland ist 1914 in Belgien einmarschiert. Woher wissen wir das? Durch Augenzeugen, durch Kriegsberichte und -protokolle, durch Belege.

Die Chancen der Tatsachenwahrheit, dem Angriff politischer Macht zu widerstehen, sind offenbar sehr schlecht bestellt. Tatsachen stehen immer in Gefahr, nicht nur auf Zeit, sondern möglicherweise für immer aus der Welt zu verschwinden. (…) Sind sie erst einmal verloren, so wird keine Anstrengung des Verstandes oder der Vernunft sie wieder zurückbringen können.

(S. 49)

Eine Vernunftwahrheit lässt sich durch vernünftige Überlegung wieder rekonstruieren. Eine Tatsachenwahrheit betrifft aber empirische Gegebenheiten, die, wenn sie einmal dem Wissen verloren sind, nicht mehr rekonstruiert werden können. Dieses Schicksal des Verlusts droht den unterdrückten oder verleugneten Tatsachenwahrheiten, ist aber einer Vernunftwahrheit, wie zum Beispiel der euklidischen Mathematik oder Einsteins Relativitätstheorie, weit weniger gefährlich.

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