"Freiwillige Rückführungen" aus der Türkei: Neues Gaza in Nordsyrien?
Seite 2: Rückkehr der kurdischen Bevölkerung wird unmöglich gemacht
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Hamdan al-Abid, Mitglied des Komitees für Arbeit und soziale Angelegenheiten der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien teilte mit, bereits jetzt seien rund hundert Syrer aus der Türkei nach Girê Spî (Tall Abyad) eingereist - in ein Gebiet, das den Menschen gehöre, die von der Türkei vertrieben wurden.
Der türkische Staat wolle im Nahen Osten expandieren und damit seine neo-osmanischen Träume verwirklichen. "Aus angeblichen Sicherheitsinteressen will er Territorien von Aleppo bis Mossul annektieren. Um dieses Ziel zu erreichen, unterstützt er dschihadistische Gruppen wie die Al-Nusra-Front und den IS."
Das angebliche Sicherheitsinteresse der türkischen Regierung wird mit der Existenz der kurdischen Bevölkerung an der Grenze zur Türkei begründet. In den Augen Erdogans stellt diese eine große Gefahr dar. Gebetsmühlenartig setzen türkische Staatsmedien und Präsident Erdogan die Syrian Democratic Forces (SDF) mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gleich und unterstellen ihnen, Angriffe auf die Türkei auszuüben.
Dabei gibt es bis heute keine belegbaren Angriffe auf türkisches Territorium aus dem Gebiet der Selbstverwaltung in Nordsyrien. Die Behauptung dient der türkischen Regierung als Vorwand für die eigenen völkerrechtswidrigen Militärinterventionen. Dagegen sind die täglichen Drohnenangriffe und Grenzverletzungen durch türkisches Militär real und belegbar. Im Schatten des Ukraine-Krieges werden täglich Zivilisten und Soldaten der SDF durch türkische Drohnenangriffe verletzt oder getötet.
Durch diesen Zermürbungskrieg will Erdogan die kurdische Bevölkerung, sowie die mit der Selbstverwaltung sympathisierenden Bevölkerungsgruppen an der Grenze zur Türkei zur Flucht zwingen und die Gebiete mit loyalen syrischen Geflüchteten aus der Türkei besiedeln. Etwa 500.000 Syrer seien seit Anfang 2016 "in sichere Gebiete zurückgekehrt", so der türkische Staatschef – was übersetzt heißt, dass ein großer Teil dieser Rückkehrer in den Häusern der vertriebenen Stammbevölkerung angesiedelt wurde.
Denn die "zurückgekehrten" Syrer und jene, die rückgeführt werden sollen, stammen meist nicht aus der Region, sondern überwiegend aus dem Gebiet des syrischen Zentralstaates und haben nicht das geringste Interesse, in die Fänge des Assad-Regimes zu geraten. So werden sie dauerhaft bleiben und eine Rückkehr der eigentlichen Vertriebenen verhindern. Zwangsläufig werden Sie immer auf die Unterstützung Erdogans angewiesen sein und damit auch zum Spielball seiner Politik.
Rassismus gegen Syrer in der Türkei nimmt zu
In der Türkei selbst sind Syrer angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise einem zunehmenden Rassismus ausgesetzt. Die faschistischen Grauen Wölfe greifen in der Türkei ihre Geschäfte an, in Ankara gab es Angriffe auf Wohnungen von Syrern. Die Stimmung in der Türkei ist gekippt. Selbst die konservative Opposition, von nationalistisch bis kemalistisch, will die Geflüchteten loswerden.
Ob die Geflüchteten in dieser Situation freiwillig nach Syrien zurückkehren und ob ihnen bewusst ist, dass sie in einem Gebiet angesiedelt werden, aus dem die Türkei zuvor Hunderttausende vertrieben hat, darf bezweifelt werden. Türkische Staatsmedien werben für deren Rückführung: "Die Syrer können in ihre Heimat zurückkehren, wann immer sie wollen, aber wir werden sie niemals aus diesem Land vertreiben", betonte Erdogan auf einer Veranstaltung des Türkischen Verbands unabhängiger Industrieller und Geschäftsleute.
Der Oberbürgermeister der Stadt Bolu, Tanju Özcan spricht dagegen eine deutlichere Sprache. Auf Plakaten fordert er die Geflüchteten zur Rückkehr auf: "Vor elf Jahren hattet ihr gesagt, dass ihr als Gäste in unser Land gekommen seid… Dieser Besuch dauert jedoch zu lang. Ihr seht die Wirtschaftskrise in unserem Land… Unter diesen Bedingungen haben wir kein Brot und Wasser mehr, das wir mit euch teilen können. Es ist an der Zeit zu gehen. Ihr seid hier nicht mehr willkommen, kehrt zurück in euer Land."
Im nordwestlichen Afrin sind mittlerweile Tausende Unterkünfte errichtet worden, in denen Menschen aus vielen Städten Syriens untergebracht werden sollen, die vor Assads Militär und Geheimdienst geflüchtet sind. Dafür wurden jesidische Dörfer zerstört, Friedhöfe dem Erdboden gleichgemacht und an der Stelle der ezidischen Gebetsstätten und Heiligtümern Moscheen gebaut.
Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass es sich hierbei um eine gezielte demografische Veränderung handelt, die auf der Vertreibung der Stammbevölkerung beruht.
Syrien ist kein sicheres Rückkehrland für Geflüchtete
Schon 2019 warf die Menschenrechtsorganisation Amnesty International der türkischen Regierung vor, dass sie illegal Flüchtlinge nach Syrien deportiere. Amnesty erklärte damals, dass Hunderte interniert und abgeschoben worden seien. Viele von ihnen seien einfach von der Straße weg verhaftet worden. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) dürfen Geflüchtete nicht in Länder zurückgeschickt werden, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind.
Der Politik- und Wirtschaftsanalyst Atilla Yesilada meint, die Rückführung syrischer Flüchtlinge sei Teil des Wahlkampfs für die im Juni 2023 anstehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei. Angesichts der desaströsen Wirtschaftslage und der zunehmend feindseligen Stimmung gegenüber den syrischen Geflüchteten im Land versuche Erdogan, sich damit Stimmen zu sichern. Nach Einschätzung Yesiladas sind erhebliche Zweifel an der Freiwilligkeit dieser Rückkehr angebracht.
In einem von der Jerusalem Post zitierten Statement erklärt Yesilada, man werde erleben, wie die Polizei "Syrer in Rückführungs- und Abschiebezentren einliefert". Es werde Menschenjagden geben, "und diejenigen, die das Pech haben, in die Fänge der Polizei oder anderer Sicherheitskräfte zu geraten, werden zurückgeschickt werden, ob sie wollen oder nicht."
Damit die Geflüchteten an ihre tatsächlichen Herkunftsorte zurückkehren können, bedarf es einer politischen Lösung für ganz Syrien. Die wirtschaftliche Lage muss verbessert werden, damit sie überhaupt ein Auskommen haben. Das Assad-Regime muss den Geflüchteten eine repressionsfreie Rückkehr in ihre Herkunftsorte ermöglichen.
Die Ansiedlung einer Million ortsfremder Menschen in Nordsyrien – Erdogan spricht von bereits 200.000 bezugsfertigen Häusern - gleicht einer tickenden Zeitbombe. Die Siedler werden als Eindringlinge betrachtet, was eine dauerhafte Gefahr für die Stabilität und Sicherheit der Region darstellen könnte.
Intransparente Syrienhilfe der Bundesregierung
Anfang Mai wurden auf einer Syrien-Geberkonferenz in Brüssel mehr als sechs Milliarden Euro für humanitäre Hilfe gesammelt. Davon sollen 4,1 Milliarden Euro noch im Jahr 2022 und 2,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr fließen. Deutschland will 2023 rund 1,05 Milliarden Euro beisteuern.
In Syrien sind knapp 15 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, die Ernährung von zwölf Millionen Menschen ist gefährdet. Die Gelder sollen allerdings auch für die Nachbarländer bereitgestellt werden, die Millionen Geflüchtete aufgenommen haben. Davon dürfte die Türkei einen Großteil abbekommen.
Bisher flossen die Hilfsgelder über das Auswärtige Amt vor allem in Gebiete, die von radikalislamischen Milizen und vom türkischen Regime kontrolliert werden.
Die deutsche Unterstützung für Erdogans Politik auf politischer und diplomatischer Ebene, sowie durch Finanzhilfen und Rüstungslieferungen wurde unter anderem kürzlich beim Besuch der EU-Delegation im UNO-Büro zur Koordination humanitärer Angelegenheiten in Krisengebieten (UNOCHA) in der Provinz Hatay wieder einmal deutlich: Der Leiter der EU-Delegation, Nikolaus Meyer-Landrut, betonte laut einem Bericht des türkischen Senders TRT, dass der "türkische Korridor" für die Syrer von entscheidender Bedeutung sei, da ein Drittel aller Hilfsaktivitäten durch diesen Übergang verlaufe.
Mit "türkischem Korridor" sind auch die türkisch besetzten Gebiete in Nordsyrien gemeint, in die deutsche Hilfsgelder fließen. Über türkische Stiftungen und Hilfsorganisationen landen diese Gelder dann bei den Dschihadisten, die an der Seite der Türkei die besetzten Gebiete kontrollieren.
Erinnert sei hier an die Worte der grünen Außenministerin Annalena Baerbock vor wenigen Tagen: "Wir können kein Land tolerieren, das einen Krieg gegen europäische Grundwerte führt. Deshalb waren wir uns einig, Russland aus dem Europarat auszuschließen". Der Europarat müsse aber unter anderem "weiter nach Mitteln und Wegen suchen, um mit der Zivilgesellschaft in Russland zusammenzuarbeiten". Außerdem unterstrich sie die Bedeutung der Istanbul-Konvention "als ein starkes Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt".
Wichtig zu wissen: Die demokratische Zivilgesellschaft in der Türkei interessiert den Westen nur peripher. Die Türkei ignoriert ihre Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) konsequent. Die Türkei ist zudem im vergangenen Jahr aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen.
Wenn schon die deutsche Ampel-Regierung aus Transatlantikern besteht, dann sollte sie sich konsequenterweise auch der Position der USA in der Syrien-Politik annähern und ebenfalls die Sanktionen gegen die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens aufheben. Denn die USA haben vor ein paar Tagen beschlossen, die Sanktionen gegen ausländische Investitionen in Nordostsyrien aufzuheben.
Das US-Finanzministerium genehmigte die Förderung verschiedener Bereiche wie Landwirtschaft, Information und Telekommunikation, Stromnetzinfrastruktur, Bau, Finanzen, saubere Energie, Transport & Lagerhaltung, Wasser- und Abfallwirtschaft, Gesundheitsdienste, Bildung, Herstellung und Handel.
Eine internationale Anerkennung der Selbstverwaltung ist längst überfällig, viele deutsche NGOs stehen im Bereich der humanitären Hilfe, mit Aufbauprojekten im Gesundheits-, Bildungs- und Umweltbereich in den Startlöchern. Allein, es fehlt ihnen an Fördergeldern durch die Bundesregierung.
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