Freie Einwanderung - ein Menschenrecht?

Seite 7: Teil 7: Entschädigung der Einwanderungsverlierer konkret gemacht

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Die folgenden Vorschläge sind bescheiden und umfassen nur Dinge, die einem sozialen Staat seinen Bürgern gegenüber eigentlich selbstverständlich sein sollten. (Zur Finanzierung am Schluss.)

  1. Das ALG II für Erwachsene sollte um ca. 60 Euro erhöht werden, und Sanktionen sollten sich auf den Wegfall der 60 Euro über dem soziokulturellen Existenzminimum beschränken. Grund: Das Verfassungsgericht hat im Kontext des Asylbewerberleistungsgesetzes festgestellt, dass das menschenwürdige Existenzminimum (Existenzsicherung und bescheidene Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben) nicht unterschritten werden darf.12 Vielfach wurde in der öffentlichen Diskussion über Leistungssenkungen zur Fluchtanreizvermeidung darauf hingewiesen, dass aus Gründen der Menschenwürde kein Abstrich am vollen Satz möglich sei. Die Leistung wird an Menschen im Asylverfahren auch dann voll gezahlt (bzw. in Sachleistungen ausgegeben), wenn der Asylbewerber bei der Identitätsfeststellung nicht kooperiert, wenn seine Geschichte unglaubwürdig wirkt oder wenn von vornherein klar ist, dass kein Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz besteht. Selbst nach Ablehnung des Antrags und Versäumen der Ausreise wurde bisher regelmäßig weitergezahlt (die neueste Erschwerung sieht eine Reduktion auf das Lebensnotwendige vor). So weit ist es im Agenda-Deutschland gekommen, dass ALG II-Bezieher Asylbewerber um die Verlässlichkeit dieser Zahlung beneiden müssen. Wenn nach Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes das soziokulturelle Existenzminimum nicht unterschritten werden darf, so darf das nicht nur für Asylsuchende gelten, sondern erst recht für Bürger dieses Staates, die jahrelang hier Steuern und Abgaben gezahlt haben. Daher muss die Regelung fallen, wonach erlaubt ist, ALG II-Beziehern bei Kooperationsmängeln (um die Verweigerung einer Arbeitsaufnahme geht es fast nie) das Existenzminimum für Monate zu kürzen, und zwar empfindlich, im Wiederholungsfall und bei Personen unter 25 auch auf Null und potenziell zeitlich unbegrenzt. Diese Sanktionen verstoßen nicht nur gegen die Menschenwürde. Sie bedrohen Betroffene in ihrer körperlichen Existenz. Eine Sanktionsmöglichkeit kann sinnvoll sein. Diese darf aber aus den genannten Gründen nicht das Existenzminimum beschneiden, sondern nur Zusatzleistungen treffen. Ein Zuschlag für erwachsene erwerbsfähige ALG II-Bezieher von 60 Euro, der bei schlechter Kooperation befristet entfallen kann, erfüllt diesen Zweck. Man kann das "Bewerberbonus" o.ä. nennen. Es sollte kommuniziert werden, dass diese Änderung eine für die Betroffenen positive Folge der Flüchtlingswelle ist. Das kann Einstellungsänderungen bewirken.
  2. Eingesessenen Arbeitslosen sollen sinnvolle, gewünschte Umschulungen, Ausbildungen oder Fortbildungsmaßnahmen nicht länger aus Kostengründen verweigert werden. Das Knausern hier ist Betroffenen nicht vermittelbar, wenn der Staat zugleich frisch eingetroffenen Personen aus dem Ausland intensiv Schulung und Förderung gewährt oder ihnen den Herzenswunsch nach einem bezahlten Studium in Deutschland erfüllt. Zudem sollten Altersgrenzen bei Ausbildungen abgeschafft oder wesentlich nach oben verschoben werden (derzeit ist durch § 10,1 und 10,3 AGG Altersdiskriminierung bei der Ausbildung gedeckt). Grund: Neueinwanderer verdrängen nicht selten mittelalte oder ältere prekär Arbeitende, diesen muss statt Schikane Unterstützung für sinnvolle Qualifizierung zukommen. Auch die klassische Lehre im dualen System sollte für interessierte Ältere geöffnet werden, falls es tatsächlich an Nachwuchs mangelt. Wenn die Vergütung für den Lebensunterhalt nicht reicht, kann Aufstockung sinnvoll eingesetzt werden. Ein Vierzigjähriger Hiesiger mit perfektem, Deutsch und gut erhaltener Mittelstufenmathematik ist für eine Ausbildung in Handwerk oder Industrie nicht per se weniger geeignet als ein 24jähriger Neuling mit schwachem Deutsch und Mängeln bei den Grundrechenarten.
  3. Wer Rentenpunkte erworben hat und/oder während seiner in Deutschland verbrachten erwerbsfähigen Zeit nie oder wenig staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch genommen hat (also geringer verdienende Erwerbstätige, ob angestellt oder selbstständig), darf im Alter nicht frisch eingetroffenen Fremden oder lebenslangen Hilfebeziehern gleichgestellt sein. Die Grundsicherung im Alter muss um eine individuell variable Summe aufgestockt werden, die sich nach einer festzulegenden Formel aus negativ eingehendem bisherigem Hilfebezug und den positiv eingehenden Rentenpunkten berechnet. Die Höhe der Aufstockung liegt dann zwischen 0 (lebenslanger Hilfebezug und keine Rentenpunkte) und x (kein Hilfebezug, Rentenanwartschaft im Bereich der Höhe der Grundsicherung); über die Höhe von x muss man nach Finanzierbarkeit entscheiden.
  4. Die Teilnahme an neu angebotenen kostenlosen Sprachkursen für Asylmigranten sollte auch langjährig hier befindlichen Arbeitsmigranten erlaubt sein. Unter den Verlierern der Einwanderung der letzten 10 Jahre sind langjährig ansässige ältere Arbeitsmigranten, von denen ein erheblicher Teil nie Sprachkurse angeboten bekam. Die Teilnahme an den Vollzeit-Intensivkursen für Spätaussiedler der 1990er Jahre hatte man lernwilligen Arbeitsmigranten der Gastarbeitergeneration verwehrt.
  5. Unterlaufen des Mindestlohns muss unterbunden werden, auch und gerade durch mehr Kontrollen auf Schwarzarbeit. Beauftragen von Schwarzarbeit sollte Straftatbestand werden. Bei Schwarzarbeit in Kombination mit Asylbewerberleistungsbezug oder ALG II-Bezug sollten Neueinwanderer in den ersten fünf Jahren ihren Aufenthaltsstatus verlieren (was deutlich kommuniziert werden muss). Es gibt keinen Grund, warum die Gemeinschaft Menschen aufnehmen soll, die zwar die Rosinen eines solidarischen Staates mit Gemeinschaftseigentum picken, aber nicht die Nachteile in Form eigener Pflichten akzeptieren.
  6. Die in Deutschland aufgelaufenen Infrastrukturinvestitionen muss man zügig angehen. Das in der Praxis ineffiziente EU-Vergaberecht für öffentliche Großaufträge muss dafür fallen, nicht nur für den Bau von Flüchtlingsnotunterkünften. Schuldenbremsen müssen ebenfalls fallen, falls sie die nötigen Investitionen verhindern oder zu letztlich teureren Public-Private-Partnership-Ausschreibungen führen, in denen die Schulden nicht Schulden heißen, sondern Nutzungsgebühr.
  7. Wachsende Städte müssen Wohnungsbauer werden. In der Zeit der (beinahe) Nullzinsen wäre es absurd, die Verluste des sozialen Wohnungsbaus zu sozialisieren und die Profitchancen privaten Investoren zu überlassen. Keinesfalls sollten neu gebaute Wohnhäuser allein Flüchtlingen vorbehalten bleiben, auch nicht auf Zeit. Schon um Ghettobildung zu vermeiden, müssen die Wohnungen für alle zugänglich und attraktiv sein und um der Mischung an den Schulen willen eher in Stadtteilen mit derzeit geringerem Migrantenanteil liegen. Wenn die Zahl der neu gebauten Wohnungen groß genug ist, wird der Markt entlastet und Mietpreise im Bestand können wieder sinken. Der Mietzins pro Quadratmeter kommunaler Bauten sollte einkommensabhängig variabel angepasst werden (z.B. degressiver Prozentsatz vom Haushaltseinkommen mit unterer Bemessungsgrenze in Höhe der Grundsicherung und oberer Bemessungsgrenze wie in der Sozialversicherung), mit großzügigen Sozialquoten bei der Vergabe. So können auch Einwanderungsverlierer (und Flüchtlinge) in die Neubauten ziehen. Die Kommunen können durch Belegung in eigener Hand für eine Mischung unterschiedlicher Nationalitäten und Bildungsniveaus sorgen. Städte haben derzeit kein Interesse daran, günstigen Wohnraum zu schaffen, weil dies Personen mit hohem Risiko für ALG II-Bezug von außen anlocken könnte, was am Ende Kosten verursacht. Kreative Politiker könnten dafür Lösungen finden. Ein erster Schritt wäre, die Neubauten für Personen zu reservieren, die bereits Bürger der Stadt sind (oder ihr im Rahmen des Königsteiner Schlüssels zugewiesen wurden)..

Zur Finanzierung der Maßnahmen

Wohnungsbau kann über Kredit und Verkauf eines kleinen Teils der Wohnungen nach dem Bau finanziert werden und sich dann trotz Sozialquote über die Lebensdauer der Häuser selbst tragen. Eine Volkswirtschaft kann sich längere Amortisationszeiten leisten als ein Privatinvestor. Die Finanzierung der anderen Maßnahmen dürfte über die direkten Steuern inklusive der Körperschaftssteuer möglich sein, wenn man zum bundesrepublikanischen Steuerrecht von 1985 zurückkehrt (mit der nötigen Änderung in der Vermögenssteuer, die sie verfassungskonform macht).

Größere Anstrengungen gegen Steuerhinterziehung und vor allem Steuervermeidung wären ebenfalls eine Option. Es stünde übrigens in der Macht einer großen Koalition und ihr gut an, den Schritt zur Bürgerversicherung zu gehen, das heißt: ungeachtet der widerstrebenden Partikularinteressen alle Berufssparten und Einkommensarten gesetzlich rentenversicherungs- und krankenversicherungspflichtig zu machen.