"Flüchtlingsfluten" und "Schlepperbanden": Menschenwürde bleibt ein Konjunktiv

Flüchtlinge nahe der Grenze zwischen Serbien und Ungarn (25. August 2015). Bild: Gémes Sándor/SzomSzed / CC BY-SA 3.0

Mediensplitter (37): Wenn es um Zuwanderung und Migration geht, geraten Sprache und Emotionen außer Rand und Band. Wo bleibt der Anstand und der Kopf, der um die größeren Zusammenhänge weiß?

Das Thema von Flucht und Asyl, Migration und Einwanderung ist ein auch medial heiß diskutiertes. Dabei werden beileibe nicht nur von Rechten oder Rechtsextremen fragwürdige Stereotype genutzt und verstärkt.

Als Beispiel sei hier ein Auszug aus einem aktuellen Artikel des Journalisten und Sozialwissenschaftlers Klaus Bachmann erwähnt, der sich vermutlich selbst (wie auch die Berliner Zeitung) als links-liberal versteht.

"Die schlimmste Gefahr" für "unsere Demokratie"

Ihm geht es darum, unter dem Titel "Die Autokratie ist ansteckend" auf "die größte Bedrohung", ja "die schlimmste Gefahr" für "unsere Demokratie" hinzuweisen.

Auf diesem Wege stellt er fest, dass nicht z.B. Big Data oder aber "die Russen" das Problem seien. Auch nicht, dass z.B. die autoritäre Führung der Türkei dem EU-Land Schweden, dessen Regierung in die Nato will, knallhart den Abbau demokratischer Errungenschaften auferlegt. Sondern Bachmann schreibt:

(…) Weit dramatischer, aber dafür fast unbeachtet von der Öffentlichkeit, wirkt sich der Einfluss internationaler Migrationsströme auf den Abbau der Demokratie aus. Nicht weil Migranten aus undemokratischen Ländern kommen oder mit Demokratie nicht viel anfangen können, sondern weil die Länder, in die sie einwandern, damit nicht zurande kommen.

Am besten sieht man das zurzeit in Großbritannien: Um die juristischen Hürden für die Abschiebung von unerwünschten Einwanderern nehmen zu können, müsste Großbritannien aus dem Europarat austreten (...)

Ein zentrales, wenn nicht das wichtigste Problem, welches demokratisch verfasste Gesellschaften immer autoritärer werden lässt, sei also "der Einfluss internationaler Migrationsströme". Kommt der Autor nicht auf die Idee, dass er hier Ursache und Wirkung ziemlich auf den Kopf stellt?

Weil und indem er nämlich offenbar die Frage nach Fluchtursachen gar nicht (mehr) stellt. Diese Sichtweise erscheint als sehr eurozentrisch, oder eben "demokratie-zentrisch".

Inwiefern die kapitalistische Weltwirtschaftsordnung, die geostrategischen Konkurrenzen von Militärbündnissen und Nationalstaaten, die entsprechenden alten und neuen Weltordnungskriege (an denen z.B. die erwähnten Briten keinen kleinen Anteil haben) weite Teile unserer Erde zunehmend buchstäblich verwüsten, und das zusätzlich dazu, wie dies die menschen- und insbesondere ebenfalls kapital-gemachte Klimakrise auf ihre Weise bewirkt – im ganzen langen Text kaum ein Wort dazu.

Stattdessen geht es dem Autor als "Demokraten" im Kampf gegen die "Diktatur" erklärtermaßen darum, einen "autokratischen Virus" zu identifizieren und zu bekämpfen, der "natürlich" von außen kommt und mit Ansteckung droht. Dieser böse Virus kommt scheinbar so unvermittelt aus dem Jenseits der Demokratien wie eben jene sogenannten "Migrationsströme". Schauen wir näher auf genau diese Metapher.

Naturalisierende Metaphern

"Strom" ist gleichsam die erste Stufe einer ganzen Kaskade von zunehmend emotionalisierenden sprachlichen Anleihen aus dem Bereich der gefährlichen Natur.

2015, im Kontext der damals sogenannten "Flüchtlingskrise", die vielmehr eine Krise der deutschen und der EU-Politik war (denn um die vielen Menschen auf der Flucht ging es dabei kaum), wurden diese über die Maßen naturalisierenden Metaphern gleichsam durchdekliniert: Flüchtlingsstrom, Flüchtlingswelle, Flüchtlingsflut, bis hin zu jedenfalls für die dann "Überrollten" potenziell tödlichen Naturkatastrophen wie Lawine und sogar Tsunami.

Eine schrecklichere Naturgewalt als ein Tsunami lässt sich kaum denken und sprachlich beschreiben. Man betrachte die Tsunamis Ende 2004 im Indischen Ozean, als durch ein Erdbeben und die folgenden Tsunamis mehr Menschen getötet wurden als zum Beispiel durch die beiden US-Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945.

"Abschottung"

Zweierlei ist bemerkenswert: Erstens kommen die Menschen auf der Flucht in diesen Metaphern als Menschen gar nicht vor, sondern nur als Teil einer amorphen Masse. In Gefahr und bedroht scheinen nicht sie, sondern diejenigen, auf die sich jene elementaren Naturgewalten hinbewegen.

Zweitens legen diese sprachlichen Bilder der Schicksalhaftigkeit nahe, dass "wir" damit gar nichts zu tun hätten und jedenfalls nicht verantwortlich wären, zum Beispiel für Fluchtursachen.

Im Sinne von: Da draußen braut sich - warum auch immer - etwas zusammen und dräut als Gefahr für uns. Kein Zufall, dass "die Schotten dicht" gemacht werden sollen wie beim sprichwörtlichen drohenden Hochwasser. "Abschottung" erscheint dann auch sprachlich folgerichtig.

Abwertung

Bleibt uns fern, geht zurück dahin, wo ihr herkommt und wo ihr hingehört. Lasst uns in Ruhe, stört unsere Kreise nicht. All dies steckt in der Verwendung jener Metaphern von "Strom" bis "Tsunami". Und wertet Menschen ab.

Wie es auch die Sprachwissenschaftlerin Constanze Spieß formuliert:

Die Verwendung von Metaphern zum Thema Zuwanderung und Migration, die Bedeutungsaspekte wie "große Gefahr" (Naturkatastrophe) oder eine "nicht endende, große Bewegung" (Wasserlauf) fokussieren, engt die Sicht auf den Sachverhalt ein. Und mehr noch: Metaphern wie Strom, Welle, Lawine und Tsunami tragen dazu bei, dass die Personengruppe der Migrant_innen sprachlich negativ kontextualisiert und bewertet wird.

Ironie der Geschichte, wenn auch eine böse: Sofern diese "Flüchtlingsströme" wenn schon nicht als Folge struktureller Zwänge der "regelbasierten Weltordnung", aber doch zumindest mal als menschengemachte betrachtet und diskutiert werden, dann in herrschenden Diskursen von Medien und Politik vor allem auf eine Weise.

Sprachliche Programme

Dahinter steckten "Schlepper", ja "Schlepperbanden". Also deutlich negativ markierte Typen, die "aus der Not der Menschen" (da tauchen die Flüchtenden dann doch mal auf, bevor man sie im Mittelmeer ertrinken lässt) auf böse Weise Gewinn machten. Als ob es legale Möglichkeiten gäbe, z.B. in die EU zu gelangen.

In etwas anderen Zusammenhängen hießen Menschen, die Ähnliches taten (und tun), "Fluchthelfer". Sprachlich das komplette Gegenprogramm zu den "Schlepperbanden". Gut gegen Böse. Klar, wenn zwei das Gleiche tun, ist es bestimmt nicht dasselbe. Aber ziemlich sicher auch nicht das ganz Andere.

Vielleicht hilft hier ebenfalls, mit Blick auf versuchte Grenzübertritte, die alte Frage: Cui bono? Wem nutzt es?

"Die Würde des Menschen"

Und da wären wir schließlich wieder beim Text vom Anfang: Bei "Migrationsströmen" geht es Klaus Bachmann zufolge (ja nur) um "unerwünschte Flüchtlinge". Aus Sicht der Herrschaften und der Beherrschten im Globalen Norden. Kein Vergleich mit dringend erwünschten zuwandernden Fachkräften für die jeweiligen Staaten und Standorte.

"Die Würde des Menschen" bleibt eben, wie schon Wiglaf Droste wusste, im Rahmen der Verhältnisse ein Konjunktiv. Der konjunkturellen Schwankungen unterworfen ist. Wenn nicht gar wogenden Wellen.