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Freudsche Zustände

Gestaltet der Mensch seine Gesellschaft bewusst - oder wird er unbewusst durch Strukturen und Dynamiken des Systems geformt?

Ist der Bürger Herr seiner eigenen Gesellschaft? Die Ansichten bei dieser alten Fragestellung, die schon im Zuge der Aufklärung aufgeworfen wurde, pendeln in letzter Zeit krisenbedingt zwischen den Extremen: Zwischen Größenwahn und pseudoreligiösen Fatalismus.

Allmachtsphantasien und Ohnmacht

Das spätbürgerliche Bewusstsein ist von einem zunehmenden inneren Widerspruch gekennzeichnet, der inzwischen quasi schizophrene Züge angenommen hat. Allmachtsphantasien wechseln sich immer häufiger mit blanken Ohnmachtsgefühlen ab.

Zum einen ist sie immer noch allgegenwärtig, die böse alte Mentalität des "Was kostet die Welt" - auf der gesamtgesellschaftlichen, wie auf der individuellen Ebene. Das neoliberale Konkurrenz- und Leistungsdenken, mit dem heutzutage schon der Mittelschichtsnachwuchs indoktriniert wird, basiert gerade auf dem Dogma, dass jeder seines Glückes Schmied sei.

Erfolg ist der neoliberalen Ideologie zufolge immer Ausdruck der individuellen Leistung, während Misserfolge wie Arbeitslosigkeit postwendend auf das Versagen des Einzelnen zurückgeführt werden.

In seiner Extremform - etwa bei Thatcher - existieren im Neoliberalismus nur die Konkurrenzsubjekte, die voll für ihre im scheinbar leeren gesellschaftlichen Raum vollzogenen Entscheidungen und Handlungen verantwortlich seien. So etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, es gebe nur die Individuen als frei agierende gesellschaftliche Atome, wie es einstmals die britische "eiserne Lady" formulierte [1].

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene manifestiert sich dieser - eigentlich schon von der frühen Aufklärung propagierte - Glaube an die menschliche Machtfülle vor allem im derzeit aufschäumenden Chauvinismus und Nationalismus. Der Wille der eigenen Nation soll anderen aufgezwungen werden.

Seien es die mitunter offenen propagierten Weltordnungskriege der USA, die ihren menschenrechtsimperialistischen Anstrich [2] inzwischen verlieren, sei es der ökonomische Sadismus der Bundesrepublik [3] gegenüber den europäischen Krisenländern - sie scheinen die Machtvollkommenheit des krisenbedingt erodierenden nationalen Kollektivs zu bestätigen, an der sich auch das chauvinistisch verblendete Individuum berauschen kann.

Der kleinbürgerliche rechte Forentroll in den USA oder in Deutschland kann sich dann ein Stück weit wie Trump oder Schäuble fühlen, wenn diese ihre menschenverachtenden Machtspielchen treiben.

Die "Sachzwänge"

Hinzu kommen die extrem angewachsenen Möglichkeiten technischer Naturbeherrschung, die dem Potenzial menschlicher Umformung der Erde im jüngst ausgerufenen Anthropozän [4] kaum Grenzen zu setzen scheinen. Die Autonomie des Menschen, propagiert seit der Aufklärung, scheint verwirklicht.

Die Menschheit erschafft sich die Welt, wie sie ihr gefällt? Dieser spätkapitalistische Allmachtsglaube kontrastiert immer stärker mit den heteronomen spätkapitalistischen Realitäten, in denen die Subjekte ihre Ohnmacht alltäglich - zumeist uneingestanden - durchleiden. Der Neoliberalismus, der jedes Konkurrenzatom zu seines Glückes Schmied in einer scheinbar inexistenten Gesellschaft ausruft, predigt zugleich die Unterwerfung unter die berüchtigten "Sachzwänge".

Mit diesem Wortmonster - den Zwängen, die durch "Sachen" den Menschen auferlegt werden - belegt der Neoliberalismus die wirtschaftlichen und sozialen Folgen (Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Prekarisierung etc.) der zunehmenden inneren Widersprüche der spätkapitalistischen Gesellschaften. Die "Freiheit" und Autonomie des neoliberalen Marktsubjekts besteht somit darin, sich diesen zu Naturzuständen ideologisierten Sachzwängen im Konkurrenzdschungel anzupassen.

Der scheinbar selbstständige, eigenverantwortliche neoliberale Mensch fügt sich somit ohnmächtig den sich zuspitzenden Widersprüchen des Krisenkapitalismus, die er als Sachzwänge hinnimmt, als eine Art Naturgesetze oder Naturgewalten, die sich dem Zugriff der Marktsubjekte zu entziehen scheinen - obwohl sie unbewusst gerade von ihnen hervorgebracht werden.

Die breite Politikverdrossenheit, die so gerne in Sonntagsreden anprangert wird, sie resultiert gerade aus der alltäglichen Erfahrung auch der systemimmanent-politischen Ohnmacht gegenüber den Folgen dieser zu Sachzwängen buchstäblich verdinglichten Widerspruchsentfaltung.

Bußrituale und Opfer

Und auch das globale "Great Game" der imperialen Staatssubjekte - von den USA, über Russland bis zu Deutscheuropa - verliert unverzüglich den Anschein seiner Machtfülle, sobald mal ein Krisenschub den Staatsmonstern ihre Grenzen aufzeigt und diese in Krisen oder gar Staatserosion und Zerfall treibt. Sobald "die Märkte" mal wieder wüten, in einem "Marktbeben" ganze Volkswirtschaften ins Elend abzudriften drohen und dem Weltfinanzsystem die Kernschmelze droht, setzen dann auch gesamtgesellschaftlich die großen Bußrituale und Unterwerfungsgesten ein.

Da die allmächtigen "Märkte" - antiken Göttern gleich - plötzlich böse geworden seien, gelte es, Buße zu tun und Opfer zu bringen (mitten in einer Überflussgesellschaft und einer Überproduktionskrise [5]). Dann werden schon mal ganze Bevölkerungsschichten (US-Mittelklasse, US-Arbeitsmigranten) oder Länder (Griechenland) dem säkularisierten Kapitalgott geopfert.

Gerade in solchen Krisensituationen - wie zuletzt während der Immobilienkrisen in Europa und den USA - wird die latent, vermittelt wirkende Heteronomie, die aus der subjektlosen Herrschaft des Kapitalverhältnisses resultiert, mit voller Brutalität auch auf gesamtgesellschaftlicher, nationaler Ebene manifest.

Der rechte Angstmob

Die Illusion der nationalen Machtfülle, gerade in den Zentren des Weltsystems, wandelt sich in das Bemühen, die als ein verheerendes, katastrophenartiges Naturereignis wahrgenommenen Krisenfolgen auf andere abzuwälzen - was die in Krisenzeiten eskalierende Konkurrenz zwischen den spätkapitalistischen Staatsmonstern erklärt.

Es ist gerade innere krisenbedingte Widerspruchsentfaltung, die die krisengeschüttelten Großmächte zur äußerer Expansion treibt und deswegen die Kriegsgefahr erhöht. Überdies ist die Illusion des Machtwahns, wie man ihn etwa in Deutschland gegenüber "den Griechen" oder in den USA gegenüber dem arabischen Raum pflegt, nur die Rückseite der sehr realen Ohnmacht, wie sie in Hellas, im Irak oder in Syrien herrscht. Insofern exekutieren diese imperialen Staatssubjekte nur die objektive Krisendynamik.

Dieses Bewusstsein der Ohnmacht, das in Krisenzeiten allgegenwärtig ist, wird aber sehr schnell verdrängt - und dies unabhängig vom politischen Standpunkt. Für den rechten Angstmob [6] mit seinem - vorsichtig formuliert - eher bescheidenen Reflexionsvermögen stellt sich die Frage erst gar nicht, da dieser ja einfach mit Sündenböcken operiert.

Dem rechten Hassschwarm sind alle krisenbedingten Ohnmachtserfahrungen nur Folge einer bösartigen Weltverschwörung (zumeist läuft es letztendlich auf Antisemitismus heraus), oder des zersetzenden Wesens und amoralischen Treibens einer Bevölkerungsgruppe (Ausländer, Migranten, Arbeitslose, "Sozialschmarotzer" etc.). Sobald diese Sündenböcke beseitigt seinen, werde alles wieder gut - dies ist die rechte Art, mit den krisenbedingten Ohnmachtserfahrungen und der dadurch ausgelösten Angst umzugehen. Man will irgendwen halt hängen sehen.

Linke: anachronistische Frontstellungen

Doch auch in der Linken sind Tendenzen wirksam, die alltäglich erfahrene Heteronomie zu verdrängen und zu negieren. Da sind einerseits immer noch die klassischen, aus dem alten, größtenteils anachronistischen Klassenkampfdenken sich speisenden Frontstellungen zu finden, die den "Kapitalisten" eine Allmacht zusprechen, die sie in der Funktion als "Charaktermasken" (Marx) ihrer ökonomischen Funktion schlicht nicht haben können.

Die "herrschende Klasse" der Kapitalisten scheint allmächtig, die Krise eine Folge ihrer Machtfülle. Die Arbeiterklasse, die derzeit als ideologische Chimäre eine Art spukhaftes Comeback in der Linken feiert, müsse einfach nur die Kontrolle über die kapitalistische Produktionsmaschienerie übernehmen - und schon werde alles unter Kontrolle sein.

Dieses anachronistische Klassenkampfparadigma, das die volle Integration und anschließende Erosion der Arbeiterklasse im Kapitalismus seit Jahrzehnten souverän ignoriert, erfuhr in den letzten Jahren eine krisenbedingte Verrohung, bei der die Reichen allgemein - die Bonzen oder die Finanzmarktspekulanten - zu simplen populistischen Sündenböcken für die Krise aufgebaut wurden.

Hinzu kommt noch die unbewusste Weigerung eines guten Teils der aktivistischen Linken, sich diesem Problem zu stellen, da hierdurch die eigene praktische Arbeit zu entwerten droht. Wozu noch handeln, noch kämpfen, wenn das System allmächtig scheint?

Wie autonom sind die Subjekte?

Offensichtlich wird somit, dass der scheinbar so "abstrakten" Fragestellung nach dem Grad menschlicher Autonomie in der spätkapitalistischen Gesellschaft eine konkrete, brennende Aktualität innewohnt: Sobald die widerspruchsgetriebene Eigendynamik des Systems ignoriert wird, sobald es nur noch den Menschen als bewussten Akteur seiner Geschichte zu geben scheint, setzt unweigerlich Ideologieproduktion ein.

Wenn es nur den Menschen als Subjekt und die von ihm geformte Welt als Objekt gibt, dann müssen Menschen für all die Krisenverwerfungen der letzten Jahre verantwortlich sein. In diesem durch das Aufklärungsdenken etablierten Subjekt-Objekt-Dualismus, der die Gesellschaft nur als bloße Summe seiner agierenden Teile begreifen kann, ist somit der Urgrund aller Krisenideologie zu finden.

Die hieraus entspringende Personifizierung der Krisenursachen mit dem Aufbau entsprechender Sündenböcke und Verschwörungsideologien, die auch in einer regressiven Linken wieder populär sind, war den Klassikern der Kapitalismuskritik noch fremd.

Die "selbstverständliche Naturnotwendigkeit"

Aller Polemik gegen die "Bourgeoisie" zum Trotz war es für Karl Marx selbstverständlich, deren Mitglieder als Charaktermasken, als Exekutoren einer verselbstständigten gesamtgesellschaftlichen Kapitaldynamik zu begreifen. Die Formen der marktvermittelten kapitalistischen Vergesellschaftung, bei denen die Lohnarbeit die Form des Werts annimmt und die Wertgröße durch die Zeitdauer bei der Warenproduktion bestimmt wird, sie seien bereits Ausdruck des sehr realen gesamtgesellschaftlichen Fetischismus, bemerkte Marx im ersten Band seines Hauptwerks "Das Kapital":

"Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, dass sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert, gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst."

Der Mensch als Sklave, als Geisel eines verselbstständigten kapitalistischen Produktionsprozesses, der ihn "bemeistert", anstatt dass dieser bewusst vom Menschen gestaltet wird. Dies ist der sehr reale - und eben nicht bloß "scheinhafte" - kapitalistische Fetischismus, wie er eben zuerst von Marx formuliert wurde.

Hierunter ist die gesamtgesellschaftliche Verselbstständigung des Kapitalverhältnisses gegenüber den Marktsubjekten zu verstehen, die ihn als isolierte Konkurrenzatome marktvermittelt erst hervorbringen - weswegen dieser Fetischismus den Anschein einer "selbstverständlichen Naturnotwendigkeit" annimmt.

Der uferlose kapitalistische Reproduktionsprozess bildet somit diesen Fetischismus in all seinen Aggregatszuständen (Geld, Arbeit, Ware) aus, sodass die Produkte und der Arbeitsvorgang (Entfremdung) sich dem Produzenten gegenüber verselbstständigen, wobei diese Verselbstständigung den Anschein einer Natureigenschaft hat, die den Waren, dem Geld oder der Arbeit zukommt.

Dabei wird diese gesamtgesellschaftlich "verselbstständige" Kapitaldynamik von inneren Widersprüchen in eine blindwütige Expansionsbewegung getrieben, die letztendlich selbstzerstörerisch ist. Das Kapital tendiert historisch dazu, sich seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Lohnarbeit zu entledigen [7].

Die Überwindung des realen kapitalistischen Fetischismus

Und es sind eben die eskalierenden inneren Widersprüche dieser von den Marktsubjekten selber unbewusst hervorgebrachten, auf uferlose Profitmaximierung geeichten Kapitaldynamik, die ihnen marktvermittelt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene als die berühmten, pseudo-natürlichen "Sachzwänge" entgegentreten, wie sie etwa vom Neoliberalismus formuliert wurden.

En passant macht die obig zitierte Marx-Passage auch klar, wo die Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation zu finden sei: Es geht nicht darum, schlicht die Kapitalisten zu entmachten, um dann ihren Posten einzunehmen (wie es im osteuropäischen Staatskapitalismus in Gestalt der Nomenklatura geschah), sondern in der "Bemeisterung" des Produktionsprozesses, in der Überwindung des dargelegten realen kapitalistischen Fetischismus.

Ganze Legionen sozialdemokratisierter "Marxisten" [8], die in allen kapitalistischen Widersprüchen letztendlich nur eine Verteilungsfrage erblicken wollen, fallen hinter diese simplen Selbstverständlichkeiten aus dem ersten Band des "Das Kapital" zurück.

Zugleich wird aber auch ersichtlich, dass Marx Theorie von einer widersprüchlichen Haltung geprägt war: Einerseits war er ein Kind seiner Zeit, das der damals noch anwachsenden Arbeitsklasse eine historische Mission zuwies. Andrerseits war er der Klassiker und Visionär, der die grundlegenden Formen kapitalistischer Vergesellschaftung kritisierte und ihre entscheidenden Widersprüche offenlegte.

Diese Widersprüchlichkeit der Marxschen Theorie - die sowohl anachronistische wie visionäre Momente aufweist - ermöglicht es vielen Linken, weiterhin geistig im 19. Jahrhundert mit seinem Proletenkult zu verharren und sich dem sehr realen Problem der fetischistischen Konstitution der kapitalistischen Gesellschaften zu entziehen.

Doch selbstverständlich spiegelt sich in diesem kleinen linken Elend nur die große gesamtgesellschaftliche Malaisie des fetischistischen Bewusstseins, die an ihrer Oberfläche durch die Naturalisierung kapitalistischer Strukturen und die Personifizierung der daraus resultierenden Widersprüche charakterisiert ist.

Die üblichen Erklärungsansätze, die zur Erhellung dieser Ignoranz des fetischistischen "gesellschaftlichem Unbewussten" herangeführt werden könnten (wie ideologische Verblendung, Bequemlichkeit, Angst, identitäre Erstarrung), reichen indes offensichtlich nicht aus. Das Ganze reicht offenbar tiefer als bloße Ideologie.

Das gesellschaftliche Unterbewusste

Entscheidend für das Verständnis dieses breiten Unwillens, sich mit dem realen gesellschaftlichen Fetischismus auseinanderzusetzen, ist der Begriff des Unbewussten, wie der von dem Krisenthoretiker Robert Kurz in Ablehnung an Freud und in Weiterführung der marxschen Fetischismustheorie geformt wurde. Die begriffliche Leere im bürgerlichen Bewusstsein, die in der Nähe der fetischistischen Tabuzonen einsetzt, sie gerinnt zu einer Art gesellschaftlichen Unbewussten, wie Kurz in seinem berühmten Text "Subjektlose Herrschaft" ausführte [9]:

Der entscheidende Punkt ist, daß es eine Ebene innerhalb der menschlich-gesellschaftlichen Konstitution und somit auch innerhalb jedes einzelnen Menschen geben muß, die jenseits des Subjekt-Objekt Dualismus liegt. Für das Aufklärungsbewußtsein gibt es entweder Subjekt (Bewußtsein) oder Objekt, jedoch kein Drittes. Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des »Dritten« und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten sein. Zweifellos ist es das theoretische Verdienst von Freud, diesen Begriff systematisch eingeführt zu haben. ... Für das aufklärerische Subjektdenken war die Freudsche Theorie von Anfang an ein Ärgernis gewesen, weil der Begriff des Unbewußten keineswegs zu Unrecht als Frontalangriff auf die eigenen Grundlagen empfunden wurde; die Destruktion des strahlenden und zur Mündigkeit gelangten Subjekts der Moderne als eines von unbewußten (noch dazu sexuellen) Trieben gesteuerten, selbst-unbewußten Wesens mußte als unerträglich erscheinen.

Robert Kurz

Dass kapitalistische Gesellschaft mehr als die Summe ihrer Teile ist, dass das, was ist, nicht alles ist, wie es Adorno in der Negativen Dialektik formulierte ("Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.") - dieses fetischistische Dritte wird ins gesellschaftliche Unbewusste verdrängt. Es prägt, ja es determiniert den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess, ohne von den Gesellschaftsmitgliedern bewusst wahrgenommen zu werden.

Die heftige Abwehr des freudschen Begriffes des Unbewussten durch das Aufklärungsbewusstsein, das die Insassen der spätkapitalistischen Tretmühle als "strahlende und zur Mündigkeit gelangte" Subjekte halluziniert, obwohl sie unbewusst ihre Ohnmacht alltäglich durchleiden, deutet auch auf die tiefsitzenden, ins pathogene abdriftenden psychischen Barrieren, sich eben dieser Ohnmacht zu stellen.

Freud selber sprach im Zusammenhang mit der breiten Ablehnung, ja mit dem Hass, auf den sein Begriff des Unbewussten traf - und immer noch trifft - von einer narzisstischen Kränkung der Menschheit, die diese von der Psychoanalyse erfahren habe [10].

Kränkungen

In seiner 1917 publizierten Schrift "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse" führte Freud aus, "dass der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit, bis jetzt drei schwere Kränkungen von Seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren" habe. Kopernikus habe der Menschheit eine kosmologische Kränkung zugefügt, indem er klar machte, dass diese sich nicht im Mittelpunkt des Weltalls befinde. Charles Darvin sei für die biologische Kränkung des Menschen verantwortlich, da dieser laut Evolutionstheorie "nichts anderes und nichts besseres" sei "als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen".

Die Psychoanalyse wieder habe dem Menschen - und hier tatsächlich dem Aufklärungsdenken - die empfindlichste, psychologische Kränkung zugefügt, indem sie diesen als ein von unbewussten Triebregungen getriebenes Wesen darstellte, das von inneren Konflikten zwischen den unbewussten Triebkräften des ES und dem durch Erziehung leidvoll aufgerichteten Über-Ich zerrissen sei, zwischen denen das Ich als Vermittlerinstanz fungiere:

"Aber die beiden Aufklärungen, dass das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und dass die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus. Sie stellen miteinander die dritte Kränkung der Eigenliebe dar, die ich die psychologische nennen möchte. Kein Wunder daher, dass das Ich der Psychoanalyse nicht seine Gunst zuwendet und ihr hartnäckig den Glauben verweigert."

Der Bürger ist nicht Herr in seinem gesellschaftlichen Haus

Auch wenn Freud selber immer wieder in schlechter bürgerlicher Tradition dazu tendierte, die spezifisch kapitalistischen Widersprüche, die auch ihren Niederschlag im Seelenleben der kapitalistischen Menschen finden, zu biologischen Konstanten des Menschen schlechthin zu ideologisieren, so ist dieser Erklärungsansatz doch entscheidend: nicht zur Klärung des menschlichen Wesens schlechthin, sondern zur Aufklärung über den Zustand des Menschen unterm Kapital.

Freud machte somit klar, dass das selbstherrliche kapitalistische Subjekt, dass der aufgeklärte Bürger nicht Herr in seinem inneren Haus sei. Der Marxsche Fetischismusbegriff, wie er von der Wertkritik geprägt wurde, fügt der Menschheit eine weitere, sozusagen soziologische Kränkung, hinzu. Der Bürger ist auch nicht Herr in seinem gesellschaftlichen Haus.

Auch hier ist der Mensch Getriebener einer gesellschaftlich-unbewussten Eigendynamik uferloser Kapitalverwertung, deren Widersprüche und Folgen naturalisiert werden. Diese abermalige Kränkung des menschlichen Narzissmus durch die Wertkritik stellt somit die stärkste, unbewusste Triebkraft bei der Abwehr ihrer theoretischen Erkenntnisse dar.

Dabei geht es bei der Auseinandersetzung mit dem sehr realen Fetischismus nicht um die passive, resignative Hinnahme des Gegebenen, wie es etwa der Strukturalismus und die Systemtheorie eines Niklas Luhmann mit ihrem Begriff des selbstreferentiellen Systems predigt.

Denn das ist es ja eigentlich, was rechte Ideologie exekutiert: Umgekehrte Psychoanalyse

Im Gegenteil, erst das Bewusstmachen des Unbewussten, erst das bewusste Begreifen des fetischistischen Zustandes der Gesellschaft kann eine Möglichkeit der Emanzipation schaffen. Das unbewusst Erahnte, es muss der bewussten Reflektion zugeführt werden, sollte sich jemals eine Chance eröffnen, die vermittelten Formen subjektloser Herrschaft im Spätkapitalismus emanzipatorisch aufzuheben. Angesichts der eskalierenden Krisendynamik ist dies eine conditio sine qua non des Zivilisationsprozesses.

Ansonsten droht in Wechselwirkung mit weiteren Krisenschüben das Abdriften in die Politpathologien des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, wie sie sich in dem irren Treiben der hysterischen Forentroll-Armeen bereits überdeutlich manifestieren. Denn das ist es ja eigentlich, was rechte Ideologie exekutiert: Umgekehrte Psychoanalyse.


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[1] http://briandeer.com/social/thatcher-society.htm
[2] https://www.heise.de/tp/features/Abschied-vom-Menschenrechtsimperialismus-3713257.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Willkommen-in-der-Postdemokratie-3374458.html
[4] https://www.swr.de/swraktuell/menschen-zeitalter-anthropozaen-jetziges-erdzeitalter-soll-umbenannt-werden/-/id=396/did=18046528/nid=396/1h3b3nb/index.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Die-Prophezeiung-3363149.html
[6] http://www.focus.de/politik/deutschland/sie-rufen-wir-sind-das-volk-fremdenfeindlicher-mob-veraengstigt-fluechtlinge-in-sachsen_id_5299864.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Die-Krise-kurz-erklaert-3392493.html
[8] https://oxiblog.de/die-plurale-oekonomik-der-linken-in-voller-breite/
[9] http://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=16&posnr=135&backtext1=text1.php
[10] http://www.gutenberg.org/files/29097/29097-h/29097-h.htm