Freie Einwanderung - ein Menschenrecht?
- Freie Einwanderung - ein Menschenrecht?
- Teil 2: Die moralische Argumentation für freie Einwanderung
- Teil 3: Der Staat und seine Ressourcen als Gemeinschaftseigentum
- Teil 4: Grenzenloser Zugriff auf Gemeinschaftseigentum?
- Teil 5: Eigentum verpflichtet, aber nicht zwangsläufig zu liberaler Einwanderungspolitik
- Teil 6: Desolidarisierung im Inneren und grenzenlose Solidarität nach außen gehen nicht zusammen
- Teil 7: Entschädigung der Einwanderungsverlierer konkret gemacht
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Über Gemeinschaftseigentum, wirtschaftliche Fragen der Einwanderung, moralische Argumentationen und ihre Berechtigung
Viele Linke, für die "kein Mensch illegal" ist, und viele (nicht alle!) Libertäre und andere Ultra-Liberale reden einer unbeschränkten Einwanderung das Wort. Während die typische freimarktideologische Argumentation auf die wirtschaftlichen Vorteile (nicht aber die realweltlich auch vorhandenen Nachteile) von grenzenloser Beweglichkeit von Kapital und Arbeit für Produktivität und Wirtschaftswachstum verweist, operieren Libertäre bei der Einwanderung gerade auch mit moralischen und Menschenrechts-Argumenten und treffen sich hier mit den linken Befürwortern freier Einwanderung.
In diesem Essay soll es um die moralischen Argumentationen und ihre Berechtigung gehen. Zuvor will ich aber im nächsten Abschnitt für bessere Sicht auf das Wesentliche die wirtschaftlichen Fragen anreißen und aus dem Weg räumen, da wirtschaftliche Vorzüge von Einwanderung in der heutigen politischen und medialen Diskussion oft unkritisch angenommen und mit Menschenrechtsfragen vermischt werden.
Teil 1: Wann, in welcher Form und für wen ist Einwanderung wirtschaftlich nützlich?
Sicher ist: Unterbesiedelte Länder mit ungenutztem Land und Rohstoffen profitieren von Einwanderung, wenn Arbeitskraft und Fachwissen der Neuankömmlinge an der richtigen Stelle eingesetzt werden. Ein historisches Beispiel ist die mittelalterliche Urbarmachung der Elbniederungen im heutigen Ostdeutschland durch Einwanderer vom Niederrhein, die sich mit Entwässerung und Deichbau auskannten.
Damit ist nicht gesagt, dass nicht auch in solchen Fällen Alteingesessene durch die Einwanderung Nachteile erfahren. Die slawischsprachige Bevölkerung des mittelalterlichen Ostelbien dürfte über die Massenimmigration Deutschsprachiger wenig erbaut gewesen sein.
Extremfälle sind aus der Geschichte der USA, Australiens und Südafrikas bekannt, wo die Einwanderer (darunter politische Flüchtlinge wie die "Pilgerväter" und Vertriebene wie die australischen Sträflinge) die Alteingesessenen allein durch ihre Ansiedlung de facto enteigneten, ganz abgesehen von genozidalen Handlungen, die es ebenfalls gab. Dass die später als Pioniere glorifizierten Täter die Landnahme kaum als Enteignung wahrnahmen, hat auch damit zu tun, dass Gemeinschaftseigentum ohne Titel im westlichen Recht nicht den gleichen Schutz genießt wie Privateigentum.
Unterm Strich ist dennoch klar, dass die Masseneinwanderung von Europäern nach Nordamerika, Australien und Südafrika die Wertschöpfung aus der dortigen Natur vervielfacht und daher mehr Wohlfahrt für eine größere Zahl von Menschen ermöglichte, wenn auch nicht unbedingt zum Vorteil der Alteingesessenen.
Um Einwanderung in ein noch zu entwickelndes Land geht es aber in den aktuellen politischen Diskussionen nicht. Heute geht es um Einwanderung in bereits hoch entwickelte, teils dicht besiedelte Länder mit sozialen Sicherungssystemen.
Empirisch sind die wirtschaftlichen Wirkungen von Einwanderung in solche Länder schwerer zu fassen und auch umstritten. Wenn zu der Bevölkerung eines Industrielandes von 50 Millionen zehn Millionen Einwanderer dazukommen, dann wächst die Wirtschaft, schon weil zusätzliche Leistungen in Einzelhandel, Verwaltung, Bildung, Bauwirtschaft und Medizin gebraucht werden, um die Neubürger zu versorgen. (Die landwirtschaftliche Produktion und Lebensmittelverarbeitung kann dagegen in hochentwickelten, dicht besiedelten Ländern meist nicht mehr erheblich gesteigert werden.)
Alles davon bringt aber auch Kosten für die Allgemeinheit mit sich (für Schulen, Infrastruktur, Sozialleistungen oder durch Landschaftsversiegelung) und für diejenigen Teile der Altbevölkerung, die mit Eingewanderten um Ressourcen konkurrieren.
Zwar steigen das Bruttosozialprodukt, die Steuereinnahmen und die Einzahlungen in die Sozialkassen in absoluten Zahlen im Vergleich zur Situation ohne Einwanderung. Doch ob bei Einwanderung in ein hochentwickeltes soziales Land auch das Bruttosozialprodukt pro Kopf, die Einnahmen der Sozialkassen pro Kopf und der Wohlstand pro Kopf steigen, ist unsicher.
Für ein besseres Ausnutzen der Produktionskapazitäten und Entwicklungspotenziale und auch für bessere Dienstleistungen ist jedenfalls ungeregelte Einwanderung auf hohem Niveau prima facie weniger geeignet als andere Maßnahmen. Geeigneter wären beispielsweise besser auf den Bedarf abgestimmte Ausbildung (Deutschland braucht keine 50% Akademiker!), geregelte Einwanderung ausgewählter Personen, Automatisierung, bessere Entlohnung oder Bedingungen für Mangelberufe (Altenpflege), Verbesserung von Verkehrs-, Einkaufs- und Freizeitinfrastruktur in solchen ländlichen Regionen, wo Arbeitskräfte gesucht werden, Mobilisierung wenig produktiver Gruppen (wie arbeitsloser Älterer oder geringfügig Arbeitender), und der Einsatz von Ferienjobbern, Zivildienstleistenden und vorübergehend ins Land geholten Arbeitern bei Engpässen.
Anders als irreführend im Titel und dem Beginn der Zusammenfassung suggeriert, befand auch eine Bertelsmann-Studie von 2014 keineswegs, dass Einwanderung in der bislang praktizierten Form Deutschland fiskalisch nutze. Vielmehr fordert die Studie eine Veränderung der Einwanderungspraxis hin zu Höher- und Höchstqualifizierten, weil nach der bisherigen Praxis Eingewanderte über den Lebenslauf im Schnitt und unterm Strich und bei Berücksichtigung aller Staatsausgaben dem Staat mehr Kosten verursachten als Alteingesessene und als sie einbrächten.1 (Die Berechnungen und Schlüsse der Bertelsmann-Studie in dieser sehr komplexen Bilanzierungsfrage scheinen mir teils anzweifelbar; das soll aber hier nicht Thema sein.)
Eine andere häufig zitierte Studie stammt aus Großbritannien. Diese Studie stellt eine für den britischen Staat positive Bilanz durch EU-Einwanderer fest. Diese ergibt sich für die Jahre vor 2000, weil die EU- bzw. EG-Zuzügler nach Großbritannien im vergangenen Jahrhundert oft arbeitende Menschen in hochbezahlten Stellen waren (z.B. in der Finanzbranche), demnach hohe Steuern zahlten und wenig Sozialleistungen benötigten.
Auch für die EU-Einwanderung der 2000er Jahre aus Osteuropa ist der Saldo positiv, obwohl diese Menschen im Schnitt geringer verdienten, und zwar hauptsächlich aufgrund einer demographischen Verzerrung. Als nach dessen EU-Beitritt Arbeitsmigranten aus Polen nach GB kamen, waren das überdurchschnittlich häufig Menschen im jungen erwerbsfähigen Alter mit guter Gesundheit, oft noch ohne Familie.2
Dies ist typisch für den Beginn einer Arbeitsmigration: Fast alle Eingewanderten sind zunächst selbst erwerbstätig. Die Gruppe hat somit bessere Kennzahlen als die Eingesessenen. Wird der Aufenthalt dauerhaft und Familie nachgeholt oder gegründet, bei gleichzeitiger Alterung, sinkt der Anteil der Erwerbstätigen an der Migrantengruppe, und die finanzielle Bilanz der Gruppe verschlechtert sich.
Seltener berichtet wird, dass die gleiche britische Studie nicht nur EU-Einwanderer betrachtete, sondern auch Einwanderer aus Ländern außerhalb der EU. Bei den Einwanderern von außerhalb der EU (als Gruppe) war die Einnahmen/Ausgaben-Bilanz des britischen Staates negativ und minimal schlechter als bei alteingesessenen Briten.3 Bei dieser Gruppe fiel die Verzerrung aufgrund der Altersstruktur geringer aus, da Nicht-EU-Einwanderer im Vergleich mit den Osteuropäern im Schnitt länger im Land leben, eher Familie haben und etwas älter sind, jedoch noch immer jünger als eingesessene Briten.
Nicht berücksichtigt sind bei solchen Fiskalbilanzen problematische Effekte auf den Wohnungsmarkt (die indirekt womöglich die Geburtenrate der Einheimischen senken oder deren Auswanderung begünstigen könnten), Verluste bei Eingesessenen durch Lohneinbußen oder Jobverlust wegen der Einwanderung (Anzeichen für Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt sind in den Daten der britischen Studie m.E. sichtbar4), aber auch Gewinne durch verbesserte Produktivität und den Import von Bildungszertifikaten, die der Staat nicht bezahlt hat, zum Schaden allerdings der Herkunftsländer.
Mehmet Uğur, einwanderungsfreundlicher britisch-türkischer Wirtschaftswissenschaftler, fasste 2007 für einen Sammelband der UNESCO damalige Studien zu den wirtschaftlichen Effekten der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und vergleichbaren Zonen freier Bewegung so zusammen5:
Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Freizügigkeit sehr wahrscheinlich einen positiven Effekt auf den gesellschaftlichen Wohlstand in den empfangenden Ländern hat, obschon das Ausmaß der Wohlstandsgewinne klein ist, höchstwahrscheinlich unter einem Prozent des BIP.
Weiter verweist Uğur darauf, dass die unterste Einkommensschicht der Eingesessenen Verluste erleidet und dafür entschädigt werden sollte.
Pauschalisieren lassen sich all diese Ergebnisse aber nicht. Es sind bei Einwanderung in hochentwickelte Länder die Bedingungen im Einzelfall zu betrachten. Zwischen Staaten mit sehr ähnlichen Systemen und Wohlstandsniveaus - etwa um 1990 Deutschland, Frankreich, Benelux - wird Migration auf niedrigem Niveau in alle Richtungen gehen und keine Verwerfungen verursachen.
Einwanderung von zehn Millionen Menschen binnen einer Dekade ist etwas völlig anderes als die von einer Million Menschen in der gleichen Zeit. Asylrechtswanderung aus Somalia mit seinen hohen Analphabetenraten wird sich anders auswirken als Arbeitsmigration von Polen nach Deutschland, wieder anders die Niederlassung reicher Steuerflüchtlinge. Migration kann demographische oder fiskalische Nöte verbessern, aber auch verschlimmern, wenn sie netto die Rate der Transferabhängigen erhöht, statt sie zu senken.
Zudem können durch hohe Einwanderungsraten Nachteile entstehen, die in Wirtschaftswissenschaftler-Rechnungen unberücksichtigt bleiben. Hier seien nur zwei genannt: Hohe ethnische Diversität beeinträchtigt das Leistungsniveau in Schulklassen, was in stratifizierten Schulsystemen wie dem Deutschen die soziale Ungleichheit stärkt.6
Ein hoher Anteil an Migranten und Migrantennachkommen unter den Hilfebeziehern, wie heute etwa in Schweden, ermöglicht es Lobbyisten oder Demagogen, menschliche Instinkte der Gruppenkonkurrenz zur Stimmungsmache gegen Sozialleistungen oder die Eingewanderten einzusetzen, was so oder so ein Land zum Schlechteren verändert.
Dass freie Einwanderung ein wirtschaftliches oder demographisches Allheilmittel und unter allen Bedingungen "Einwanderung für alle gut" sei, ist jedenfalls empirisch falsch.