Fehlstart für "Jahrzehnt der Bildungschancen"
An den Schulen herrscht Frust, doch während die Ampel-Koalition das Jahrzehnt der Bildungschancen ausrufen hat, ignoriert sie den gravierenden Lehrermangel
Im Juli hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) gesagt, die Pandemie habe die Schwachstellen im Bereich der Digitalisierung "schonungslos offengelegt", und diese seien dringend zu beseitigen. Die Worte verhallten offenbar - wenn schon nicht ungehört, dann ohne beherzigt worden zu sein.
Im zweiten Corona-Winter hat sich an den Schulen in Deutschland wenig verändert: Wieder fehlen Lehrer, wieder fällt Unterricht aus und Online-Unterricht wäre für viele Kinder und Jugendliche nach wie vor nur sehr eingeschränkt möglich, sollten die Schulen ein weiteres Mal geschlossen werden. Es hat sich wenig getan in Deutschland.
Eine Schule zu leiten, muss unter diesen Voraussetzungen frustrierend sein. Einer am Freitag veröffentlichen repräsentativen Forsa-Umfrage zufolge ist ein erheblicher Teil der Schulleiter ernüchtert und demotiviert. Jeder fünfte Schulleiter unter 55 Jahren sieht sich demnach in den nächsten zehn Jahren nicht mehr in seinem Beruf. Fast die Hälfte (46 Prozent) der Befragten würde seine Tätigkeit "wahrscheinlich nicht" oder "auf keinen Fall" weiterempfehlen. Jede vierte Schulleitung macht seine Arbeit nur noch ungern. Die Umfrage hatte der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben.
Es ist vor allem die Arbeit in der Corona-Pandemie, die sich negativ auf die Motivation niederschlägt. Bei mehr als die Hälfte (52 Prozent) der Befragten war das so, bei denen unter 40 Jahren trifft das sogar auf fast zwei Drittel (62 Prozent) zu. VBE-Chef Udo Beckmann mahnte: "Die Politik muss endlich verstehen: Wenn sie nichts ändert, werden wir die Jüngeren direkt zu Beginn ihrer Führungslaufbahn wieder verlieren, also bevor sie richtig begonnen haben".
"Die Schulen gehen am Stock"
Besonders der Lehrermangel machte viele Schulen zu schaffen. Fast zwei Drittel der Befragten (63 Prozent) gab an, ihre Schulen seien von Lehrermangel betroffen. Besonders betroffen sind demnach Förderschulen. Die Ausstattung der Schulen mit Computern und schnellem Internet lässt noch zu wünschen übrig. Zwar hätten 93 Prozent angegeben, Anträge auf Geld aus dem Digitalpakt gestellt zu haben. Aber nur etwas mehr als die Hälfte (54 Prozent) bejahte die Frage nach Breitbandinternet und WLan in den Klassenräumen.
"Die Schulen gehen am Stock und das nicht erst seit der Pandemie", erklärte Nicole Gohlke, stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Der Lehrerberuf gleiche einem Vollzeitjob ohne Wochenenden. Lehrer "sollen fachlich, pädagogisch und digital all das ausbaden, was die verantwortlichen Ministerien verbummelt haben". Und seit über einem Jahr müssten sie dazu noch Corona-Teststation sein. Es sei ein Armutszeugnis für die Politik, dass immer noch in den Sternen stehe, wann alle Schulen über genügend pädagogisches Personal oder stabiles WLan verfügten.
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grüne und FDP ist das Problem umrissen. "Gemeinsam mit den Ländern werden wir die öffentlichen Bildungsausgaben deutlich steigern und dafür sorgen, dass die Unterstützung dauerhaft dort ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird", heißt es dort. Man wolle einen neuen Digitalpakt aufsetzen, über den dann bis 2030 neue Technik angeschafft und veraltete ausgetauscht werden könne.
Ausgebrannte Lehrkräfte
Den Lehrermangel hat man aber offenbar nicht als Problem auf dem Schirm. Man möchte die Quereinsteiger mehr qualifizieren und man ausländische Qualifikationen schneller anerkennen. Den Lehrermangel will die künftige Regierungskoalition aber nicht explizit angehen.
"Die Ampel-Pläne für neue Schulsozialarbeiter sind zwar schön und gut, doch sie ändern an der Überlastung in der Breite nichts", erklärte Gohlke. Im besten Falle bekomme jede vierte Schule eine zusätzliche Personalstelle. Das genüge aber hinten und vorne nicht. "Wenn die Lehrer und Lehrerinnen ausgebrannt sind, wie sollen sie dann bitte gute Bildung vermitteln?" Es sei ein Widerspruch, das "Jahrzehnt der Bildungschancen" einzuläuten, aber im Koalitionsvertrag den grassierenden Lehrermangel zu ignorieren, so Gohlke weiter. Perspektivisch seien 100.000 neue Lehrer unumgänglich. Das sei aber ohne eine dauerhafte Mitfinanzierung des Bundes nicht zu stemmen.