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Freie Einwanderung - ein Menschenrecht?

Pilger von der Mayflower. Bild: Antonio Gisbert (1834-1902)/gemeinfrei

Über Gemeinschaftseigentum, wirtschaftliche Fragen der Einwanderung, moralische Argumentationen und ihre Berechtigung

Viele Linke, für die "kein Mensch illegal" ist, und viele (nicht alle!) Libertäre und andere Ultra-Liberale reden einer unbeschränkten Einwanderung das Wort. Während die typische freimarktideologische Argumentation auf die wirtschaftlichen Vorteile (nicht aber die realweltlich auch vorhandenen Nachteile) von grenzenloser Beweglichkeit von Kapital und Arbeit für Produktivität und Wirtschaftswachstum verweist, operieren Libertäre bei der Einwanderung gerade auch mit moralischen und Menschenrechts-Argumenten und treffen sich hier mit den linken Befürwortern freier Einwanderung.

In diesem Essay soll es um die moralischen Argumentationen und ihre Berechtigung gehen. Zuvor will ich aber im nächsten Abschnitt für bessere Sicht auf das Wesentliche die wirtschaftlichen Fragen anreißen und aus dem Weg räumen, da wirtschaftliche Vorzüge von Einwanderung in der heutigen politischen und medialen Diskussion oft unkritisch angenommen und mit Menschenrechtsfragen vermischt werden.

Teil 1: Wann, in welcher Form und für wen ist Einwanderung wirtschaftlich nützlich?

Sicher ist: Unterbesiedelte Länder mit ungenutztem Land und Rohstoffen profitieren von Einwanderung, wenn Arbeitskraft und Fachwissen der Neuankömmlinge an der richtigen Stelle eingesetzt werden. Ein historisches Beispiel ist die mittelalterliche Urbarmachung der Elbniederungen im heutigen Ostdeutschland durch Einwanderer vom Niederrhein, die sich mit Entwässerung und Deichbau auskannten.

Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch in solchen Fällen Alteingesessene durch die Einwanderung Nachteile erfahren. Die slawischsprachige Bevölkerung des mittelalterlichen Ostelbien dürfte über die Massenimmigration Deutschsprachiger wenig erbaut gewesen sein.

Extremfälle sind aus der Geschichte der USA, Australiens und Südafrikas bekannt, wo die Einwanderer (darunter politische Flüchtlinge wie die "Pilgerväter" und Vertriebene wie die australischen Sträflinge) die Alteingesessenen allein durch ihre Ansiedlung de facto enteigneten, ganz abgesehen von genozidalen Handlungen, die es ebenfalls gab. Dass die später als Pioniere glorifizierten Täter die Landnahme kaum als Enteignung wahrnahmen, hat auch damit zu tun, dass Gemeinschaftseigentum ohne Titel im westlichen Recht nicht den gleichen Schutz genießt wie Privateigentum.

Unterm Strich ist dennoch klar, dass die Masseneinwanderung von Europäern nach Nordamerika, Australien und Südafrika die Wertschöpfung aus der dortigen Natur vervielfacht und daher mehr Wohlfahrt für eine größere Zahl von Menschen ermöglichte, wenn auch nicht unbedingt zum Vorteil der Alteingesessenen.

Um Einwanderung in ein noch zu entwickelndes Land geht es aber in den aktuellen politischen Diskussionen nicht. Heute geht es um Einwanderung in bereits hoch entwickelte, teils dicht besiedelte Länder mit sozialen Sicherungssystemen.

Empirisch sind die wirtschaftlichen Wirkungen von Einwanderung in solche Länder schwerer zu fassen und auch umstritten. Wenn zu der Bevölkerung eines Industrielandes von 50 Millionen zehn Millionen Einwanderer dazukommen, dann wächst die Wirtschaft, schon weil zusätzliche Leistungen in Einzelhandel, Verwaltung, Bildung, Bauwirtschaft und Medizin gebraucht werden, um die Neubürger zu versorgen. (Die landwirtschaftliche Produktion und Lebensmittelverarbeitung kann dagegen in hochentwickelten, dicht besiedelten Ländern meist nicht mehr erheblich gesteigert werden.)

Alles davon bringt aber auch Kosten für die Allgemeinheit mit sich (für Schulen, Infrastruktur, Sozialleistungen oder durch Landschaftsversiegelung) und für diejenigen Teile der Altbevölkerung, die mit Eingewanderten um Ressourcen konkurrieren.

Zwar steigen das Bruttosozialprodukt, die Steuereinnahmen und die Einzahlungen in die Sozialkassen in absoluten Zahlen im Vergleich zur Situation ohne Einwanderung. Doch ob bei Einwanderung in ein hochentwickeltes soziales Land auch das Bruttosozialprodukt pro Kopf, die Einnahmen der Sozialkassen pro Kopf und der Wohlstand pro Kopf steigen, ist unsicher.

Für ein besseres Ausnutzen der Produktionskapazitäten und Entwicklungspotenziale und auch für bessere Dienstleistungen ist jedenfalls ungeregelte Einwanderung auf hohem Niveau prima facie weniger geeignet als andere Maßnahmen. Geeigneter wären beispielsweise besser auf den Bedarf abgestimmte Ausbildung (Deutschland braucht keine 50% Akademiker!), geregelte Einwanderung ausgewählter Personen, Automatisierung, bessere Entlohnung oder Bedingungen für Mangelberufe (Altenpflege), Verbesserung von Verkehrs-, Einkaufs- und Freizeitinfrastruktur in solchen ländlichen Regionen, wo Arbeitskräfte gesucht werden, Mobilisierung wenig produktiver Gruppen (wie arbeitsloser Älterer oder geringfügig Arbeitender), und der Einsatz von Ferienjobbern, Zivildienstleistenden und vorübergehend ins Land geholten Arbeitern bei Engpässen.

Anders als irreführend im Titel und dem Beginn der Zusammenfassung suggeriert, befand auch eine Bertelsmann-Studie [1] von 2014 keineswegs, dass Einwanderung in der bislang praktizierten Form Deutschland fiskalisch nutze. Vielmehr fordert die Studie eine Veränderung der Einwanderungspraxis hin zu Höher- und Höchstqualifizierten, weil nach der bisherigen Praxis Eingewanderte über den Lebenslauf im Schnitt und unterm Strich und bei Berücksichtigung aller Staatsausgaben dem Staat mehr Kosten verursachten als Alteingesessene und als sie einbrächten.1 [2] (Die Berechnungen und Schlüsse der Bertelsmann-Studie in dieser sehr komplexen Bilanzierungsfrage scheinen mir teils anzweifelbar; das soll aber hier nicht Thema sein.)

Eine andere häufig zitierte Studie stammt aus Großbritannien. Diese Studie [3] stellt eine für den britischen Staat positive Bilanz durch EU-Einwanderer fest. Diese ergibt sich für die Jahre vor 2000, weil die EU- bzw. EG-Zuzügler nach Großbritannien im vergangenen Jahrhundert oft arbeitende Menschen in hochbezahlten Stellen waren (z.B. in der Finanzbranche), demnach hohe Steuern zahlten und wenig Sozialleistungen benötigten.

Auch für die EU-Einwanderung der 2000er Jahre aus Osteuropa ist der Saldo positiv, obwohl diese Menschen im Schnitt geringer verdienten, und zwar hauptsächlich aufgrund einer demographischen Verzerrung. Als nach dessen EU-Beitritt Arbeitsmigranten aus Polen nach GB kamen, waren das überdurchschnittlich häufig Menschen im jungen erwerbsfähigen Alter mit guter Gesundheit, oft noch ohne Familie.2 [4]

Dies ist typisch für den Beginn einer Arbeitsmigration: Fast alle Eingewanderten sind zunächst selbst erwerbstätig. Die Gruppe hat somit bessere Kennzahlen als die Eingesessenen. Wird der Aufenthalt dauerhaft und Familie nachgeholt oder gegründet, bei gleichzeitiger Alterung, sinkt der Anteil der Erwerbstätigen an der Migrantengruppe, und die finanzielle Bilanz der Gruppe verschlechtert sich.

Seltener berichtet wird, dass die gleiche britische Studie nicht nur EU-Einwanderer betrachtete, sondern auch Einwanderer aus Ländern außerhalb der EU. Bei den Einwanderern von außerhalb der EU (als Gruppe) war die Einnahmen/Ausgaben-Bilanz des britischen Staates negativ und minimal schlechter als bei alteingesessenen Briten.3 [5] Bei dieser Gruppe fiel die Verzerrung aufgrund der Altersstruktur geringer aus, da Nicht-EU-Einwanderer im Vergleich mit den Osteuropäern im Schnitt länger im Land leben, eher Familie haben und etwas älter sind, jedoch noch immer jünger als eingesessene Briten.

Aufenthaltstitel. Bild: Wikimedia [6]/gemeinfrei

Nicht berücksichtigt sind bei solchen Fiskalbilanzen problematische Effekte auf den Wohnungsmarkt (die indirekt womöglich die Geburtenrate der Einheimischen senken oder deren Auswanderung begünstigen könnten), Verluste bei Eingesessenen durch Lohneinbußen oder Jobverlust wegen der Einwanderung (Anzeichen für Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt sind in den Daten der britischen Studie m.E. sichtbar4 [7]), aber auch Gewinne durch verbesserte Produktivität und den Import von Bildungszertifikaten, die der Staat nicht bezahlt hat, zum Schaden allerdings der Herkunftsländer.

Mehmet Uğur, einwanderungsfreundlicher britisch-türkischer Wirtschaftswissenschaftler, fasste 2007 für einen Sammelband der UNESCO damalige Studien zu den wirtschaftlichen Effekten der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und vergleichbaren Zonen freier Bewegung so zusammen5 [8]:

Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Freizügigkeit sehr wahrscheinlich einen positiven Effekt auf den gesellschaftlichen Wohlstand in den empfangenden Ländern hat, obschon das Ausmaß der Wohlstandsgewinne klein ist, höchstwahrscheinlich unter einem Prozent des BIP.

Weiter verweist Uğur darauf, dass die unterste Einkommensschicht der Eingesessenen Verluste erleidet und dafür entschädigt werden sollte.

Pauschalisieren lassen sich all diese Ergebnisse aber nicht. Es sind bei Einwanderung in hochentwickelte Länder die Bedingungen im Einzelfall zu betrachten. Zwischen Staaten mit sehr ähnlichen Systemen und Wohlstandsniveaus - etwa um 1990 Deutschland, Frankreich, Benelux - wird Migration auf niedrigem Niveau in alle Richtungen gehen und keine Verwerfungen verursachen.

Einwanderung von zehn Millionen Menschen binnen einer Dekade ist etwas völlig anderes als die von einer Million Menschen in der gleichen Zeit. Asylrechtswanderung aus Somalia mit seinen hohen Analphabetenraten wird sich anders auswirken als Arbeitsmigration von Polen nach Deutschland, wieder anders die Niederlassung reicher Steuerflüchtlinge. Migration kann demographische oder fiskalische Nöte verbessern, aber auch verschlimmern, wenn sie netto die Rate der Transferabhängigen erhöht, statt sie zu senken [9].

Zudem können durch hohe Einwanderungsraten Nachteile entstehen, die in Wirtschaftswissenschaftler-Rechnungen unberücksichtigt bleiben. Hier seien nur zwei genannt: Hohe ethnische Diversität beeinträchtigt das Leistungsniveau in Schulklassen, was in stratifizierten Schulsystemen wie dem Deutschen die soziale Ungleichheit stärkt.6 [10]

Ein hoher Anteil an Migranten und Migrantennachkommen unter den Hilfebeziehern, wie heute etwa in Schweden [11], ermöglicht es Lobbyisten oder Demagogen, menschliche Instinkte der Gruppenkonkurrenz zur Stimmungsmache gegen Sozialleistungen oder die Eingewanderten einzusetzen, was so oder so ein Land zum Schlechteren verändert.

Dass freie Einwanderung ein wirtschaftliches oder demographisches Allheilmittel und unter allen Bedingungen "Einwanderung für alle gut" sei, ist jedenfalls empirisch falsch.

Teil 2: Die moralische Argumentation für freie Einwanderung

Gegen Besitzstandsdenken der eingesessenen Verlierer der Einwanderung wird manchmal utilitaristisch argumentiert: Wenn der Wohlstand des Empfängerlandes vielen Neueinwanderern aus armen Ländern große individuelle Gewinne beschert, ist der Wohlstand besser verteilt, nämlich auf mehr Personen.

Da darf dann der eingesessene Verlierer nicht so kleinlich sein und nur seinen vergleichsweise kleinen Verlust betrachten. Häufiger noch werden grundsätzliche Gerechtigkeitsargumente herangezogen: Es sei ungerecht, Einwanderern jene Chancen und Vorteile zu verweigern, die man selbst genieße und für sich wünschen würde, wäre man in der gleichen Lage.

Syrische Flüchtlinge in Budapest, Septmeber 2015. Bild: Mstyslav Chernov [12]/CC BY-SA 4.0 [13]

Niemand in Deutschland oder Großbritannien habe per Geburt das Vorrecht, besser zu leben als ein neu ins Land kommender Bulgare oder Nigerianer. Entweder wird der Verweis auf die Gerechtigkeit meritokratisch bis sozialdarwinistisch unterlegt, also damit, dass ein fauler (oder kranker?) Eingesessener keineswegs mehr Rechte haben dürfe (eher weniger, so schimmert häufig durch) als ein hoch leistungswilliger Neueinwanderer.

Oder die "Gerechtigkeit" der freien Einwanderung wird mit einem quasi-naturrechtlichen Gleichheitsgrundsatz begründet: Da alle Menschen auf der Welt als Menschen gleich(berechtigt) seien und der Menschenwürdegrundsatz für sie gelte, stehe Eingesessenen kein höheres Anrecht auf deutschen Wohlstand und deutsche Sozialhilfe und zu als irgendjemandem sonst auf der Welt.

Neben den auf Nutzenmaximierung und Gerechtigkeit verweisenden Argumenten gibt es außerdem noch die Annahme eines Menschenrechts auf Freizügigkeit: Es sei ein Grundrecht jedes Menschen, sich frei zu bewegen und seine Arbeitskraft anzubieten, wo er wolle. Dieses Grundrecht auf freie Bewegung dürfe nicht eingeschränkt werden, da es nicht in die Rechte anderer eingreife.

All diese Argumentationen negieren implizit Rechte auf kollektives Eigentum ohne Eigentumstitel. Diese Negation ist sachlich und logisch falsch, wie gleich zu zeigen ist.

Teil 3: Der Staat und seine Ressourcen als Gemeinschaftseigentum

Wie an den Indikatoren des Human Development Index abzulesen, haben Bürger Deutschlands ein materiell besseres und längeres Leben und besseren Zugang zu Bildung als die meisten anderen Menschen auf diesem Planeten. (Am Rande bemerkt: Dies galt sogar für die Bürger der DDR.)7 [14]

Entgegen einer verbreiteten Annahme ist die Ursache für diese global gesehen günstige Position deutscher Bürger eher nicht in ausbeuterischem Verhalten gegenüber Entwicklungsländern zu sehen. Heute unter teils schlechten Bedingungen in ärmeren Ländern produzierte Waren wie Textilien hat Deutschland noch um 1980 in großer Menge selbst hergestellt; ob das Schwinden der hiesigen Textilproduktion durch Billigkonkurrenz unterm Strich gut für Deutschland war, ist zumindest fraglich.

Die Haupt-Rohstofflieferanten Deutschlands sind durchweg Länder, die auf Augenhöhe verhandeln können [15]. Afrika oder der nahe und mittlere Osten spielen eine vernachlässigbare Rolle. Das Bauxit, das Deutschland aus Guinea bezieht, ließe sich morgen durch solches aus Australien ersetzen, ohne dass Deutschland ärmer wäre oder Guinea reicher.

Billig-Exporte von Hähnchenteilen und -Innereien nach Westafrika, zur Freude städtischer Afrikaner und zum Ruin dortiger Produzenten, sind problematisch (es handelt sich allerdings um eine komplexere Frage [16], als meist angenommen [17]), aber nicht der Grund für deutschen Wohlstand. Sie machen nur einen winzigen Teil der deutschen Agrarexporte aus.

Billige Getreideexporte in einige arabische Länder sind kein Vergehen an diesen Ländern, sondern für diese lebenswichtig, weil sie sich wegen exponentiell wachsender Bevölkerung bei beschränktem agrartauglichem Land nicht mehr selbst versorgen können. Selbst ohne die unmoralischen Exporte der Rüstungsindustrie und die Fischereirechtsmissbräuche vor Afrikas Küsten wäre Deutschland ein Land mit Spitzenposition im Human Development-Index.

Ihre im Weltmaßstab privilegierte Position verdanken die deutschen Bürger zu einem Teil sich selbst, indem sie in großer Mehrheit Steuern zahlen, nicht schwarzarbeiten, Beamte nicht bestechen, als Beamte nicht die Hand aufhalten, sich generell an Regeln, wie die Verkehrsregeln, halten, keine Fehden zwischen Religions- und Volksgruppen austragen, keine bewaffneten Aufstände beginnen (auch dann nicht, wenn Regierungen Entscheidungen treffen, die die Mehrheit der Bevölkerung ablehnt), gewissenhaft ihrer Arbeit nachgehen, ihre Kinder in die Schule schicken und dergleichen.

Zum größeren Teil verdanken die Bürger Deutschlands aber ihre guten Lebensbedingungen neben historischen Zufällen natürlich Taten aus vergangener Zeit: solchen der Arbeiterbewegung, gesellschaftlich engagierter Ärzte, Aufklärer und Sozialreformer, guten Entscheidungen von Politikern und des demokratischen Souveräns.

Ein Beispiel ist die Entscheidung, die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung staatlich (kommunal) zu organisieren, um Cholera und Typhus loszuwerden. Was passiert, wenn der Staat im Sanitärwesen schlampt und auf privatwirtschaftliche Initiative wartet, hat die letzte Choleraepidemie in Hamburg [20] gezeigt und zeigt Indien bis heute. Wohlgemerkt ist Indien nicht ärmer, als die meisten Städte Deutschlands es waren, als hier die Wasserinfrastruktur gebaut wurde.

Ein weiteres wichtiges Beispiel für eine gute Entscheidung in der Vergangenheit ist die, kostenlose Schulen und eine allgemeine Schulpflicht einzuführen sowie die staatlichen Schulen mit gut bezahlten Akademikern als Lehrer zu bestücken statt mit Personen, die selbst nur knapp lesen können und gute Noten gegen Hilfe auf dem Feld vergeben. Oder die Entscheidung, gesetzliche Renten bzw. Beamtenpensionen einzuführen und für Menschen, die sich nicht selbst ernähren können, eine Grundsicherung, was einen davon enthebt, für Bestechungsgelder die Hand aufzuhalten oder acht Kinder zu bekommen, um in Krankheit oder Not die Versorgung zu sichern. Und so weiter, und so weiter.

Dieser Staat samt Infrastruktur und Institutionen ist ererbtes und gepflegtes Gemeinschaftseigentum. Deutsche Bürger haben ein viel kleineres mittleres Vermögen als Bürger in südlichen EU-Staaten ohne Grundsicherung wie Italien, Spanien oder Griechenland,8 [21] auch deshalb, weil sie über Generationen mehr in Gemeinschaftseigentum investiert und sich auf die Gemeinschaft statt auf Familie und Vitamin B verlassen haben und verlassen konnten.

Die privatwirtschaftlich-industrielle Wohlstandsmehrung basiert mit auf Nutzung des Gemeinschaftseigentums, beispielsweise Chemiker- und Ingenieursausbildungen an staatlichen Schulen und Universitäten, Verkehrsinfrastruktur, die Sicherheit der Wirtschaft vor der Mafia oder Räuberbanden und teils auch direkter staatlicher Unterstützung der Großindustrie.

Die guten Lebensbedingungen in Deutschland sind also größtenteils ererbt. Sie werden aber nur durch dauernde aktive Beteiligung der jetzigen Bevölkerung und Eliten aufrechterhalten. Oder eben nicht, wie beispielsweise die "Reform" des Rentensystems durch die Schröder-Regierung zeigt, ebenso der Verkauf der Post an Private, während der Staat die Altlasten behielt [22], oder der Rückzug des Staates aus dem Wohnungsbau, die alle das Gemeinschaftseigentum schwächten.

Teil 4: Grenzenloser Zugriff auf Gemeinschaftseigentum?

Viele libertäre und andere Idealisten sind nun der Meinung, dass Bürger ähnlich organisierter Staaten wie Deutschland kein Recht hätten, den Zugang zur Gemeinschaft mit ihrem Eigentum und dessen Vorteilen zu beschränken.

Merkwürdig nur, dass die rigoros und hochmoralisch daherkommenden menschenrechtlichen, utilitaristischen und meritokratischen Argumente den meisten Befürwortern unbeschränkter Einwanderung nur noch wenig gelten, sobald es um Privateigentum geht.

Hier wird dann gerne darauf verwiesen, Privatvermögen sei ja bereits ein Resultat individueller Leistung. Doch welche individuelle Leistung haben die Kinder von Häuslebauern erbracht, oder von Personen, die von Warlords der Ottonenzeit abstammen [23] und deren Familien seitdem mit riesigem Grundbesitz gesegnet sind?

Hamburg, Elbchaussee. Bild: AltSylt [24]/CC BY-SA 4.0 [25]

Ist das ererbte Privatvermögen einmal groß genug, braucht es gar keine Leistung mehr, lediglich eine nicht krass inkompetente Verwaltung mit einem Zeitaufwand von wenigen Stunden im Monat, um auf Dauer erhalten zu bleiben. Zudem ist es naiv zu glauben, dass "selbst erwirtschaftete" große Vermögen, wie jenes von Bill Gates, das Einkommen von Spitzenmanagern oder von Investmentbankern in einem ethisch und sachlich vertretbaren Verhältnis zur Leistung stünden.

In allen genannten Fällen beruht die Geldschwemme auf Formen von Marktversagen. Spitzenmanager sind mächtig und vernetzt genug, ihre Gehälter weitgehend selbst zu bestimmen. Investmentbanker und -firmen nutzen die Privilegien der Banklizenz oder strukturell bevorteilte Plätze in einem Spielcasino (z.B. die Möglichkeit zum sekundengenauen Verkauf riesiger Aktien- oder Devisenmengen zwecks Ausnutzen winzigster Kursschwankungen oder Marktmacht bzw. Absprachen zum Beeinflussen von Preisen bei Wetten).

Bill Gates hat einst mit dem Erwerb von Patersons DOS-System und seinen Kontakten zu IBM den Hauptgewinn in einem globalen Markt gezogen, in dem es nur wenige Gewinner geben konnte. Der Markt für PC-Betriebssysteme (wie auch für Internet-Handelsplattformen, Suchmaschinen oder Soziale Netzwerke) hat es an sich, dass die Kunden nicht Vielfalt wünschen, sondern nutzen wollen, was schon alle anderen haben.

Zu sagen, hochentwickelte, dicht besiedelte Staaten mit viel Gemeinschaftseigentum müssten jeden willigen Einwanderer als Bürger aufnehmen, ist so, wie zu fordern, Susanne Klatten, der Hochadel, Eigenheim-Erbauer und überhaupt jeder mit Besitz müssten jeden, der das beantragt, adoptieren, mit allen Rechten auf das Vermögen. Auch da wird utilitaristisch der Nutzen über mehr Personen verteilt. Auch da wären unter den Bewerbern um die Adoption sicher Leute, die leistungsfähiger oder leistungswilliger sind als die leiblichen Kinder der Besitzenden und die mit dem Besitz Produktiveres anfangen würden. Wer das eine bejaht, kann das andere nicht verneinen.

Der Trick libertärer wie auch linker Argumente für freie Einwanderung liegt natürlich darin, dass die Existenz eines funktionierenden Staatswesens und daraus erwachsender Vorteile als Eigentum einfach ignoriert wird. Sie ist aber nicht zu ignorieren, weil vorhanden.

Die potenziellen Einwanderer wissen dies am besten. Einwanderer kommen heute bevorzugt gerade in jene Staaten, die über großes Gemeinschaftseigentum ("gute Institutionen", Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialfürsorge, Altersversorgung, Arbeitsschutz u.v.a.m.) verfügen. Dies lässt sich an den Wanderungsbewegungen innerhalb der erweiterten EU wie auch an den primären Zielländern von Asylsuchenden ablesen.

Wenn Einwanderer sich in Staaten wie Deutschland, Niederlande, Großbritannien, der Schweiz oder Schweden niederlassen wollen, dann geht das alle an, die dort am Gemeinschaftseigentum Anteil haben. Ganz besonders aber die unmittelbaren Einwanderungsverlierer, die anders als von Mehmet Uğur vorgeschlagen (siehe Teil 1) bisher nicht entschädigt wurden und werden.

Fazit: Gemeinschaftseigentum ist erstens vorhanden, zweitens für die Teilhaber eminent wichtig und drittens vererbbar.

Warum vererbbar?

  1. Die Bereitschaft zum Beitragen zur Gemeinschaft basiert auf deren Verlässlichkeit in der Zukunft: Jeder Steuer- und Abgabenzahler geht davon aus, dass er sich zu Lebzeiten, aber darüber hinaus auf die Gemeinschaft verlassen kann und dass auch seine Kinder und Kindeskinder, gute Freunde und der kranke Cousin staatlich abgesichert sind und von Segnungen wie kommunaler Abwasserentsorgung und hochwertigen kostenlosen Schulen etc. profitieren. Sonst würde die Zahlungsmoral bei Steuern und Sozialabgaben rapide sinken, schwarz gearbeitet, privat gespart und Korruption und Klientelwirtschaft nähmen zu. Verlässlichkeit und Vererbbarkeit sind Bedingungen dafür, dass Gemeinschaftseigentum entsteht und erhalten wird.
  2. Gemeinschaftseigentum ist immer aus Leistungen einzelner oder aus Privateigentum entstanden. Es ist daher moralisch und logisch nicht zu rechtfertigen, ihm weniger Schutz (oder Vererbbarkeit) zuzugestehen als dem Privateigentum.

Teil 5: Eigentum verpflichtet, aber nicht zwangsläufig zu liberaler Einwanderungspolitik

In allen gut funktionierenden Staaten ist natürlich das Privateigentum eben nicht vollständig vor dem Zugriff anderer geschützt. Es gibt Regeln darüber, was und wie viel abgegeben werden muss, um Gemeinschaftsanliegen zu finanzieren. Abgeben für die Gemeinschaft liegt dabei auch im Eigeninteresse der Geber. Denn alle, auch die Wohlhabenden, profitieren vom Gemeinschaftseigentum.

Obwohl oft geleugnet, gilt das sogar für die Hilfe zum Lebensunterhalt. Eine gut auskömmliche Grundsicherung für Bedürftige hält den Staat stabil und schützt ihn vor Revolten, senkt die Eigentumskriminalität, beugt der Verbreitung von Seuchen wie Tuberkulose vor und lässt auch die Mittelschicht ruhiger schlafen, da man weiß, dass man in unerwarteten Notsituationen versorgt wäre.

Analog zum Privateigentum verpflichtet natürlich auch Gemeinschaftseigentum. Wie beim Privateigentum wird ein funktionierender Staat demokratisch regeln, inwiefern Gemeinschaftseigentum nicht oder nicht nur den derzeitigen Eigentümern, also den eigenen Bürgern, zu Gute kommt, sondern an Dritte abzugeben ist. Wie bei der Erhebung von Steuern und Abgaben sind die Motive dafür nicht nur humanitär, sondern auch selbstdienlich.

Häufig werden Ziele verfolgt, die auch etwas Positives an die Geber zurückfließen lassen: Sei es die Arbeitskraft und Freundlichkeit einer neu eingewanderten Altenpflegerin, die Hoffnung auf Reziprozität bei Katastrophenhilfe, die Hoffnung auf spätere Geschäftsbeziehungen bei Studienstipendien für die Elite von Drittländern, die Beförderung des eigenen guten Rufs oder die Stärkung von Humanität und Solidarität in der eigenen Gesellschaft durch gemeinschaftliche Hilfe für Dritte.

Eine ethische Verpflichtung besteht zudem zu Hilfe für Menschen in Drittländern, für deren Misere man eine Mitverantwortung trägt. (Deutschland hat meines Erachtens eine Mitverantwortung für fast alle Balkanländer. In Albanien z.B. hat man als Beteiligter an dem Gespann EU-Kommission, IWF und Weltbank geholfen, ein noch halbwegs organisiertes Entwicklungsland mittels Schocktherapie, Zerstörung vorhandener Strukturen und untauglichem, aber "pro-westlichem" Personal binnen weniger Jahre komplett dysfunktional zu machen.)

Einwanderung ist aber nur eine Möglichkeit, Dritte teilhaben zu lassen, und humanitär und entwicklungspolitisch gesehen nicht unbedingt die effizienteste. Leute aus Entwicklungsländern auszubilden und sie danach wieder zum Besten ihrer Länder zurückzuschicken, wäre langfristig und global betrachtet womöglich besser, als die Ausgebildeten zu deren und hiesiger Nutznießer Freude hierzubehalten.

Schüler in Helmand, Afghanistan. Bild: ISAF [26]/CC BY 2.0 [27]

Will man Menschen in akuter Überlebensnot helfen, so kann man oft aufgrund des Preisgefälles mit dem gleichen Geld in den Heimatländern oder in primären Fluchtländern viel mehr Personen helfen, als wenn man sie bei uns aufnimmt. Lässt man mit lokalen Arbeitern in Afghanistan eine Schule mit Berufskolleg bauen und finanziert dauerhaft die Lehrer und deren Ausbildung, kostet das pro Jahr weniger, als hier einen einzigen minderjährigen afghanischen Flüchtling zu betreuen, hat aber für mehr Menschen positive Effekte.

Auch das utilitaristische Argument pro freie Einwanderung ist also keineswegs schlagend, da man "the greatest good for the greatest number" [28] häufig besser mit anderen Maßnahmen als mit Einwanderung erreicht. (Ich ignoriere hier, dass Menschen emotional in mancher Hinsicht anders ticken, als es der reine Utilitarismus fordert und utilitaristisch korrektes Handeln daher oft schwer durchzusetzen ist.)

Fazit der Teile 3 bis 5: Ein universelles Recht auf freie Einwanderung existiert nicht nur derzeit nicht. Es lässt sich auch moralphilosophisch unter heutigen realweltlichen Bedingungen nicht überzeugend begründen.

Teil 6: Desolidarisierung im Inneren und grenzenlose Solidarität nach außen gehen nicht zusammen

Die Grundwerte und -Einstellungen hinter der offenen Hand, die Privat- oder Gemeinschaftseigentum an Dritte verteilt, sind die gleichen. Kurzfristig-egoistische Instinkte und solche der Verwandtenliebe müssen zugunsten von langfristig orientierten Motiven indirekter Selbstdienlichkeit und von clanübersteigender anonymer Großgruppensolidarität überwunden werden. Hinzu kommen Motive des reinen empathischen Altruismus, das Vertrauen in den Kooperationswillen anderer und darauf, dass sie Solidarität nicht als Trittbrettfahrer ausnutzen oder missbrauchen werden. All diese Motive und Einstellungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Weil die gleichen Grundhaltungen hinter dem Abgeben stehen, gleich, ob Privat- oder Gemeinschaftseigentum betroffen ist, könnte man eigentlich davon ausgehen: Je solidarischer eine Gemeinschaft im Inneren ist, je großzügiger und vertrauensvoller sie im Inneren Privateigentum an die Gemeinschaft verteilt, desto eher werden ihre Mitglieder bereit sein, vom Gemeinschaftseigentum an Dritte abzugeben. (Jedenfalls dann, wenn die Begrenzung der Solidarität auf die eigene Volks- oder Sprachgemeinschaft so desavouiert ist, wie in den germanischen Ländern Europas der Fall.)

Die Grundwerthaltung der deutschen Eliten hat sich nun aber in den letzten 25 Jahren hin zu weniger Solidarität mit den kleinen Leuten und zu weniger Verpflichtung der hoch Verdienenden und hoch Vermögenden verändert. In der deutschen Politik gibt es von Steuerrecht bis Krankenversicherung fast keinen Bereich, der nicht davon betroffen wäre.9 [29] Zuletzt fehlte sogar für die Renovierung von Brücken oder Schulen angeblich das Geld, trotz Null-Zinsen auf staatliche Neuschulden.

Was die Solidarität nach außen betrifft, so war es Deutschland, das die perfiden Dublin-Regelungen einst ersann und sie jahrelang von anderen strengstens beachtet wissen wollte. Die deutsche Politik hat auch über ein Dreivierteljahr Hilferufe der UN betreffs der Ernährungssituation von Flüchtlingen im Libanon und Jordanien ignoriert, wo es um Hilfe in höchster Not ging, für Menschen, die sich allesamt nicht freiwillig in Gefahr begeben hatten.

Die jüngst im Kontext Flüchtlingskrise beschworenen "europäischen Werte" der Menschlichkeit und Solidarität haben keinen Eingang in das hauptsächlich von Deutschland formulierte Grundlagendokument der heutigen Eurozonen-Wirtschaftsordnung gefunden, den Maastricht-Vertrag, der fiskalische, aber keine sozialstaatlichen oder steuerlichen Mindeststandards einfordert. Die EU-Kommission und die angebliche Mutter der Hilfesuchenden Merkel haben zudem in diesem Frühjahr mit boshafter Härte den Armen Griechenlands einen Mehrwertsteuersatz von 23 % auf Brot und andere wichtige Nahrungsmittel aufgezwungen, ohne eine Silbe der Kritik aus einem deutschen Leitmedium.

Nun geht aber Deutschland plötzlich massive freiwillige Verpflichtungen für Dritte ein. Denn es handelt sich um freiwillige humanitäre Verpflichtungen, wenn man Personen, die über Österreich kommen, in Deutschland ins Asylverfahren nimmt.10 [30] Deutschland könnte sowohl gemäß Genfer Konvention als auch Dublin-Verordnung als auch Grundgesetz alle diese Personen soweit möglich an der Grenze zurückweisen (z.B. Asylverfahrensgesetz § 18 (2), 1. und 2., und § 18 (3)), mit Methoden, die man auch den eigenen Bürgern gegenüber bei Blockaden oder Widerstand gegen die Staatsgewalt anwendet.

Flüchtlingsströme am Grenzübergang Gevgelija, Mazedonien. Bild: Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres [31]/CC BY 2.0 [32]

Die von weiten Teilen der deutschen Eliten, insbesondere auch den Medien, über Monate beteuerte und befeuerte Hilfsbereitschaft ohne Obergrenze gegenüber den heute aus fernen Ländern als Asylsuchende Kommenden steht also im Gegensatz zum jahrzehntelangen systematischen Zurückfahren der Solidarität und der Gemeinschaftsleistungen im eigenen Land aus angeblichen Kostengründen und auch zu den sichtbaren politischen Prioritäten in der EU seit den Neunzigern.

Es sind wegen dieses Gegensatzes Spekulationen über finstere kapitalistische Absichten hinter der offenherzigen Schutzsuchendenaufnahme (nach Überstehen eines Hindernisparcours) aufgekommen. Die offizielle und offiziöse Darstellung allerdings ist, dass die moralische Verpflichtung zur Menschlichkeit Grund für die Aufnahme sei. Daraus könnte man schließen, dass offenbar die Solidarität bei unseren Eliten wieder Vormacht gewinnt über Härte und Egoismus der Besitzenden.

Das muss sie allerdings auch. Will man nämlich jetzt den Frieden in der Gesellschaft bewahren, so müssen von dem plötzlich so offenen Herzen und Geldbeutel auch die profitieren, die schon hier sind und die neu Einwandernden als direkte Konkurrenten um Ressourcen erleben. Die immerhin von einem ultraliberalen Wirtschaftswissenschaftler erhobene Forderung nach Entschädigung und Schutz der Einwanderungsverlierer muss endlich aufgenommen werden.

Es gäbe Möglichkeiten, die geringer Verdienenden und prekär Arbeitenden der Post-Agenda-2010-Ära von ihren realen Nöten auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt und begründeten Ängsten vor Abstieg oder Altersarmut zu entlasten. Will man solche Maßnahmen nicht, muss man sich allerdings fragen, ob man mit dieser so sehr medial sichtbar gemachten Asyl-Wanderungswelle (zusätzlich zu starker EU-Migration in die Ballungsräume!) den sozialen Frieden in Deutschland gezielt an die Wand fährt und/oder einen Vorwand sucht, die Grundsicherung nach dem Vorbild der südeuropäischen Ländern massiv zu beschneiden oder abzuschaffen.

Wenn man sieht, wie eine maßgebliche Figur einer lange durch unerlaubte Geschäftspraktiken glänzenden deutschen Großbank über die Asylmigration ins Schwärmen gerät, mit nach Irreführung riechenden Argumenten,11 [33] und im gleichen Atemzug davon redet, einige Regeln der sozialen Sicherung müssten wegen der Einwanderung "überprüft" werden, so kann einem in der Tat unheimlich werden.

Teil 7: Entschädigung der Einwanderungsverlierer konkret gemacht

Die folgenden Vorschläge sind bescheiden und umfassen nur Dinge, die einem sozialen Staat seinen Bürgern gegenüber eigentlich selbstverständlich sein sollten. (Zur Finanzierung am Schluss.)

  1. Das ALG II für Erwachsene sollte um ca. 60 Euro erhöht werden, und Sanktionen sollten sich auf den Wegfall der 60 Euro über dem soziokulturellen Existenzminimum beschränken. Grund: Das Verfassungsgericht hat im Kontext des Asylbewerberleistungsgesetzes festgestellt, dass das menschenwürdige Existenzminimum (Existenzsicherung und bescheidene Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben) nicht unterschritten werden darf.12 [34] Vielfach wurde in der öffentlichen Diskussion über Leistungssenkungen zur Fluchtanreizvermeidung darauf hingewiesen, dass aus Gründen der Menschenwürde kein Abstrich am vollen Satz möglich sei. Die Leistung wird an Menschen im Asylverfahren auch dann voll gezahlt (bzw. in Sachleistungen ausgegeben), wenn der Asylbewerber bei der Identitätsfeststellung nicht kooperiert, wenn seine Geschichte unglaubwürdig wirkt oder wenn von vornherein klar ist, dass kein Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz besteht. Selbst nach Ablehnung des Antrags und Versäumen der Ausreise wurde bisher regelmäßig weitergezahlt (die neueste Erschwerung sieht eine Reduktion auf das Lebensnotwendige vor). So weit ist es im Agenda-Deutschland gekommen, dass ALG II-Bezieher Asylbewerber um die Verlässlichkeit dieser Zahlung beneiden müssen. Wenn nach Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes das soziokulturelle Existenzminimum nicht unterschritten werden darf, so darf das nicht nur für Asylsuchende gelten, sondern erst recht für Bürger dieses Staates, die jahrelang hier Steuern und Abgaben gezahlt haben. Daher muss die Regelung fallen, wonach erlaubt ist, ALG II-Beziehern bei Kooperationsmängeln (um die Verweigerung einer Arbeitsaufnahme geht es fast nie) das Existenzminimum für Monate zu kürzen, und zwar empfindlich, im Wiederholungsfall und bei Personen unter 25 auch auf Null und potenziell zeitlich unbegrenzt [35]. Diese Sanktionen verstoßen nicht nur gegen die Menschenwürde. Sie bedrohen Betroffene in ihrer körperlichen Existenz. Eine Sanktionsmöglichkeit kann sinnvoll sein. Diese darf aber aus den genannten Gründen nicht das Existenzminimum beschneiden, sondern nur Zusatzleistungen treffen. Ein Zuschlag für erwachsene erwerbsfähige ALG II-Bezieher von 60 Euro, der bei schlechter Kooperation befristet entfallen kann, erfüllt diesen Zweck. Man kann das "Bewerberbonus" o.ä. nennen. Es sollte kommuniziert werden, dass diese Änderung eine für die Betroffenen positive Folge der Flüchtlingswelle ist. Das kann Einstellungsänderungen bewirken.
  2. Eingesessenen Arbeitslosen sollen sinnvolle, gewünschte Umschulungen, Ausbildungen oder Fortbildungsmaßnahmen nicht länger aus Kostengründen verweigert werden. Das Knausern hier ist Betroffenen nicht vermittelbar, wenn der Staat zugleich frisch eingetroffenen Personen aus dem Ausland intensiv Schulung und Förderung gewährt oder ihnen den Herzenswunsch nach einem bezahlten Studium in Deutschland erfüllt. Zudem sollten Altersgrenzen bei Ausbildungen abgeschafft oder wesentlich nach oben verschoben werden (derzeit ist durch § 10,1 und 10,3 AGG Altersdiskriminierung bei der Ausbildung gedeckt [36]). Grund: Neueinwanderer verdrängen nicht selten mittelalte oder ältere prekär Arbeitende, diesen muss statt Schikane Unterstützung für sinnvolle Qualifizierung zukommen. Auch die klassische Lehre im dualen System sollte für interessierte Ältere geöffnet werden, falls es tatsächlich an Nachwuchs mangelt. Wenn die Vergütung für den Lebensunterhalt nicht reicht, kann Aufstockung sinnvoll eingesetzt werden. Ein Vierzigjähriger Hiesiger mit perfektem, Deutsch und gut erhaltener Mittelstufenmathematik ist für eine Ausbildung in Handwerk oder Industrie nicht per se weniger geeignet als ein 24jähriger Neuling mit schwachem Deutsch und Mängeln bei den Grundrechenarten.
  3. Wer Rentenpunkte erworben hat und/oder während seiner in Deutschland verbrachten erwerbsfähigen Zeit nie oder wenig staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch genommen hat (also geringer verdienende Erwerbstätige, ob angestellt oder selbstständig), darf im Alter nicht frisch eingetroffenen Fremden oder lebenslangen Hilfebeziehern gleichgestellt sein. Die Grundsicherung im Alter muss um eine individuell variable Summe aufgestockt werden, die sich nach einer festzulegenden Formel aus negativ eingehendem bisherigem Hilfebezug und den positiv eingehenden Rentenpunkten berechnet. Die Höhe der Aufstockung liegt dann zwischen 0 (lebenslanger Hilfebezug und keine Rentenpunkte) und x (kein Hilfebezug, Rentenanwartschaft im Bereich der Höhe der Grundsicherung); über die Höhe von x muss man nach Finanzierbarkeit entscheiden.
  4. Die Teilnahme an neu angebotenen kostenlosen Sprachkursen für Asylmigranten sollte auch langjährig hier befindlichen Arbeitsmigranten erlaubt sein. Unter den Verlierern der Einwanderung der letzten 10 Jahre sind langjährig ansässige ältere Arbeitsmigranten, von denen ein erheblicher Teil nie Sprachkurse angeboten bekam. Die Teilnahme an den Vollzeit-Intensivkursen für Spätaussiedler der 1990er Jahre hatte man lernwilligen Arbeitsmigranten der Gastarbeitergeneration verwehrt.
  5. Unterlaufen des Mindestlohns muss unterbunden werden, auch und gerade durch mehr Kontrollen auf Schwarzarbeit. Beauftragen von Schwarzarbeit sollte Straftatbestand werden. Bei Schwarzarbeit in Kombination mit Asylbewerberleistungsbezug oder ALG II-Bezug sollten Neueinwanderer in den ersten fünf Jahren ihren Aufenthaltsstatus verlieren (was deutlich kommuniziert werden muss). Es gibt keinen Grund, warum die Gemeinschaft Menschen aufnehmen soll, die zwar die Rosinen eines solidarischen Staates mit Gemeinschaftseigentum picken, aber nicht die Nachteile in Form eigener Pflichten akzeptieren.
  6. Die in Deutschland aufgelaufenen Infrastrukturinvestitionen muss man zügig angehen. Das in der Praxis ineffiziente EU-Vergaberecht für öffentliche Großaufträge muss dafür fallen, nicht nur für den Bau von Flüchtlingsnotunterkünften. Schuldenbremsen müssen ebenfalls fallen, falls sie die nötigen Investitionen verhindern oder zu letztlich teureren Public-Private-Partnership-Ausschreibungen führen, in denen die Schulden nicht Schulden heißen, sondern Nutzungsgebühr.
  7. Wachsende Städte müssen Wohnungsbauer werden. In der Zeit der (beinahe) Nullzinsen wäre es absurd, die Verluste des sozialen Wohnungsbaus zu sozialisieren und die Profitchancen privaten Investoren zu überlassen. Keinesfalls sollten neu gebaute Wohnhäuser allein Flüchtlingen vorbehalten bleiben, auch nicht auf Zeit. Schon um Ghettobildung zu vermeiden, müssen die Wohnungen für alle zugänglich und attraktiv sein und um der Mischung an den Schulen willen eher in Stadtteilen mit derzeit geringerem Migrantenanteil liegen. Wenn die Zahl der neu gebauten Wohnungen groß genug ist, wird der Markt entlastet und Mietpreise im Bestand können wieder sinken. Der Mietzins pro Quadratmeter kommunaler Bauten sollte einkommensabhängig variabel angepasst werden (z.B. degressiver Prozentsatz vom Haushaltseinkommen mit unterer Bemessungsgrenze in Höhe der Grundsicherung und oberer Bemessungsgrenze wie in der Sozialversicherung), mit großzügigen Sozialquoten bei der Vergabe. So können auch Einwanderungsverlierer (und Flüchtlinge) in die Neubauten ziehen. Die Kommunen können durch Belegung in eigener Hand für eine Mischung unterschiedlicher Nationalitäten und Bildungsniveaus sorgen. Städte haben derzeit kein Interesse daran, günstigen Wohnraum zu schaffen, weil dies Personen mit hohem Risiko für ALG II-Bezug von außen anlocken könnte, was am Ende Kosten verursacht. Kreative Politiker könnten dafür Lösungen finden. Ein erster Schritt wäre, die Neubauten für Personen zu reservieren, die bereits Bürger der Stadt sind (oder ihr im Rahmen des Königsteiner Schlüssels zugewiesen wurden)..

Zur Finanzierung der Maßnahmen

Wohnungsbau kann über Kredit und Verkauf eines kleinen Teils der Wohnungen nach dem Bau finanziert werden und sich dann trotz Sozialquote über die Lebensdauer der Häuser selbst tragen. Eine Volkswirtschaft kann sich längere Amortisationszeiten leisten als ein Privatinvestor. Die Finanzierung der anderen Maßnahmen dürfte über die direkten Steuern inklusive der Körperschaftssteuer möglich sein, wenn man zum bundesrepublikanischen Steuerrecht von 1985 zurückkehrt (mit der nötigen Änderung in der Vermögenssteuer, die sie verfassungskonform macht).

Größere Anstrengungen gegen Steuerhinterziehung und vor allem Steuervermeidung wären ebenfalls eine Option. Es stünde übrigens in der Macht einer großen Koalition und ihr gut an, den Schritt zur Bürgerversicherung zu gehen, das heißt: ungeachtet der widerstrebenden Partikularinteressen alle Berufssparten und Einkommensarten gesetzlich rentenversicherungs- und krankenversicherungspflichtig zu machen.


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[2] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_1
[3] https://www.ucl.ac.uk/news/news-articles/1114/051114-economic-impact-EU-immigration
[4] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_2
[5] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_3
[6] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Refugees#/media/File:Aufenthaltstitel_%28saturated%29.png
[7] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_4
[8] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_5
[9] http://www.researchgate.net/profile/Peter_Nannestad/publication/222426694_Immigration_as_a_challenge_to_the_Danish_welfare_state/links/53f5c0450cf22be01c3fa52e.pdf
[10] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_6
[11] http://www.theglobeandmail.com/globe-debate/swedens-ugly-immigration-problem/article26338254/
[12] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Migrants_at_Budapest_Keleti_railway_station#/media/File:Syrian_refugees_strike_in_front_of_Budapest_Keleti_railway_station._Refugee_crisis._Budapest,_Hungary,_Central_Europe,_3_September_2015.jpg
[13] http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/
[14] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_7
[15] https://www.muenchen.ihk.de/de/innovation/rohstoffe2/Zahlen-Daten-Fakten/Hintergrundinformationen/deutsche-rohstoffimporte
[16] http://www.topagrar.com/news/Home-top-News-Deutsche-Haehnchenreste-zerstoeren-Maerkte-in-Afrika-1363292.html
[17] http://www.novo-argumente.com/magazin.php/novo_notizen/artikel/0001506#comments
[18] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-16469-0015,_Veteranen_der_Arbeiterbewegung.jpg?uselang=de
[19] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.de
[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Choleraepidemie_von_1892
[21] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_8
[22] http://www.fb03.uni-frankfurt.de/49005923/Privatisierung_Der-grosse-Postraub_Blaetter_I_2014.pdf
[23] https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_F%C3%BCrst_zu_F%C3%BCrstenberg
[24] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hamburg_Elbchaussee_DS405n.jpg?uselang=de
[25] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de
[26] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:School_children_of_Afghanistan_in_2010?uselang=de#/media/File:Afghan_school_boys_in_Nad_Ali_village_of_Helmand.jpg
[27] http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/
[28] https://en.wikiquote.org/wiki/Jeremy_Bentham
[29] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_9
[30] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_10
[31] https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Refugees#/media/File:Arbeitsbesuch_Mazedonien_%2820900228071%29.jpg
[32] http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/
[33] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_11
[34] https://www.heise.de/tp/features/Freie-Einwanderung-ein-Menschenrecht-3376245.html?view=fussnoten#f_12
[35] http://www.hartziv.org/hartz-iv-sanktionen.html
[36] http://www.gesetze-im-internet.de/agg/__10.html