Falsche historische Lehren: Warum der Westen das ukrainische Scheitern nicht versteht

Robert English

Sowjetische Truppen der Woronesch-Front im Gegenangriff hinter T-34-Panzern während der Schlacht von Kursk. Bild: unbekannter Fotograf der Roten Armee / CC BY 4.0 Deed

Masse hat bei Kriegen oft den Ausschlag gegeben, nicht die Qualität der Waffen. Kriege können ein Volk zusammenschweißen. Über fatale westliche Illusionen. Gastbeitrag.

Mit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive 2023 trotz milliardenschwerer Aufrüstung und monatelanger Ausbildung haben die Nachbetrachtungen begonnen.

Robert English ist Professor und Experte für russische und postsowjetische Politik an der University of Southern California.

So klingen sie: Der Westen war zu langsam mit der Bereitstellung von Raketen und Flugzeugen; Russland hatte zu viel Zeit, um Schützengräben und Minenfelder vorzubereiten; die Ukraine brauchte mehr Zeit, um die Taktik der kombinierten Waffen zu erlernen und die westliche Panzerung effektiv einzusetzen.

Hinter all diesen Ausreden verbirgt sich jedoch ein umfassenderes analytisches Versagen, das bisher nicht eingestanden wird: Fehlerhafte und oft oberflächliche historische Analogien verleiteten die Militärplaner dazu, Russlands Widerstandsfähigkeit zu unterschätzen.

Selbst heute, da die schrecklichen Kosten der Selbstüberschätzung allen klar sind und sich die Ukraine an einem entscheidenden Scheideweg befindet, besteht dieselbe fehlerhafte Einschätzung des russischen Gegners fort.

Immer wieder stützten Politiker und Kommentatoren ihre Erwartungen an den Krieg auf verfehlte historische Parallelen. Ein Beispiel dafür ist der Hinweis darauf, dass Russland große Verluste in Kauf nimmt und auf "menschliche Wellen" bei seinen Angriffen setzt, bei denen auf jeden ukrainischen Toten dann drei oder mehr getötete russische Soldaten kommen.

Immer wieder – bis in die Gegenwart – wird das von Kommandeuren und Kommentatoren als ein Zeichen schwerer russischer Schwäche angeführt. Ob im Jargon eines "asymmetrischen Zermürbungsgradmessers" oder einfach als "Kanonenfutter" bezeichnet: Analysten stellen häufig fest, dass ein derartig verschwenderischer Umgang mit Menschenleben ein Erbe der schwerfälligen sowjetischen und zaristischen Armeen ist.

Dabei wird jedoch übersehen, dass diese Taktik oft zum Sieg führte. Die zaristischen Armeen mussten beim Aufbau des russischen Reiches in Schlachten mit schwedischen, persischen und türkischen Truppen große Verluste hinnehmen. Beim Sieg über Napoleon erlitten die Russen ebenso viele Verluste wie die Franzosen, obwohl sie den Vorteil hatten, auf heimischem Boden zu kämpfen und mit dem russischen Winter vertraut waren.

Der sowjetische Marschall Schukow musste in der Schlacht von Kursk im Zweiten Weltkrieg 860.000 Verluste hinnehmen, wohingegen die Deutschen nur 200.000 Tote zu beklagen hatten. Außerdem verlor Schukow 1.500 Panzer gegenüber 500 deutschen.

Doch Kursk gilt als großer Triumph, der Hitlers letzte Hoffnungen auf einen Sieg zunichtemachte. Hat also Deutschland seine bessere Verlustquote gefeiert, während man von Stalins Horden besiegt wurde?

So schockierend diese Taktik auch sein mag, sie ist eine Ressource, die Moskau hat und Kiew nicht. Man denke nur an die Schlacht um Bachmut und die täglichen Meldungen, in denen die erfolgreiche Tötung Tausender Russen durch die Ukraine Schlagzeilen machte, bis zu dem Moment, als Bachmut an die Söldner der Wagner-Gruppe fiel – eine unheimliche Erinnerung an die Berichte des Pentagons über die Opferzahlen im Vietnamkrieg.

In Bachmut verlor die Ukraine seine militärisch unverzichtbare Elite an Horden kaum ausgebildeter russischer Sträflinge, die zu Sturmtruppen umfunktioniert wurden, um eine strategisch unbedeutende Stadt zu verteidigen, von der Präsident Selenskyj schwor, dass sie nicht fallen würde. Das Durchschnittsalter der ukrainischen Soldaten liegt jetzt bei 43 Jahren.

Der Verlust von Bachmut hat der ukrainischen Moral geschadet, aber es ist die russische Moral, die nach Meinung von Experten angeschlagen ist. Und sie erinnern uns daran, dass militärische Katastrophen in der Vergangenheit russische Aufstände ausgelöst haben – 1905 nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg oder das Debakel des Ersten Weltkriegs, das 1917 zum Zusammenbruch der Romanow-Dynastie führte.

Warum sollten es die Russen angesichts ihrer Entbehrungen und ihres Leids nicht wieder tun und Putin stürzen? Experten ignorieren oft, dass Putin nach einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Chaos und der weltweiten Demütigung in den 1990er-Jahren für die Wiederherstellung von Stabilität und Nationalstolz geachtet wird.

Zar Nikolaus II. war dagegen eher wie Boris Jelzin – schwach und unnahbar, abhängig von verhassten Beratern, während er für Chaos stand.

Es ist auch wahrscheinlich, dass viele Russen, anders als bei einem fernen Debakel mit Japan oder einem durch einen österreichisch-serbischen Streit ausgelösten europäischen Gemetzel, an diesen Krieg glauben, weil sie die Krim und den Donbas als historisch und kulturell russisch betrachten.

Unabhängig davon, ob das eher auf eine tief verwurzelte imperiale Einstellung oder auf ein Jahrzehnt antiwestlicher Propaganda zurückzuführen ist, stehen die Russen nach wie vor hinter Putin und sind sogar stolz darauf, dass sie es mit dem Besten aufnehmen können, was die Nato zu bieten hat.

Historische Analogien, die nach Bestätigung suchen

Sich darum zu bemühen, die Ansichten Putins und seines Volkes zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet nicht, "pro-russisch" zu sein, selbst wenn wir diese Ansichten falsch oder abstoßend finden.

Im Gegenteil, eine solche Herangehensweise ist der Schlüssel zu einem "zeitgemäßen Denken" mit genauen historischen Analogien und unerlässlich, um die Illusion zu vermeiden, dass russische Soldaten oder Bürger sich so verhalten werden, wie wir es tun würden.

Am Vorabend der ukrainischen Gegenoffensive erklärte der US-Generalstabschef, Mark Milley, dass es den Russen an Führung und Willen fehle, ihre Moral schlecht sei und ihre Disziplin erodiere. Wenn die wichtigste historische Lektion darin besteht, dass russische Armeen unter Belastung zusammenbrechen, dann sucht man natürlich genau nach Anzeichen von Uneinigkeit und findet bald einen drohenden Zusammenbruch.

So kommt es, dass eine oberflächliche Geschichtsschreibung, die nach Bestätigung sucht, zu einer fehlerhaften Analyse führt. Die ukrainischen Truppen, die durch die heftigen russischen Kämpfe in die Enge getrieben wurden, erklärten gegenüber Milley selbst, dass er sich geirrt habe: "Wir hatten weniger Widerstand erwartet. Sie halten stand. Sie haben eine Führung. Es kommt nicht oft vor, dass man das über den Feind sagen kann".

Während sich die Krise in Kiew vertieft und Schuldzuweisungen an die Öffentlichkeit dringen, sind sich Kommandeure auf allen Ebenen der ukrainischen Streitkräfte einig, dass sie und ihre Nato-Berater die russische Hartnäckigkeit völlig falsch eingeschätzt haben: "Diese große Gegenoffensive beruhte auf einem einfachen Kalkül: Wenn ein Moskal [Schimpfwort für ethnische Russen] einen Bradley oder einen Leopard sieht, wird er einfach weglaufen."

Aber wie wäre es, den Kampf nach Russland zu tragen? Der ehemalige CIA-Direktor General David Petraeus sagte voraus, dass die russische Entschlossenheit in Reaktion auf ukrainische Drohnenangriffe auf Moskau "bröckeln" könnte. Solche Angriffe "bringen den Krieg zum russischen Volk" und könnten Putins Regime davon überzeugen, dass Russlands derzeitiger Krieg in der Ukraine – wie der Kalter-Krieg-Sumpf der UdSSR in Afghanistan – "letztlich unhaltbar" ist.

Tatsächlich sah die alte sowjetische Elite den Afghanistankrieg nicht als ohne Zukunft an, und sie machte sich auch keine großen Sorgen um die öffentliche Meinung. Es bedurfte sowohl eines Generationswechsels als auch eines kühnen neuen Staatschefs, der der Verbesserung der Beziehungen zum Westen Priorität einräumte – Michail Gorbatschow –, um schließlich eine Beendigung des Krieges zu erreichen.

Der Punkt ist nicht, dass Krieg keine Kosten erzeugt. Der Krieg in Afghanistan war teuer, und der Krieg in der Ukraine ist es noch mehr. Der Punkt ist, dass es unwahrscheinlich ist, dass ein Land eine Niederlage in einem großen Krieg akzeptiert, der als lebenswichtiges nationales Interesse gerechtfertigt wurde, solange es nicht sowohl einen neuen Regierungschef als auch einen Wechsel in der Führungselite gibt.

Wann hat die Methode, dem "russischen Volk den Krieg zu bringen", indem man Moskau bombardiert, jemals funktioniert? Die Nato überzog das serbische Volk 1999 mit dem Kosovo-Krieg, indem sie Belgrad bombardierte. Das Volk schlug sich auf die Seite des Diktators Slobodan Milošević.

25 Jahre später sind die Serben immer noch stark pro-russisch und gegen die Nato eingestellt. Und als tschetschenische Rebellen Anfang der 2000er-Jahre Moskau und andere russische Städte bombardierten, scharte das die Russen um Putin und trug zur Rechtfertigung seiner zunehmend autoritären Herrschaft bei.

Das sind keine historischen Spitzfindigkeiten, sondern Beispiele für falsche Analogien, die sowohl strategische Erwartungen als auch taktische Entscheidungen beeinflusst haben. Und sie sind teuer erkauft worden, sowohl mit ukrainischen Menschenleben als auch mit westlicher Unterstützung.

Das Vertrauen in die Eliten in Washington und Brüssel sinkt, auch wenn Offizielle immer noch behaupten, die Ukraine gewinne und Putin könne den Westen "nicht besiegen".

Angesichts der Tatsache, dass die Nato ihre Ausrüstungslager leert und die Fristen für die Produktion neuer Munition verpasst, kann man nur schwerlich zu einem anderen Schluss kommen, es sei denn, man ist in einer anderen, allzu simplifizierten Analogie zum Zweiten Weltkrieg gefangen: derjenigen von Amerika als "Arsenal der Demokratie".

Viele haben die innovative private Waffenproduktion der USA mit Russlands technologiearmen staatlichen Fabriken verglichen und vorausgesagt, dass Moskau seine Munition erschöpfen würde. Stattdessen hat Russland die Behauptung, es habe nur Muskeln und keinen Verstand, immer wieder widerlegt.

Es übertrifft den Westen nicht nur bei Panzern, Artillerie und Granaten, sondern trotzt auch den Sanktionen, indem es neue präzisionsgelenkte Bomben, Drohnen und Raketen entwickelt. Vielleicht haben diejenigen, die den russischen Einfallsreichtum gering schätzen, den Katjuscha-Mehrfachraketenwerfer vergessen, eine legendäre Artilleriewaffe, die sowohl die Deutschen als auch die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg kopierten.

Angesichts der sich abzeichnenden Krise bei den Bemühungen, Kiew mit Munition zu versorgen, ist es sinnvoll, die amerikanische Rüstungsproduktion im Zweiten Weltkrieg näher zu betrachten, als das "Arsenal der Demokratie" in mancher Hinsicht eher Putins Wirtschaft als Bidens ähnelte.

Doch heute steht Washington vor einer Reihe komplexer institutioneller Hindernisse: "Least-Cost"-Produktionsmodelle, die Abneigung von Auftragnehmern gegen Lagerhaltung, Exportbeschränkungen und Umweltvorschriften, die Putin nicht stören.

Eine letzte Lehre aus dem "Wettrüsten" des Zweiten Weltkriegs ist eine Warnung vor technologischer Hybris, wie sie sich in der heutigen Begeisterung über die Überlegenheit westlicher Leopard- oder Abrams-Panzer gegenüber dem russischen T-72 und T-80 zeigt.

Der deutsche Tiger-Panzer war dem sowjetischen T-34 im Zweiten Weltkrieg eindeutig überlegen, aber letzterer war billig, zuverlässig und leicht in großen Stückzahlen zu produzieren. Bei Kursk waren die sowjetischen Panzer den deutschen im Verhältnis 2:1 überlegen.

Wenn also Nato-Planer und Medienexperten angesichts der schweren Verluste, die die Russen bei ihrem Vormarsch in der Schlacht um Awdijiwka erleiden, erneut von "Kanonenfutter" sprechen, sollten sie sich an einen Spruch erinnern, der dem sowjetischen Kriegsführer Josef Stalin zugeschrieben wird: "Quantität hat ihre eigene Qualität."

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Robert English ist Professor und Spezialist für russische und postsowjetische Politik an der University of Southern California. Als ehemaliger Analyst des Verteidigungsministeriums unterrichtet er auch Kurse über Technologie und Konflikte und die politische Ökonomie des Postkommunismus. English hat viel über das Ende des Kalten Krieges und dessen Folgen geschrieben.