Freie Einwanderung - ein Menschenrecht?

Seite 6: Teil 6: Desolidarisierung im Inneren und grenzenlose Solidarität nach außen gehen nicht zusammen

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Die Grundwerte und -Einstellungen hinter der offenen Hand, die Privat- oder Gemeinschaftseigentum an Dritte verteilt, sind die gleichen. Kurzfristig-egoistische Instinkte und solche der Verwandtenliebe müssen zugunsten von langfristig orientierten Motiven indirekter Selbstdienlichkeit und von clanübersteigender anonymer Großgruppensolidarität überwunden werden. Hinzu kommen Motive des reinen empathischen Altruismus, das Vertrauen in den Kooperationswillen anderer und darauf, dass sie Solidarität nicht als Trittbrettfahrer ausnutzen oder missbrauchen werden. All diese Motive und Einstellungen können unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Weil die gleichen Grundhaltungen hinter dem Abgeben stehen, gleich, ob Privat- oder Gemeinschaftseigentum betroffen ist, könnte man eigentlich davon ausgehen: Je solidarischer eine Gemeinschaft im Inneren ist, je großzügiger und vertrauensvoller sie im Inneren Privateigentum an die Gemeinschaft verteilt, desto eher werden ihre Mitglieder bereit sein, vom Gemeinschaftseigentum an Dritte abzugeben. (Jedenfalls dann, wenn die Begrenzung der Solidarität auf die eigene Volks- oder Sprachgemeinschaft so desavouiert ist, wie in den germanischen Ländern Europas der Fall.)

Die Grundwerthaltung der deutschen Eliten hat sich nun aber in den letzten 25 Jahren hin zu weniger Solidarität mit den kleinen Leuten und zu weniger Verpflichtung der hoch Verdienenden und hoch Vermögenden verändert. In der deutschen Politik gibt es von Steuerrecht bis Krankenversicherung fast keinen Bereich, der nicht davon betroffen wäre.9 Zuletzt fehlte sogar für die Renovierung von Brücken oder Schulen angeblich das Geld, trotz Null-Zinsen auf staatliche Neuschulden.

Was die Solidarität nach außen betrifft, so war es Deutschland, das die perfiden Dublin-Regelungen einst ersann und sie jahrelang von anderen strengstens beachtet wissen wollte. Die deutsche Politik hat auch über ein Dreivierteljahr Hilferufe der UN betreffs der Ernährungssituation von Flüchtlingen im Libanon und Jordanien ignoriert, wo es um Hilfe in höchster Not ging, für Menschen, die sich allesamt nicht freiwillig in Gefahr begeben hatten.

Die jüngst im Kontext Flüchtlingskrise beschworenen "europäischen Werte" der Menschlichkeit und Solidarität haben keinen Eingang in das hauptsächlich von Deutschland formulierte Grundlagendokument der heutigen Eurozonen-Wirtschaftsordnung gefunden, den Maastricht-Vertrag, der fiskalische, aber keine sozialstaatlichen oder steuerlichen Mindeststandards einfordert. Die EU-Kommission und die angebliche Mutter der Hilfesuchenden Merkel haben zudem in diesem Frühjahr mit boshafter Härte den Armen Griechenlands einen Mehrwertsteuersatz von 23 % auf Brot und andere wichtige Nahrungsmittel aufgezwungen, ohne eine Silbe der Kritik aus einem deutschen Leitmedium.

Nun geht aber Deutschland plötzlich massive freiwillige Verpflichtungen für Dritte ein. Denn es handelt sich um freiwillige humanitäre Verpflichtungen, wenn man Personen, die über Österreich kommen, in Deutschland ins Asylverfahren nimmt.10 Deutschland könnte sowohl gemäß Genfer Konvention als auch Dublin-Verordnung als auch Grundgesetz alle diese Personen soweit möglich an der Grenze zurückweisen (z.B. Asylverfahrensgesetz § 18 (2), 1. und 2., und § 18 (3)), mit Methoden, die man auch den eigenen Bürgern gegenüber bei Blockaden oder Widerstand gegen die Staatsgewalt anwendet.

Flüchtlingsströme am Grenzübergang Gevgelija, Mazedonien. Bild: Bundesministerium für Europa, Integration und Äusseres/CC BY 2.0

Die von weiten Teilen der deutschen Eliten, insbesondere auch den Medien, über Monate beteuerte und befeuerte Hilfsbereitschaft ohne Obergrenze gegenüber den heute aus fernen Ländern als Asylsuchende Kommenden steht also im Gegensatz zum jahrzehntelangen systematischen Zurückfahren der Solidarität und der Gemeinschaftsleistungen im eigenen Land aus angeblichen Kostengründen und auch zu den sichtbaren politischen Prioritäten in der EU seit den Neunzigern.

Es sind wegen dieses Gegensatzes Spekulationen über finstere kapitalistische Absichten hinter der offenherzigen Schutzsuchendenaufnahme (nach Überstehen eines Hindernisparcours) aufgekommen. Die offizielle und offiziöse Darstellung allerdings ist, dass die moralische Verpflichtung zur Menschlichkeit Grund für die Aufnahme sei. Daraus könnte man schließen, dass offenbar die Solidarität bei unseren Eliten wieder Vormacht gewinnt über Härte und Egoismus der Besitzenden.

Das muss sie allerdings auch. Will man nämlich jetzt den Frieden in der Gesellschaft bewahren, so müssen von dem plötzlich so offenen Herzen und Geldbeutel auch die profitieren, die schon hier sind und die neu Einwandernden als direkte Konkurrenten um Ressourcen erleben. Die immerhin von einem ultraliberalen Wirtschaftswissenschaftler erhobene Forderung nach Entschädigung und Schutz der Einwanderungsverlierer muss endlich aufgenommen werden.

Es gäbe Möglichkeiten, die geringer Verdienenden und prekär Arbeitenden der Post-Agenda-2010-Ära von ihren realen Nöten auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt und begründeten Ängsten vor Abstieg oder Altersarmut zu entlasten. Will man solche Maßnahmen nicht, muss man sich allerdings fragen, ob man mit dieser so sehr medial sichtbar gemachten Asyl-Wanderungswelle (zusätzlich zu starker EU-Migration in die Ballungsräume!) den sozialen Frieden in Deutschland gezielt an die Wand fährt und/oder einen Vorwand sucht, die Grundsicherung nach dem Vorbild der südeuropäischen Ländern massiv zu beschneiden oder abzuschaffen.

Wenn man sieht, wie eine maßgebliche Figur einer lange durch unerlaubte Geschäftspraktiken glänzenden deutschen Großbank über die Asylmigration ins Schwärmen gerät, mit nach Irreführung riechenden Argumenten,11 und im gleichen Atemzug davon redet, einige Regeln der sozialen Sicherung müssten wegen der Einwanderung "überprüft" werden, so kann einem in der Tat unheimlich werden.