Flüchtlingspolitik: Warum wem "tatsächlich unbürokratisch geholfen" wird

Frank Bernhardt

Die "Festung Europa" ist weit davon entfernt, ihre Tore für alle Menschen in Not zu öffnen. Symbolbild: Engin_Akyurt auf Pixabay (Public Domain)

Mitleid greift dort, wo ein Feind des Westens ein bestimmtes Land angreift, sagt Freerk Huisken. Aus einem Gespräch über die Neuauflage der deutschen Willkommenskultur

Der Krieg in der Ukraine erzeugt, wie aus allen bisherigen Kriegen bekannt, eine große Fluchtbewegung. "Auf acht bis zehn Millionen" werde die Zahl der aus der Ukraine wachsen, so die Prognose von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich früher immer nur für eine "begrenzte Anzahl" von Flüchtlingen ausgesprochen hat, wollte zügig 100.000 aufnehmen. Anderswo, gerade in den osteuropäischen Staaten, gibt es ebenfalls eine erstaunliche Offenheit zur Aufnahme weiterer Kontingente.

Mehr als 700.000 waren bereits Mitte Mai in Deutschland erfasst, genaue Zahlen sind wegen Weiter- und Rückreise nicht bekannt. Es gibt eine Aufnahmebereitschaft, die es bislang für Kriegsflüchtlinge aus anderen Gebieten so noch nie in Deutschland gegeben hat – stattdessen: Beschäftigungsverbote, Gutscheine statt Geld etc. – was alles der Abschreckung diente.

Eins kann man hier also schon vorwegnehmen: In der neuen deutschen Flüchtlingspolitik zeigt sich deutlich eine Ungleichbehandlung, die eine Unterscheidung zwischen wertvollen und vermeintlich minderwertigen Menschen vornimmt.

Die 180 Grad-Wende – äußerst selektiv

Deutschland hat den Milliarden-schweren Waffenlieferungen und dem noch teureren Aufrüstungsprogramm – wie schon 2015 von der Zivilgesellschaft gefordert und dann von Kanzlerin Merkel ("Wir schaffen das!") verbindlich gemacht – wieder eine Willkommenskultur hinzugefügt.

Dazu seien hier einige zentrale Aussagen des emeritierten Hochschullehrers Freerk Huisken aus einem Interview bei "99 zu eins" zusammengefasst.

Freerk Huisken, der an der Universität Bremen zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors forschte, arbeitet an der marxistischen Zeitschrift Gegenstandpunkt mit und hat zum Thema Flüchtlingspolitik zwei Bücher vorgelegt: 2016 die Flugschrift "Abgehauen - eingelagert, aufgefischt, durchsortiert, abgewehrt, eingebaut" und 2020 die "Flüchtlingsgespräche 2015ff.", die sich als Hilfe zur Auseinandersetzung mit den "Ja-aber-Deutschen" in Sachen Ausländerfeindlichkeit verstehen und die auf Diskussionen des Autors bei seinen zahlreichen Vorträgen und auf die darauf entstandene Korrespondenz rekurrieren.

Der neue Umgang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine – was passiert hier und inwiefern hat sich tatsächlich etwas verändert?

Freerk Huisken: Selbst der bürgerlichen Presse ist aufgefallen, dass im "Umgang mit Flüchtlingen" doch "erhebliche Veränderungen" vorgenommen worden sind. Zur Erinnerung: Noch Ende letzten Jahres hatte Polen seine Grenze zu Belarus brutal gegen einige tausend Flüchtlinge abgedichtet. Und dabei auch Tote in Kauf genommen. Für die freie Presse werden die hässlichen Folgen der "Festung Europa" mit dem "Massensterben im Mittelmeer", den "Lagerbränden in Griechenland" und der "Konzentration" von "aufgefischten" Flüchtlingen in Lagern in Libyen etc. mit einem gewissen moralischen Bedauern, aber eben als unvermeidbar zur Kenntnis genommen.

Und dann die besagte 180 Grad-Wende: enorme Menschenmassen, die vor dem Krieg flüchten, werden jetzt in den Anrainerstaaten Polen, Rumänien usw. aufgenommen. Also in Staaten, die ihre Grenzen fast lupenrein abgedichtet hatten oder jeden Flüchtling abwiesen.

"Herrschende Ausländerfeinde"

Eine große Hilfewelle zeichnet jetzt ganz Europa aus, Bürger bieten Hilfe an, die weit über die deutsche Willkommenskultur von 2015 hinausgeht. Und das wird von der Politik, den "herrschenden Ausländerfeinden", total befördert. Moralische Heuchelei ist bei allen Politikern angesagt, um sich und die Bürger zu Hilfeleistungen zu verpflichten.

Diese plötzlich wieder entdeckte Aufgabe kann natürlich irritieren. Um die "europäische Glaubwürdigkeit"sorgen sich daher die Schrei ber von der Vierten Gewalt, die sich ja als Diener am Wirken der Staatsgewalt verstehen.

Wenn jetzt unbedingt gehandelt werden muss, wäre ja die rein logische Konsequenz die Öffnung der Außengrenzen Europas für alle Flüchtlinge, die sich in den "Lagern stauen." Bzw. umgekehrt müsste man, um die Glaubwürdigkeit zu erhalten, die Grenzen zur Ukraine wie überall abschotten. Statt dessen soll man zwei diametral sich gegenüberstehende Umgangsweisen – die einen werden mit offenen Armen aufgenommen, die anderen aus Syrien, Afghanistan usw. haben hier nichts zu suchen – sinnvoll finden.

Jetzt, in Kriegszeiten gehört sich also überhaupt kein Zweifel an den staatlichen Umgangsweisen mit Problemfällen; da müssen die verlogenen Begründungen der Politik "glaubwürdig" für die Bevölkerung "rüberkommen", das weiß die Presse. In diesen Zeiten bedarf es der völligen Übereinstimmung von Volk und nationaler Führung. Alles andere würde die Parteilichkeit für den Krieg stören und damit den Fortgang des Sterbens…

Man könnte sagen, der Umgang war früher mit den Flüchtlingen aus Afghanistan, Afrika, Asien insgesamt anders und hatte nicht den Zweck, Flüchtlingen zu helfen. Jetzt hat sich doch konkret etwas geändert, den Flüchtlingen aus der Ukraine wird tatsächlich geholfen. Ein Zustand, der doch wünschens- und begrüßenswert ist, oder?

Freerk Huisken: Diese neue, politisch initiierte Willkommenskultur ist überhaupt nicht "selbstlos." Ihr Zweck ist nicht die Bewältigung des Elends der Flüchtlinge, in das sie durch den Krieg gebracht wurden. Wenn die Politik eingesehen hätte, dass Jahrzehnte ihrer Abschottungspolitik falsch waren und bei den Ukrainern jetzt die Kehrtwende vollzogen werden müsste, dann wäre doch gleich die Frage fällig, wieso nur bei den Ukrainern?

Warum nicht bei den Elendsgestalten aus den Lagern Griechenlands oder Kenias, bei den Kriegsflüchtlingen aus Syrien, Libyen, dem Jemen usw.? Der erste Schluss, den es also zu ziehen gilt: Es ist augenscheinlich, "dass Flüchtlinge, nicht gleich Flüchtlinge sind". Genügend Menschen aus anderen Kriegs- und Krisengebieten, die hier Schutz suchen wollten, sind ja abgewiesen worden. Und an solchen Schutzsuchenden fehlt es weiterhin nicht.

Willkommenskultur mit eindeutig politischen Ambitionen

Nach 2015 rückte die deutsche Politik sehr schnell wieder von ihrer Willkommenskultur ab und kehrte zur knallhart ausgrenzenden Ausländer- und Asylpolitik zurück. Immer wieder gab es Berichte, dass besonders schutzbedürftige behinderte Menschen oder Asylsuchende mit psychischer Erkrankung in Nacht- und Nebelaktionen und mit Fußfesseln abgeschoben wurden.

Nun wird den Flüchtlingen aus der Ukraine tatsächlich – ohne Antragstellung, ohne Feststellung der Personalien etc. – unbürokratisch geholfen. Allerdings liegt der Grund nicht in der Notlage einer Ukrainerin, die mit ihren Kindern auf einem deutschen Bahnhof ankommt. Was Moral und öffentliches Mitleid antreibt, ist vielmehr das Kriegselend, das Putin anrichtet.

Wenn ein Feind des Westens, verschrien als der "neue Hitler", ein bestimmtes Land angreift, greift das Mitleid: bei einem der ärmsten und korruptesten Länder Europas, das die USA, die EU und Deutschland mit Milliardenbeträgen auf den Weg zum Werte-Westen mit Demokratie und Marktwirtschaft gesponsert und zu einem Frontstaat gegen Russland aufgebaut haben.

Wenn Putin hier angreift, ist das ganze Gefüge der westlichen Weltordnung in Unordnung und was Waffen- und Flüchtlingshilfe betrifft, sind keine Grenzen gesetzt! Die ukrainischen Flüchtlinge sind dann die "Opfer des bösen Feindes", der um jeden Preis "ruiniert" gehört (womit übrigens auch sein Volk in Haftung genommen wird).

Erinnert sei an die historische Rolle der Dissidenten - wörtlich jemand, "der mit seiner Herrschaft nicht übereinstimmt"; diese kamen aus der mittlerweile eingemeindeten DDR oder aus der UdSSR und galten als die Kronzeugen für die "Gewaltherrschaft" der "Unrechtsregime", die man damit anprangerte, um das Feindbild zu pflegen.

Flucht in Länder, die den Krieg weiter befeuern

Die blutige Ironie der Geschichte ist, dass die Menschen, die sich den tödlichen Gefahren ausgesetzt sehen und möglichst vor Zerstörung und Gewalt wegzukommen versuchen, dann im Westen landen. Ohne die vom Westen und der Nato schon Jahre vor dem Einmarsch der russischen Armee gelieferten Waffen wäre aber der Krieg gar nicht zustande gekommen.

Jeder Flüchtling gilt natürlich jetzt als "Kronzeuge für die Unmenschlichkeit" Putins. Dazu kommt, dass mit jedem Flüchtling die vielen Fehlurteile über den Krieg und den allein verantwortlichen Diktator verfestigt werden.

Das Elend der Flüchtlinge soll uns zwingen, dem Ruf Selenskijs nach "Waffen, Waffen, Waffen" in noch größerem Maße nachzukommen, um den "Aggressor" zu vertreiben und gleich ganz unschädlich zu machen. Letzteres ist der Zweck dieser immensen Aufrüstungsbemühungen, bloße Flüchtlingshilfe ist es nicht.

Die aktuelle Flüchtlingspolitik ist also "Teil deutscher Kriegspolitik". Sie ist Teil des Krieges gegen den alten Feind Sowjetunion, der seine Wirtschaft als gescheitert angesehen hatte, und des neuen Feindes Russland, der trotz seiner Übernahme marktwirtschaftlichen Wirtschaftens, sich die Feinschaft des Westens zugezogen hat.

Denn aufgrund seiner Atomwaffen meint er, auch Ansprüche an seine unmittelbaren Nachbarn und in der Weltpolitik (Syrien, Mali, etc.) zu haben. Das dulden die früher als Weltpolizist gescholtenen USA nicht. Daher der lange geplante Krieg des Westens gegen seinen Todfeind.

Wie wirkt sich die neue Flüchtlingspolitik auf die Flüchtenden aus?

Freerk Huisken: Deutschland und die Anrainerstaaten der Ukraine haben tatsächlich alle Regeln und gesetzlichen Vorschriften, mit denen sie den sonstigen Flüchtlingen in abweisender Absicht begegnen (Schikanen, Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Drittstaatenregelung...), außer Kraft gesetzt. Jetzt gilt der Pass des ukrainischen Flüchtlings praktisch als "Touristenvisum."

Die "Massenrichtlinie", die man geschaffen hatte, um die Flüchtenden aus Jugoslawien abzuwehren, und die nie zur Anwendung kam, wird jetzt für die Ukrainer aktiviert. Manch einer sieht durch diese Flüchtlingspolitik den Frieden im Land gefährdet... Bedenkenträgern fällt dabei gar nicht auf, dass die politische Führung in Deutschland hier Ernst macht, dass sie Krieg führt, zwar noch nicht mit "boots on the ground", sondern nur "from behind", dass es also mit dem "Frieden" auch schnell vorbei sein kann. Das ist keine Spekulation, sondern ein Schluss aus dem Kriegszweck.

Schulkinder: die ukrainische Identität nicht beschädigen!

Noch eine Anmerkung zum Umgang der hilfsbereiten deutschen Nation mit den Flüchtlingen, die hierzulande ankommen oder verwahrt werden. Die ukrainische Generalkonsulin in Hamburg, Frau Tübinka, hat die deutschen Kultusminister aufgefordert, dass die geflohenen Kinder aus der Ukraine nicht in "Integrationsklassen" mit Flüchtlingen aus Syrien etc. beschult werden sollen. Denn das würde die "ukrainische Identität untergraben".

Passend dazu abschließend noch eine Meldung aus der Süddeutschen Zeitung vom 27. März: In Bayern sollen Flüchtlinge ihre Unterkünfte verlassen und "Platz machen" für Ukrainer. Es handelt sich dabei um Flüchtlinge aus Afrika oder Nahost, die einer Arbeit nachgehen und schon mehrere Jahre in dem Ort leben, deren Kinder gerade eingeschult worden sind, die Arzttermine in ihrer Umgebung haben etc.

Auch in Berlin, NRW, und sonst wo gibt es ähnliche Vorhaben, den jetzt bevorrechtigten Ukrainern Hilfe zukommen zu lassen. Helfer und Hilfsorganisationen protestieren (Informationen dazu regelmäßig beim Migazin, es gibt Vorwürfe der Diskriminierung, Klagen über fehlende Mittel. Die Vierte Gewalt steht natürlich treu zu ihrem Sorgeobjekt, der Staatsgewalt. "Rassismus möchte man den Behörden … nicht unterstellen", versichert die SZ-Autorin, obwohl sie gerade das Gegenteil, die Tendenz zur Ungleichbehandlung, konstatiert.

Flüchtlingsrassismus, nämlich die Sortierung in Wertvolle und Minderwertige, zu entdecken, die Widersprüche, die sich im humanitären Standpunkt der Hilfe offenbaren, beim Namen zu nennen, Zweifel in die Güte der eigenen Nation zu säen, geschweige denn auf den Tatbestand hinzuweisen, dass "Flüchtlingspolitik als Kriegsbeteiligung" stattfindet, wäre das Letzte, was einem deutschen Journalisten in den Sinn kommt.