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Fast alle Organe im Körper sind betroffen

Bild: NIAID/CC BY-2.0

Infektion mit dem Corona-Virus: Woran erkranken die Patienten und woran sterben sie?

In einem ersten Artikel zum Thema Covid-19 habe ich die Auffassung vertreten, dass die Infektion mit dem neuen SARS-CoV-2-Virus eine ernste Gefahr für viele Menschen ist, die nicht mit einer "gewöhnlichen Grippe" verglichen werden kann (Ein gefährliches Virus [1]).

Grundlage dieser Einschätzung waren nicht so sehr Zahlen und Statistiken, sondern vor allem die praktischen Erfahrungen, die Behandler in den Kliniken mit der neuen Covid-19-Patientengruppe gemacht haben, wie sie zum Beispiel der praktizierende Schweizer Herzchirurg Paul Robert Vogt in einem kürzlich erschienenen Artikel [2], der national und international auf große Resonanz gestoßen ist, beschrieben hat.

Inzwischen sind aber auch auf Telepolis zwei informative und noch dazu unterhaltsame Artikel von dem Physiker und Mathematiker Lorenz Borsche erschienen, in denen dieser die gehandelten teilweise verwirrenden Zahlen und Daten über Covid-19 erklärt (Zwischen Lockdown-Leugnern und Pandemie-Panikern [3], Den Lockdown-Gegnern ins Stammbuch geschrieben [4]). Er macht darin plausibel, dass die Letalität der Infektion, das heißt das Verhältnis der Zahl der Gestorbenen zur Zahl der Infizierten (einschließlich einer gewissen Dunkelziffer) bei ungefähr 2% liegen dürfte, wenn das Gesundheitswesen nicht überfordert ist. Falls das aber der Fall ist, steigt diese Ziffer an, wie uns das in Italien, Spanien, Frankreich, Grossbritannien und den USA demonstriert wird.

Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Frage, wie das neue Corona-Virus den Organismus schädigt und wie es bei einem Teil der Infizierten zum vorzeitigen Tode kommt. Dabei stütze ich mich vor allem auf einen Übersichtsartikel aus der Wissenschaftszeitschrift "Science" vom 17.4.2020, in dem dargestellt wird, dass das Virus im menschlichen Organismus "vom Kopf bis zu den Zehen" erhebliche Schäden und Zerstörungen anrichten kann (Wadman M, Couzin-Frankel J, et al.: How does the coranvirus kill? [5]. Clinicians trace a ferocious rampage through the body from the brain to the toes).

In der Einleitung zu diesem Artikel heißt es (deutsche Übersetzung von mir):

Ärzte und Wissenschaftler, die praktische Erfahrungen im Umgang mit Covid-19-Patienten gemacht haben, fangen an zu verstehen, wie das Virus die Zellen im ganzen Körper angreift, insbesondere bei denjenigen etwa 5%, die schwer erkrankt sind.

Science vom 17.4.2020

Trotz mehr als 1000 wissenschaftlichen Artikeln, die inzwischen jede Woche in Zeitschriften oder auf Preprint-Servern weltweit veröffentlicht werden, sind wir jedoch von einem klaren Bild über das Wirken des Corona-Virus noch weit entfernt, da sich der neue Erreger so verhält wie keiner vorher.

Da Covid-19 wahrscheinlich erst seit einigen Monaten existiert und deshalb noch keine großen prospektiven und kontrollierten Studien vorliegen, können die Wissenschaftler ihre Informationen nur aus kleinen Studien und Fallberichten beziehen.

Nase und Mund sind die häufigsten Eintrittspforten

Wenn eine infizierte Person mit Virus beladene Tröpfchen in Form eines Aerosols in die Umgebung abgibt, zum Beispiel beim Husten oder Niesen oder ganz einfach beim Atmen oder Sprechen, und diese von einer zweiten Person inhaliert werden, kann das neue Corona-Virus auf deren Schleimhäute von Nase und Rachen gelangen. In der Nasenschleimhaut trifft es dann auf Zellen, die an ihrer Oberfläche über sogenannte Angiotensin-Converting-Enzyme-2-(ACE2)-Rezeptoren verfügen. Solche Rezeptoren sind auf den Zellmembranen in vielen Organen unseres Körpers vorhanden.

Normalerweise helfen die ACE2-Rezeptoren dabei, den Blutdruck zu regulieren. Jetzt markieren sie die Gewebe, in denen sich die Infektion ausbreiten kann, da das Virus sie zum Eindringen in die Zellen benötigt. Nach dem Eindringen bemächtigt sich das Virus des Zellstoffwechsels und vermehrt sich millionenfach.

Insbesondere in der ersten Woche, wenn das geschehen ist, scheidet eine infizierte Person große Mengen an Viren aus. Bis zu diesem Zeitpunkt können bei vielen Infizierten Krankheitssymptome fehlen. Oder das neue Opfer des Virus kann Fieber, einen trockenen Husten, Halschmerzen, eine Beeinträchtigung von Geruch und Geschmack oder Kopf- und Gliederschmerzen entwickeln.

Zu Beginn der Infektion ist das Immunsystem in vielen Fällen nicht in der Lage, die Ausbreitung des Virus aufzuhalten. Es kann dann die Atemwege herunterwandern und die Lungen angreifen, was tödlich enden kann.

Die Lungen sind der erste Hauptkampfplatz

In den Lungen enden die immer kleineren Verästellungen des Bronchialbaums in winzigen Säckchen, den Alveolen, in denen der Gasaustausch stattfindet. Diese sind mit einer einlagigen Zellschicht, den sogenannten Alveolar-Epithelien, ausgekleidet, die an ihrer Oberfläche ebenfalls viele ACE2-Rezeptoren aufweisen.

Normalerweise gelangt der Luft-Sauerstoff von den Alveolen in die Kapillaren. Das sind kleinste Blutgefäße, die die Alveolen umgeben. Von dort wird der Sauerstoff mit dem Blutfluss im ganzen Körper verteilt. Da aber das Immunsystem das angreifende Virus in den Alveolen bekämpft, kann diese Schlacht zu einer Unterbrechung der ungestörten Sauerstoffaufnahme führen.

Auf dem Schlachtfeld treten weiße Blutzellen auf, die entzündungsfördernde Chemokinine freisetzen, die weitere Immunzellen anlocken. Diese können die mit dem Virus infizierten Zellen abtöten und hinterlassen damit einhergehend im Lungengewebe ein Gemenge von Flüssigkeit und toten Zellen- den sogenannten Eiter.

So entwickelt sich dann eine so genannte atypische (virusbedingte) Lungenentzündung, die mit entsprechenden Symptomen wie Husten, Fieber und einer beschleunigten, flachen Atmung einhergeht. Einige Covid-19-Patienten erholen sich davon wieder unter der alleinigen Gabe von Sauerstoff über eine Nasensonde.

Aber bei anderen kommt es, oft sehr plötzlich, zu einer deutlichen Verschlechterung der Atemsituation.

Diese Patienten können dann ein ARDS, ein sogenanntes Akutes respiratorisches Distress-Syndrom mit typischen MRT-Bildern ihrer Lungen entwickeln. Diese zeigen dann charakteristische weißliche Aufhellungen in beiden Lungen, wo normalerweise eine dunkle Zeichnung das Vorhandensein von Luft anzeigt.

Die meisten dieser Patienten enden an Beatmungsgeräten und nicht wenige sterben trotzdem. Bei der Sektion zeigt sich dann, dass die Alveolen dieser Patienten ausgefüllt sind mit einer Flüssigkeit, bestehend aus weißen Blutzellen, Schleim und zerstörtem Lungengewebe.

Obwohl die Lungen das erste und wichtigste Organ sind, in dem die Zerstörung durch das Virus beginnt, können viele weitere Organe betroffen sein. Das gilt vor allem für das Herz und die Blutgefäße, die Nieren, das Gehirn und den Darm.

Kommt es zu einem bedrohlichen Cytokin-Sturm?

Einige Kliniker vermuten, dass die treibende Kraft der Schädigung bei vielen schwer kranken Patienten in einer Hyperreaktivität des Immunsystems bestehe, die unter der Bezeichnung Cytokin-Sturm schon lange bekannt ist und bei vielen anderen schweren Infektionen auftreten kann.

Cytokine sind chemische Signal-Moleküle, die normalerweise eine gesunde Immunantwort begleiten. Bei einem Cytokin-Sturm steigen jedoch die Serumspiegel von bestimmten Cytokinen weit über das notwendige Maß hinaus an und die Immunzellen beginnen, das gesunde Gewebe anzugreifen. Dadurch werden die Blutgefäße durchlässig, der Blutdruck fällt ab, Blutgerinnsel bilden sich in den Gefäßen und ein katastrophales Versagen vieler Organe, ein sogenanntes Multiorganversagen, kann die Folge sein.

In einigen Studien haben die Forscher erhöhte Serumspiegel von diesen eine übermäßige entzündliche Reaktion hervorrufenden Cytokinen bei hospitalisierten Covid-19-Patienten gemessen.

Aber nicht alle Wissenschaftler unterstützen diese These. Einer davon ist Joseph Levitt, ein Lungenfacharzt, der auf der Intensivstaion der Medizinischen Hochschule der Stanford Universität in Kalifornien tätig ist.

Zu schnell wird ein Zusammenhang zwischen Covid-19 und einem hyperinflammatorischen Zustand vermutet. Dafür habe ich bisher keine wirklich überzeugenden Daten gesehen.

Joseph Levitt

Er befürchtet auch, dass Bemühungen, die Cytokin-Antwort medikamentös zu dämpfen, negative Folgen haben könnten. Einige derartige Arzneimittel würden bei Covid-19-Patienten getestet. Levitt nimmt an, dass diese Arzneimittel die notwendige Immunantwort des Körpers auf das Virus beeinträchtigen könnten, und es bestehe das Risiko, dass wir die Vermehrung des Virus erlauben, wenn wir die natürliche immunologische Reaktion des Körpers unterdrücken.

Herz und Kreislauf sind weitere Hauptkampfplätze

Wie das Virus das Herz und die Blutgefäße schädigen kann, ist immer noch nicht geklärt, aber das Phänomen wird in Dutzenden von wissenschaftlichen Artikeln beschrieben. Eine aktuelle Arbeit aus dem JAMA Cardiology dokumentiert Herzschädigungen bei nahezu 20% von 416 hospitalisierten Patienten in Wuhan/ China. In einer weiteren Studie aus Wuhan wiesen 44% von 36 Patienten einer Intensivstation Herzrhythmusstörungen auf.

Die Schädigung durch das Corona-Virus kann den Herzmuskel betreffen. Es gibt Patienten, die unter der Diagnose eines Herzinfarktes ins Krankenhaus eingewiesen werden. Sie weisen typische Beschwerden, eindeutige Zeichen im Elektrokardiogramm und erhöhte Serummarker auf. Die echokardiographische Untersuchung kann bei ihnen ein stark vergrößertes linkes Herz ergeben. Bei der anschließenden Koronarangiographie findet man jedoch keine Einengungen oder Verschlüsse der Herzkranzgefäße. Der PCR-Test auf das Corona-Virus fällt bei diesen Patienten jedoch positiv aus.

Die Schädigung durch das Virus scheint das Blut selbst zu betreffen. In einer Arbeit, die kürzlich in der Zeitschrift Thrombosis Research veröffentlicht wurde, hatten 184 Patienten mit Covid-19 einer Intensivstation in den Niederlanden eine abnorme Blutgerinnung und bei fast einem Drittel fanden sich Blutgerinnsel in den Gefäßen.

Die Gerinnsel können sich verkleinern, in die Lungen verschleppt werden und dort wichtige Arterien blockieren- das nennt man dann eine Lungenembolie, woran Covid-19-Patienten versterben können. Blutgerinnsel in den Arterien können ebenfalls in das Gehirn gelangen und einen Schlaganfall hervorrufen.

Viele Patienten haben dramatisch erhöhte D-Dimere, das ist ein spezifischer Marker für Thrombosen und Lungenembolien, stellt Behnood Bikdali, ein Kardiologe im Medical Center der Columbia Universität fest.

Je mehr wir darauf schauen, desto wahrscheinlicher wird die Einschätzung, dass die Bildung von Blutgerinnseln ein wichtiger Aspekt ist, der für die Schwere der Krankheit und die Sterblichkeit an Covid-19 entscheidend ist.

Behnood Bikdali

In einem Artikel [6] vom 20.4.2020 im Tagesspiegel wird über einen Schweizer Forscher berichtet, der auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Ergebnis kommt, dass viele Covid-19-Patienten an Lungenembolien sterben. Er schlägt vor, dass dagegen gängige Blutverdünner helfen könnten.

Die Virusinfektion kann außerdem zu einer Blutgefäßkontraktion (Zusammenziehen der Blutgefäße) führen. Berichte über das Auftreten von dadurch bedingten Ischämien, das heißt einer Minderdurchblutung, im Bereich der Finger und der Zehen sind erschienen. Die Folge kann eine schmerzhafte Schwellung der Finger mit einem Absterben von Gewebe sein.

Eine durch die Virusinfektion bedingte mögliche Kontraktion von pulmonal-arteriellen Blutgefäßen in den Lungen könnte auch erklären, wie ein bisher ungeklärtes Phänomen bei Covid-19-Patienten auf Intensivstationen verursacht wird: Einige Patienten weisen extrem niedrige Sauerstoffwerte im Blut auf und haben trotzdem keine ausgeprägte Atemnot.

Man vermutet, dass in einigen Stadien der Krankheit das Virus das empfindliche Gleichgewicht der Hormone, die den Blutdruck regulieren, verändern kann und dass die zur Lunge führenden arteriellen Blutgefäße sich deshalb kontrahieren. So könne dann die Sauerstoffaufnahme in der Lunge eher durch sich kontrahierende Blutgefäße behindert werden als durch verstopfte Alveolen. Das könne ein Grund sein, dass bei einigen Patienten so niedrige Sauerstoffwerte gemessen werden.

Wenn man annimmt, dass das Corona-Virus die Blutgefäße schädigt, könne das ebenfalls erklären, warum Patienten mit vorbestehenden Schädigungen der Gefäße, zum Beispiel auf Grund von Diabetes oder Bluthochdruck, ein höheres Risiko für eine schwere Erkrankung aufweisen.

Möglicherweise schädigt das Virus aber auch direkt die Endothelauskleidung der Herzhöhlen und der Blutgefäße. Diese (einlagigen) Zellschichten sind ebenfalls, wie die Nasenschleimhaut und die Lungenalveolen, reich an ACE2-Rezeptoren.

In einer am 20.4.2020 veröffentlichten Untersuchung in der renommierten Wissenschaftszeitschrift "The Lancet" konnten bei an Covid-19 Verstorbenen post-mortem im Endothel des Herzens und der Blutgefäße histologisch Virusbestandteile nachgewiesen werden (Varga Z, Flammer AJ, et al.: Endothelial cell infection and endotheliitis in Covid-19 [7]). Die Autoren sprechen von einer Endotheliitis, der sie auf die Spur gekommen sind.

Weiteres Schlachtfeld - die Nieren

Die weltweite Furcht vor einer zu geringen Anzahl von Beatmungsgeräten, die für Covid-19-Patienten zur Verfügung stehen, hat große Aufmerksamkeit hervorgerufen. Zu wenig beachtet ist bei dieser Diskussion ein anderer Typ von notwendigen Maschinen auf Intensivstationen: die Dialysegeräte.

Wenn Leute nicht am Lungenversagen versterben, dann werden sie das aufgrund von Nierenversagen tun.

Jennifer Frontera

Die Neurologin Jennifer Frontera arbeitet beim Lonone Medical Center in der Universität von New York und hat dort Tausende von Covid-19-Patienten behandelt. Sie hat ein Protokoll für den Einsatz von verschiedenen Dialyse-Geräten auf Intensivstationen entwickelt. Die Notwendigkeit dafür könnte damit zusammenhängen, dass die Zellen in den Nieren ebenfalls ein Ziel für die Viren sein können, weil sie reichlich ACE2-Rezeptoren an ihren Zellmembranen aufweisen.

Nach einem Preprint-Artikel aus Wuhan wurde bei 27% von 85 stationär aufgenommenen Patienten in Wuhan ein Nierenversagen festgestellt. In einem anderen Artikel wurde beschrieben, dass 59% von nahezu 200 hospitalisierten Patienten in den chinesischen Provinzen Hubei und Sinchuan Eiweiss in ihrem Urin und 44% Blut aufwiesen, beides Hinweise auf eine Nierenschädigung. Patienten mit einer akuten Nierenschädigung hätten ein fünffach erhöhtes Risiko, an Covid-19 zu sterben, im Vergleich mit Patienten ohne Nierenschädigung, wird in dem gleichen Artikel berichtet.

Bei einer elektronenmikroskopischen Untersuchung von Nierengewebe, das bei Autopsien gewonnen wurde, konnten in Nierenzellen eingeschlossene Viruspartikel festgestellt werden, die eine dírekte virale Schädigung vermuten lassen.

Aber eine Nierenschädigung könnte auch Ausdruck eines Kollateralschadens sein. Eine künstliche Beatmung fördert das Risiko einer Nierenschädigung, ebenso wie antivirale Medikamente wie Remdesivir, das versuchsweise bei Covid-19-Patienten eingesetzt wurde. Ein Cytokin-Sturm kann aber ebenfalls den Blutfluss in der Niere dramatisch reduzieren und dann einen schweren Nierenschaden hervorrufen.

Und vorbestehende Krankheiten wie Diabetes können das Risiko für einen Nierenschaden erhöhen. Und darüber hinaus gibt eine ganze Reihe von Menschen, die an einer chronischen Erkrankung der Nieren leiden und bei denen dann durch Covid-19 ein höheres Risiko für eine zusätzliche akute Nierenschädigung besteht.

Auch das Gehirn wird vom Virus geschädigt

Bei 5% bis 10% der mit dem Corona-Virus Infizierten, die in der Klinik behandelt werden, finden sich neurologische Auffälligkeiten. Wahrscheinlich wird die Zahl der Patienten mit neurologischen Störungen unterschätzt. Das ist besonders deshalb so, weil viele beatmete Patienten auf der Intensivstation auch sediert werden.

Auch gibt es Patienten mit einer Entzündung des Gehirns, einer Enzephalitis, aber auch mit Schlaganfällen oder einer Übererregbarkeit des sympathischen Nervensystems, das Schlaganfall-ähnliche Symptome hervorruft, ähnlich wie ein Hirntrauma. Einige Patienten mit Covid-19 erleiden eine Synkope, das heißt, sie verlieren kurzzeitig das Bewusstsein.

Häufig wird über einen Geruchs- und Geschmacksverlust geklagt. Und in einigen Fällen wird auch über den Verlust von Hirnstammreflexen berichtet, die die Sauerstoffversorgung beeinträchtigen könnten. Das wäre eine weitere Erklärung für die Beobachtung, dass einige Patienten keine ausgeprägte Atemnot aufweisen, obwohl sie gefährlich niedrige Sauerstoffkonzentrationen im Blut aufweisen.

Bekannt ist auch, dass ACE2-Rezeptoren in der Hirnrinde und im Hirnstamm vorhanden sind. Aber es ist noch unbekannt, wie und unter welchen Bedingungen das Virus die Bluthirnschranke passieren und in das Gehirn eindringen kann und mit diesen Rezeptoren interagiert.

In einer Anfang April 2020 veröffentlichten Studie eines Teams aus Japan wurde berichtet, dass Spuren des neuen Virus in der cerebro-spinalen Flüssigkeit eines Covid-19-Patienten, der eine Meninghitis und eine Enzephalitis entwickelt hatte, nachgewiesen wurden. Daraus kann abgeleitet werden, dass das Virus bei einigen Patienten in das Zentralnervensystem eindringen kann.

Aber auch andere Faktoren können das Gehirn schädigen. Zum Beispiel kann ein Cytokin-Sturm eine Hirnschwellung hervorrufen und die Neigung, Blutgerinnsel in den Blutgefäßen zu bilden, kann Schlaganfälle provozieren.

Weiterhin gibt es Vermutungen über eine mögliche Invasionsroute des Virus in das Gehirn, und zwar durch die Nase über den Nervus olfactorius, den 1. Hirnnerven, direkt zum Bulbus olfactorius, der Teil des Großhirns ist. Das erklärt auch, warum so viele Corona-Infizierte über einen Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns klagen.

Infektion des Darms ist möglich

Es gibt einen Fallbericht über die Teilnehmerin einer Kreuzfahrt, die an blutigen Durchfällen, Erbrechen und Bauchschmerzen erkrankte. Zunächst bestand der Vedacht auf eine bakterielle Darminfektion, zum Beispiel durch Salmonellen. Als sie dann zusätzlich Husten entwickelte, fand man über einen Nasenabstrich eine positive Reaktion auf das Corona-Virus.

Eine Stuhlprobe war ebenfalls positiv auf Corona-Virus-RNA. Ebenso zeigten sich bei der Endoskopie Schleimhautverletzungen im Colon, die auf eine gastro-intestinale Infektion mit dem Virus hindeuteten, wie sie kürzlich in einem Online-Paper im American Journal of Gastroenterology beschrieben worden ist.

Dieser Fall fügt sich ein in eine wachsende Anzahl von Hinweisen, dass das neue Corona-Virus, ebenso wie das SARS-1-Virus, die Schleimhaut im unteren Magendarmtrakt befallen kann, wo sich eine große Menge von ACE2-Rezeptoren befinden. Virale RNA hat sich dort in nicht weniger als 53% von positiv getesteten Patienten nachweisen lassen.

Und in einer Arbeit, die sich in der Zeitschrift für Gastroenterology im Druck befindet, berichtet ein chinesisches Team über Virus-Protein, das bei Untersuchungen von Biopsien aus der Schleimhaut des Magens, des Duodenums und des Rektums von Covid-19-Patienten nachgewiesen werden konnte.

Wenn man die vorliegenden klinischen Studien über Covid-19 auswertet, kommt man zu dem Ergebnis, dass in bis zur Hälfte aller Berichte, im Mittel bei 20%, die Patienten über das Auftreten von Durchfall berichtet haben.

Gastrointestinale Symptome stehen aber nicht in der CDC-Liste der möglichen Symptome bei Covid-19. Das ist wohl die Ursache dafür, dass diese häufig nicht diagnostiziert werden. Wenn man hauptsächlich Fieber und Durchfall hat, dann wird man in der Regel nicht auf Covid-19 getestet.

Das Vorhandensein des Virus im Gastrointestinalttrakt wirft die Frage auf, ob es durch den Stuhl übertragen werden kann. Bis jetzt ist nicht klar, ob der Stuhl intaktes und infektiöses Virus enthalten kann oder nur Virus-RNA und Virus-Protein. Auf Grund der Erfahrungen, die mit dem MERS-Virus, einem anderen besonders gefährlichen Verwandten des SARS-CoV-2-Virus, gemacht wurden, ist das Risiko der Übertragung mit dem Stuhl aber wahrscheinlich gering.

Hinweise auf Langzeitfolgen

Bei Nachuntersuchungen von Patienten, die 2002/2003 eine Infektion mit dem ersten SARS-Virus durchgemacht hatten, wurden bis 12 Jahre nach einer angeblichen Heilung Langzeitfolgen in Form von Lungenfibrosen, einem gestörten Glukose-Metabolismus und kardiovaskulären Erkrankungen festgestellt [8].

Kürzlich erschien ein Bericht [9] in der Tagesschau aus Österreich, dass Forscher in der Universitätsklinik Innsbruck bei genesenden Covid-19-Erkrankten offenbar auch bleibende Lungenschäden festgestellt haben.

Unter den dort behandelten Patienten waren auch sechs aktive Taucher, die aber alle nicht stationär behandelt werden mussten, sondern sich in Heimquarantäne auskurierten. Sie alle waren keine schweren Fälle, ihre Erkrankungen lagen fünf bis sechs Wochen zurück und sie galten als genesen.

Bei der Kontrolle nach mehreren Wochen mittels Computer-Tomographie wiesen die Lungen von vier dieser Patienten aber weiterhin deutliche typische Vänderungen für Covid-19 auf und zwei Patienten zeigten bei Belastung eine deutliche Sauerstoffunterversorgung, die als Zeichen eines persistierenden Lungenshunts gedeutet wurde. Bei zwei Patienten waren bei einer Belastungsuntersuchung die Bronchien immer noch übererregbar wie bei Asthmatikern.

Einige Schlussfolgerungen

1. Von den Schäden, die Covid-19 im Organismus anrichten kann, können wir uns bisher nur ein grobes und unvollständiges Bild machen. Es wird noch Jahre mühevoller Forschungsarbeit erfordern, um Klarheit über die zerstörerischen Folgen dieser Virusinfektion zu erlangen und um die Kaskade von Effekten, die im kardiovaskulären wie im Immun-System ausgelöst wird, richtig zu verstehen.

2. Während die Erkenntnisse der Wissenschaft schnell vorwärtsschreiten, ist unsere Hoffnung natürlich besonders auf eine effektive Behandlung dieser schweren akuten Erkrankung gerichtet. Dabei stehen die Forscher vor der schwierigen Aufgabe, schlauer sein zu müssen als das listige Virus, das in den letzten Monaten geschafft hat, die Welt in ihrem bisherigen Verlauf anzuhalten.

3. Auch wenn wir bisher über die krankmachenden Eigenschaften des neuen Corona-Virus nur erste und unvollständige Daten zur Verfügung haben, zeigt diese Darstellung eines doch ganz klar: Wir dürfen dieses gefährliche Virus nicht unterschätzen oder auf die leichte Schulter nehmen.

4. Von den diskutierten Krankheitsbildern in Verbindung mit der Corona-Virus-Infektion sind vor allem Menschen im höheren und hohen Lebensalter, das heißt, die über 70- oder 80-Jährigen, betroffen. Sie haben zu einem großen Teil weitere Risikofaktoren in Form von chronischen Krankheiten. Zu dieser Gruppe gehören zum Beispiel viele Millionen Menschen mit einer "Neben-Diagnose", zum Beispiel einem Diabetes, einer Herzkranzgefäßverengung (koronare Herzkrankheit) oder einem Bluthochdruck. Aber auch Jüngere mit einer Immunschwäche können betroffen sein. Und wahrscheinlich muss man auch viele Menschen, die Raucher [10] sind und im Durchschnitt der mittleren Altersgruppe angehören, zu dieser Risikogruppe zählen, denn bei ihnen besteht häufig eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, eine sogenannte COPD.

5. Gelegentlich sind Stimmen zu hören, dass es sich bei den von der Corona-Virusinfektion Betroffenen oder Bedrohten um Menschen handelt, die sowieso bald gestorben wären oder nicht mehr lange zu leben hätten. Solche unsäglichen Diskussionsbeiträge sind nicht nur ethisch verwerflich, sondern auch dumm. Bei den "Alten", der wichtigsten Risikogruppe für Covid-19, handelt es sich bei uns in Deutschland um mindestens 15 bis 20 Millionen Menschen, etwa einem Viertel unserer Bevölkerung. Und dabei sind die Millionen Raucher und die Adipösen noch nicht mitgerechnet. Für diese Gruppe gilt heute, dass man auch mit zwei oder drei der oben genannten "Neben-Diagnosen" noch viele Jahre ein lebenswertes Leben führen kann [11]. Und das wünschen sich sicher die meisten von ihnen und haben dafür auch viele Jahrzehnte lang brav ihre Krankenkassenbeiträge gezahlt.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie-, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin-, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Covid-19-Ein-gefaehrliches-Virus-4704464.html
[2] https://herzchirurgie-paulvogt.ch/wp-content/uploads/2020/04/Corona-Summary-April-7-2020-Paul-R-Vogt.pdf
[3] https://www.heise.de/tp/features/Zwischen-Lockdown-Leugnern-und-Pandemie-Panikern-4708729.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Den-Lockdown-Gegnern-ins-Stammbuch-geschrieben-4712111.html
[5] https://www.sciencemag.org/news/2020/04/how-does-coronavirus-kill-clinicians-trace-ferocious-rampage-through-body-brain-toes
[6] https://www.tagesspiegel.de/wissen/woran-sterben-corona-patienten-wirklich-ein-schweizer-forscher-macht-hoffnung-im-kampf-gegen-covid-19/25750666.html
[7] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)30937-5/fulltext
[8] https://herzchirurgie-paulvogt.ch/wp-content/uploads/2020/04/Corona-Summary-April-7-2020-Paul-R-Vogt.pdf
[9] https://www.rainews.it/tgr/tagesschau/articoli/2020/04/tag-Coronavirus-Lungeschaden-Forschung-Uniklinik-Innsbruck-6708e11e-28dc-4843-a760-e7f926ace61c.html
[10] https://www.nachdenkseiten.de/?p=59912
[11] https://www.nachdenkseiten.de/?p=41382