Fake News und die Erosion der Fakten: Tatsachen und Meinungen im Widerstreit

Seite 2: Die Gefährlichkeit der Wahrheit

Der einleuchtende Unterschied zwischen Wahrheit und Politik ist der zwischen zwei verschiedenen Lebensweisen: der Lebensweise des Philosophen einerseits und der Lebensweise des Staatsbürgers andererseits. Der Philosoph lebt allein und geht seinen Überlegungen allein nach. Der Staatsbürger ist Teil einer Gemeinschaft und tritt dort für seine Interessen ein. Der Bereich der weltlichen Angelegenheiten, die den Staatsbürger betreffen, ist zeitweilig und verändert sich fortwährend, wohingegen die Wahrheit des Philosophen ewig und unveränderlich ist.

Der Philosoph Aristoteles unterschied die Meinung, doxa, deutlich von der Erkenntnis, episteme, und setzte die Meinung als Gegensatz der Wahrheit mit bloßer Illusion gleich. Hier zeichnet sich ein Konflikt zwischen der Wahrheit und der Politik ab. "Die eigentlich politische Schärfe des Konflikts liegt in dieser Entwertung der Meinung, sofern nicht Wahrheit, wohl aber Meinung zu den unerlässlichen Voraussetzungen aller politischen Macht gehört." (S. 51) In der Politik werden Meinungen diskutiert und umstritten.

Man braucht Gleichgesinnte, die die gleiche Meinung haben und die eigene Machtposition unterstützen. Es geht um Parteilichkeit, weshalb sich in der Politik immer verschiedene Parteien bilden. Wir haben immer partikulare Interessen verschiedener Gruppen und Interessensgemeinschaften, die ausgehandelt werden müssen. Es geht um Finanzen, Ressourcen, Räume und Zeiten, die nicht unbegrenzt vorhanden sind.

Wir befinden uns mit der Politik und der Macht im Bereich der materiellen Wirklichkeit, die durch Raum und Zeit bedingt ist. Die Herabsetzung der Meinung durch die Wahrheit ist ein Affront gegen die Politik. Die Wahrheit ist nicht verhandelbar, sie gehört keiner Partei und bildet keine partikularen Interessen ab. Deshalb schließen sich die Wahrheit und Politik gegenseitig aus. Arendt kommt zu dem harten Urteil:

Das aber heißt, dass innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt.

S. (51)

Die absolute Wahrheit ist somit auf fundamentale Weise gefährlich für die Politik. Für Platon war es der Unterschied zwischen Dialektik und Rhetorik. Ein Diskurs über die Wahrheit funktioniert anders als Überredungskünste, mit denen der Redner die Meinungen der Menge beeinflusst und schließlich die vielen überzeugt.

Verunsicherung

Das, was uns von der Wirklichkeit und unserem Denken über sie gewiss ist, hat im Laufe der Jahrhunderte immer weiter abgenommen. Die ursprüngliche Gewissheit entsprang aus einem einheitlichen und für alle gültigen Weltbild, das in unseren Breitengraden durch das Christentum bereitgestellt wurde. Die erste allgemeine Verunsicherung setzt jedoch schon mit den Glaubenskriegen im 17. Jahrhundert ein (vor allem mit dem Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648), als nämlich der Protestantismus dem Katholizismus seine Deutungshoheit streitig machte.

Gab es vorher nur ein einziges Weltbild, das die Menschen in einer absoluten Gewissheit hielt, entstand durch den alternativen Entwurf Martin Luthers eine Relativität der Standpunkte. Dies kann als eine der Ursachen für den Siegeszug der Wissenschaften betrachtet werden. Waren die beiden alternativen Glaubenssysteme Anlass für eine Verunsicherung, so bot die neu entdeckte Methode der Wissenschaft als ein dritter Weg die Hoffnung auf eine neue Gewissheit.

Doch dies ist nun schon lange her, und es hat sich gezeigt, dass auch die Wissenschaft mit ihrer empirischen Methode und ihrer Logik nicht in der Lage ist, Tatsachenwahrheiten gegen die Macht der Meinung zu immunisieren. Die Wissenschaft hat sich dies selbst erklärt: Die Erkenntnisse des Poststrukturalismus und Konstruktivismus zeigen, dass empirische Daten mitnichten zwingend objektiv sind. Es gibt immer einen subjektiven Faktor, der sich die Welt erklärt. Der Poststrukturalismus nennt das "Narrativ", die Erzählung über die Wirklichkeit, und weist darauf hin, dass die Beschreibungen der Wirklichkeit sehr subjektiv und relativ sind.

Und auch die Vertreter der Fake News machen sich diese Erkenntnis mittlerweile zunutze, nicht nur, indem sie erklären, dass »alternative Fakten« genauso wahr sind wie »offizielle Fakten«, sondern auch, indem sie ihre Gegner selbst des Narrativs bezichtigen und ihre Position damit relativieren. Eine nicht relative Position wäre indessen nur durch Tatsachenwahrheiten zu schaffen.

Die Erosion der Fakten

Da wir mittlerweile erkannt haben, dass auch die Vernunft fehlbar ist, ist es notwendig, dass wir über unsere Erkenntnisse und Meinungen diskutieren, um sie gegen den Irrtum abzusichern. Dies kann jedoch dazu führen, dass Wahrheiten in Meinungen transformiert werden, wenn nämlich viele Menschen die gleiche Position vertreten und die Überzeugungskraft zunimmt, je mehr Menschen es sind. In der Politik spielt dies eine Rolle, nicht jedoch in der Welt des Philosophen, für den es diese Rücksicht auf die Meinung anderer nicht gibt.

In der Philosophie kann auch schon eine Person, die eine bestimmte Position vertritt, ausreichen, um diese Position in der philosophischen Untersuchung ernst zu nehmen - sofern diese Position einen Wahrheitsgehalt hat. Es spielt keine Rolle, wie viele Menschen diese Position vertreten. Der Philosoph ist jedoch heute weniger einflussreich als vielleicht noch zu Platons Zeiten. Heute geht es nicht mehr um die Wahrheit, sondern um die Meinung.

Die Philosophie ist in den Hintergrund getreten. Dies trifft auch auf die Religion zu. So könnte man sagen, dass jegliche Absolutheitsansprüche, seien es die der Philosophie oder seien es die der Religion, in der Politik keine Rolle mehr spielen. Man könnte das sagen, aber es stimmt nicht, weil der Mensch ohne ein Wahrheitsfundament nicht leben kann. So hat sich der Streit um die Wahrheit von der Vernunftwahrheit auf die Tatsachenwahrheit verlagert.

Sind wir einerseits in religiösen und philosophischen Fragen sehr tolerant, so werden doch "Tatsachenwahrheiten, welche den Vorteilen oder Ambitionen einer der unzähligen Interessensgruppen entgegenstehen, mit solchem Eifer und so großer Wirksamkeit bekämpft" (S. 55).

Werden unliebsame Tatsachen diskutiert, so nur deshalb, weil dies vom Recht zur freien Meinungsäußerung gefordert wird, was allerdings im Umkehrschluss bedeutet, dass die Tatsache zu einer Meinung umgewandelt wird.

Unbequeme geschichtliche Tatbestände, wie dass die Hitlerherrschaft von einer Mehrheit des deutschen Volkes unterstützt wurde (…), werden behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne.

(S. 55)

Da diese Fragen unmittelbar politische Bedeutung haben, geht es nicht nur um Stimmungen oder natürliche Spannungen innerhalb einer als gemeinsam erfahrenen Realität.

Was hier auf dem Spiel steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst, dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung.

Das schrieb Hannah Arendt 1967, und ihre damalige Aktualität ist wie eine Hellsicht in Bezug auf unsere heutige Gegenwart - umso erschreckender, denn wir sind heute, mehr als 50 Jahre später, auf dem Weg zu diesem erkenntnistheoretischen Abgrund schon einen Schritt weiter.

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