Foucault: Philosophie gegen die wertebasierte Weltordnung

Foto: Thierry Ehrmann, Flickr / CC BY 2.0 Deed
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Ein Buch von Michel Foucault erscheint nach 50 Jahren – mit scharfer Kritik am Westen Was der Denker damit bezweckte? Analyse einer Streitfigur.
Die von Suhrkamp als "kleine Sensation" gefeierte Publikation des seit 1966 verschollenen oder zurückgehaltenen Buches Der Diskurs der Philosophie offenbart eine fundierte Kritik an der normativen Basis einer westlich dominierten wertebasierten Weltordnung.
Das Buch des damals gerade als Gegenspieler des marxistischen Sartre berühmt gewordenen Michel Foucault ist unter anderem eine tiefgreifende Begründung seiner Ablehnung jeglicher "Großtheorien", mit denen "Großdenker" wie etwa Habermas auf die universale Geltung westlicher Werte und ihrer globalen Normativität pochen.
Foucault verweist demgegenüber auf die Verstrickung des erkennenden Subjekts in das Labyrinth seiner eigenen und der Geschichte der Philosophie, der allgemeinsten kulturellen Form, "in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist".
Die vermeintlich ewigen Werte westlicher Aufklärung, ihrer liberalen Demokratien verblassen für Foucault hinter "dem Ereignis". Das ist Foucaults Arbeitsgrundlage, wie wir weiter unten noch sehen werden. Die Kritik von Psychiatrie, Gefängnis und Bio-Politik sind die Basis seiner Ethik.
Verdrängt in deutschen Diskursen: Foucault – "Was is’n das für’n Typ?"
40 Jahre nach seinem Tod toben immer noch symbolische Kämpfe um Michel Foucault. Er war ein Denker, der die Machtregime mit seiner Kritik ins Mark traf und viele Menschen zum Widerstand motivierte. Das gefällt nicht jedem.
In der TV-Sendung "Mit Aufklärung aus der Krise?" gönnte Wissenschafts-Talkmaster Gert Scobel der Darstellung von Foucault nur 60 Sekunden. Im Philosophie-Talk interviewte Scobel den Schriftsteller und Philosophen Wolfram Eilenberger zu dessen neuem Buch "Geister der Gegenwart: Adorno, Foucault, Feyerabend, Sontag".
Scobel beginnt mit Foucault und der schon etwas despektierlichen Frage an Eilenberger (Min 2:20): "Was is’n das für’n Typ?"
Eilenberger: "Ein schwieriger Typ, beschwerter Typ, der ..."
Scobel laut dazwischen: "Depressiv!"
Eilenberger: "... depressiv, Selbstmordversuche, er wird psychiatrisiert als Student, Elektroschocks. Aber er denkt darüber nach, wer eigentlich das Problem ist, wo das Problem liegt. Das ist etwas, worum es bei Aufklärung geht, dass man immer eine Sprache sucht für das, was einen beschwert ... er war homosexuell, nicht ganz bei Sinnen in seiner Jugend. Er hat dafür eine Sprache gefunden ... Und er hat auch gesagt: Was ihr da an der Akademie lehrt, ist übrigens großer Unsinn."
Scobel lenkt ab, zeigt auf Eilenbergers Handgelenk: "Du hast da ja ein Taylor Swift-Armband!" (kichert).
Eilenberger steigt darauf ein, man redet weiter über Popmusik, Wissenschaft und Faschismus.
Foucault, der "lachende" und "laszive" Philosoph
Foucault, "der lachende Philosoph", hätte sicher auch hier, angesichts der naiven TV-Fortsetzung seiner Pathologisierung, geschmunzelt, zumal er solch entlarvende Entgleisungen gerne provozierte. Erste größere Bekanntheit hatte er hierzulande 1993 durch einen reißerischen Spiegel-Artikel erlangt: "Der Mensch verschwindet", der sich auf seine erotischen SM-Neigungen kaprizierte.
An den Anfang setzte der Spiegel halbseitig das wohl laszivste Foucault-Bild, das man finden konnte: Der Philosoph blickt verträumt, den Knöchel des rechten Zeigefingers zwischen den Lippen, Bildunterschrift: "Foucault 1978: Lust und Qual, Begierde und Raserei in der Liebe zu jungen Männern".
Foucault, "die Sphinx der Postmoderne" sei fasziniert von "Wahn und Terror, Lust und Qual, Begierde und Raserei", so der Spiegel, sein Aids-Tod sei mit seiner "sadomasochistischen Sexualität" verbunden.
Das nächste Bild zeigt eine Drittelseite mit schwarzledernen SM-Utensilien, untertitelt mit: "Foucault-Revier San Francisco: Grenzerfahrung mit Lederkappe und Penisklemme", Foucault habe den "sozialgeschichtlichen Horror-Klassiker" Überwachen und Strafen und eine großangelegte Geschichte der Sexualität geschrieben, seinen ersten Suizidversuch schon mit 21 unternommen.
Über seine Philosophie und Machtkritik lernte das Publikum, wie bei Scobel 30 Jahre später, eher wenig. Das ist schade, denn Foucault zog nicht ohne Grund den Zorn auch alter und neuer Rechtsideologen auf sich. Sozialarbeitende schätzen seine sensible Aufmerksamkeit für Machtwirkungen.
Sabine Hark, Professorin für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, hält etwa Foucaults Beitrag zur Entstigmatisierung queerer Lebensweisen für bedeutend.
Das umfangreiche Werk Foucaults wird von der Achsentrias Wissen-Macht-Subjekt durchzogen. Diese Achsen korrelieren stets miteinander, sodass in keiner Werkphase eine Themenachse isoliert für sich gedacht wird. (…) Die foucaultsche Selbstverständlichkeit, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, berührt zwangsläufig Grundfragen Sozialer Arbeit als Disziplin und Profession. Dergestalt darf Michel Foucault als moderner Klassiker der Sozialen Arbeit gelten.
Socialnet.de
Foucault und die akademische Philosophie in Deutschland
Foucault habe wenig über Philosophie geschrieben, seine Themen seien nicht die der Philosophen: der Wahnsinn, das Krankenhaus, das Gefängnis, die Sexualität monierte noch 1991 der Foucault-Kritiker Rudi Visker.
Die Philosophie Foucaults scheint für Philosophen hinter seiner historischen Arbeit an Diskursen zu verschwinden, so Wilhelm Schmid, der erst durch Lektüre der vielen Interviews ein Verständnis von Foucaults Ethik der Lebenskunst gewinnen konnte. 1
Das "Foucault-Lexikon" des Wissenschaftstheoretikers Michael Ruoff kennt nur das Stichwort "Philosophie (praktizierte)", für das es ganze vier Absätze übrig hat und Foucault so zitiert: "vielleicht ist Philosophie die allgemeinste kulturelle Form, in der wir darüber nachdenken können, was der Westen ist". Foucault habe die Bezeichnung "Philosoph" 1970 deutlich abgelehnt, sie sei ein "Professorenberuf".2
Mächtiges Hindernis einer deutschen Foucault-Rezeption war vermutlich die eloquente Polemik, die der staatstragende "Großdenker" Jürgen Habermas 1985, also ein Jahr nach Foucaults Tod, mit "Der philosophische Diskurs der Moderne" vorlegte; eine Abrechnung mit der französischen Postmoderne, insbesondere mit Foucaults Machttheorie.
Habermas versuchte wortreich, Foucault in die Nähe des in Deutschland mehr als in Frankreich als Nazi-Philosoph angesehenen Heideggers zu rücken. Als Nachfahre und Erneuerer der Kritischen Theorie vertritt Habermas eine Begründung von Wahrheit, Vernunft und Normen durch sein Ideal eines "herrschaftsfreien Diskurses".
Foucault kritisierte dagegen, wie durch Diskurse Herrschaft ausgeübt wird, indem eine normierende Vernunft in Macht-Wissens-Komplexen die Subjekte unterwirft. Das kam nicht gut an bei Katheder-Philosophen, die oft glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben und wenig Neigung zeigen Machtstrukturen zu analysieren – zumal nicht in ihrer eigenen, streng hierarchischen akademischen Welt. Es brauchte einen Generationenwechsel, um zu weniger feindseligen Einschätzungen zu kommen.
Der Ex-Assistent von Habermas und Direktor der berühmten "Frankfurter Schule", Axel Honneth, ließ dort 2001 eine viel beachtete "Foucault-Konferenz" stattfinden, die eine differenziertere Sicht zeigte; 1988 hatte sich Honneth selbst noch, Habermas folgend, polemisch an Foucault gerieben; dessen Machttheorie sah er "am Ende zu einer systemtheoretisch reduzierten Version der Dialektik der Aufklärung verkümmern".3
Subversion der gegebenen Gesellschaftsform
In seinem Einführungstext zum Foucault-Tagungsband 2003 scheint Honneth Abbitte für Habermas' Polemik leisten zu wollen, grenzt Foucault pointiert von Heidegger ab, stellt ihn in die Tradition des späten Wittgenstein.
Ziel Foucaults sei die Subversion der gegebenen Gesellschaftsform gewesen; sein Werk habe die Humanwissenschaften tiefgreifend verändert. Foucault habe den "paradigmenbildenden Kern einer Disziplin, sei es die der Psychoanalyse, der Sexualwissenschaft oder der Kriminologie" entzaubert.4
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, so Honneth, hätte viel früher von den Einsichten Foucaults lernen sollen.
Wenn auch einige Foucaults Ethik der Lebenskunst und Selbststilisierung für narzisstisch, neoliberal und transhumanistischer Selbstoptimierung zuneigend halten, plädierte doch etwa der Philosoph Florian Goldberg im Deutschlandfunk unter Berufung auf Foucault für eine philosophische Selbstsorge jenseits des Optimierungswahns, der es um Denken, Fühlen und Handeln gehen solle.
Die Nonkonformisten
Honneth findet faszinierend, dass Foucaults Werk sich lange Zeit nicht über öffentliche Debatten oder akademische Lehre verbreitet hatte, "sondern im Untergrund einer ungeordneten Vielzahl von informellen Lesezirkeln, autonomen Tutorien und randständigen Publikationen".5
"Es waren die Nonkonformisten der Szene, die Foucault den Weg geebnet haben...", merkt auch der Historiker Brieler 2004 an und fragt:
"Was soll er sein? Ein liberales Foucaultchen für die Lebenskunst – oder der Funke, an dem sich die Kritik der Gegenwart entzündet?"
Vielleicht sogar die Kritik an westlichen Machteliten?
Foucault und die deutsche Geschichtswissenschaft
Fast mehr noch als die Philosophen fremdelten die traditionell konservativen deutschen Geschichtswissenschaftler mit Foucault.
Der Historiker Ulrich Brieler zitiert den Kollegen Urs Jaeggi, der Foucault schon 1976 polemisch verreißt, seinen angeblich "fast paranoischen Eifer" geißelt und "die Radikalität dieses Anti-Humanismus, die Wut"; Brieler kommentiert nicht weniger erregt: "Geifer orchestrierte diesen Text und eröffnet damit ein völlig neues Genre: die Foucault-Philippika", also Strafpredigt. 6
Deutsche Geschichtswissenschaft wird Foucault nur spät, langsam und widerwillig zur Kenntnis nehmen, so Brieler, es seien meist jüngere Leute vom Fach, die seine Diskursanalyse anwenden.
Der Historien-Nestor Hans-Ulrich Wehler dagegen habe den inzwischen weltberühmten Ideenhistoriker bis in die 1990er-Jahre zu ignorieren versucht, dann aber "einen regelrechten Kreuzzug gegen Foucault entfesselt"; Wehler habe sein Werk als "verantwortungslos", "scharlatanesk" und "hasserfüllt" bezeichnet, als "gigantische Verschwörung gegen die Moderne":7
"Jenseits dieses Schlachtengeheuls hat Wehlers Brandrede auch andere Gründe. Schließlich muß(!) ein Verdammungsurteil hart erarbeitet sein. Nicht jeder kommt in den Genuß(!) des 'Kreuziget ihn!'."8
Die deutsche Geschichtswissenschaft, mutmaßt Brieler, habe Probleme mit Foucault, weil er mit seiner Diskurs- und Machtanalyse ihre Anbiederei bei den Herrschenden und deren Ideologie einer machtkonformen Modernisierung zu entlarven drohe.
Zur Ehrenrettung der Zunft ist anzumerken, dass der Hamburger Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Hans-Jürgen Goertz den Ansatz von Foucault 1995 als "eindrucksvollen Dienst" an der historischen Wissenschaft lobte; 2001 kritisierte Goertz ebenfalls Wehlers Diffamierungen, der Foucault als "Rattenfänger für die Postmoderne"9 bezeichnet habe:
"Foucault könnte noch postum Bewegung in eine stagnierende Geschichtswissenschaft bringen."
Eine Revolutionierung?
Traditionelle Historiker glauben oft, aus der Geschichte ewige Wahrheiten ableiten zu können – was Foucault überzeugend konterkarierte. Ein von Foucault aus Nietzsches Denken gewonnener Kernsatz der Genealogie lautet, so der mit Foucault befreundete Althistoriker Paul Veyne:
"Die Vergangenheit ist ein riesiger Friedhof toter Wahrheiten."10
Veyne, wie Foucault Professor am Pariser College de France, sieht in dessen "Archäologie" eine Revolutionierung der Geschichtswissenschaft. Foucault habe auf den verborgenen Teil eines "Eisbergs der Geschichte" aufmerksam gemacht: Auf Netze von Machtstrukturen und Praktiken, deren Knotenpunkt das Subjekt ist.
Daraus leite er ab, dass Philosophie und Historie höchstens ebenso "provisorische" Wahrheiten generieren, wie die Naturwissenschaften.11 Foucault sei "ein Krieger" gewesen, seine Auffassung von Wahrheit als "Ontologie unserer selbst"12, suche nach Wahrheiten, die dem Subjekt hier und jetzt helfen, sich gegen Machtstrukturen zur Wehr zu setzen.
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