Friedenspreis für Kriegsideologie? Anne Applebaum unter Beschuss
Ihr Hauptgegner ist der Pazifismus. Kritik an der Auszeichnung des Deutschen Buchhandels: Deutschlands Medien bleiben skeptisch – zu Recht, meint unser Autor.
Die Intellektuelle als Höfling. Seit über zwei Jahren ist Anne Applebaum, Historikerin, Zeitschriftenkommentatorin und Frau des polnischen Außenministers Radosław Sikorski, einer der Stars der internationalen antirussischen Front.
Denn sie sagt und schreibt genau das, was die Regierenden der Nato-Staaten und ihre Verbündeten hören wollen: Putin ist der neue Hitler, die Ukraine muss mithilfe westlicher militärischer Unterstützung siegen, um einen "Regime Change" in Moskau herbeizuführen, "die Erweiterung der Nato war der größte Beitrag zur Sicherheit" Europas; Pazifismus "objektiv prorussisch"; wir müssten kriegstüchtig werden, also "lernen, uns zu wehren". Denn "ein Netzwerk der Autokratien" greift nach der Weltmacht. Und ganz besonders böse ist China.
Der Cocktail, den Applebaum mixt, ist eine Art "Cuba Libre" mit bitteren Tropfen: Drohungen und Angst, mit zwei, drei Schuss schlechtes Gewissen.
Man darf vermuten, dass ihr dies bei der Entscheidung über die Auszeichnung beim diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels jedenfalls nicht geschadet hat.
Albert Schweitzer, Hermann Hesse, Nelly Sachs, Ernst Bloch, Max Frisch, Jorge Semprún, Jürgen Habermas, Susan Sontag und zuletzt Salman Rushdie – wer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, setzt Maßstäbe an intellektuellem Niveau und moralischer Redlichkeit. Wird Anne Applebaum diesem Niveau gerecht?
"Schwarz-Weiß-Denken"
Zweifel kamen auf und sind erlaubt. Die Süddeutsche Zeitung beschreibt nach der Preisverleihung das "Schwarz-Weiß-Denken" der Befürworterin des Irak-Krieges, die "Tendenz zu widerspruchsfreien Geschichtsdeutungen" und Applebaums "manchmal zweifelhaften Analogien" sowie gezielte NS-Vergleiche.
Applebaums Hauptgegner aber ist der Pazifismus:
Wir haben die Ukraine verteidigt. Russland ging davon aus, sie in ein paar Tagen einzunehmen. Jetzt ist der Überfall zweieinhalb Jahre her und die Ukraine existiert immer noch. Die ukrainische Armee hat sogar die russische Schwarzmeerflotte zerstört.
Sie verteidigen sich weiter erfolgreich und haben inzwischen sogar russisches Territorium eingenommen. Es stimmt nicht, dass wir nichts tun können. Und dieses Gerede davon, dass der Westen zu schwach sei, die Autokratien in Schach zu halten – das ist auch ein wesentlicher Teil der russischen Propaganda.
Jörg Lau kritiert solche Sätze in der Zeit:
Anne Applebaum hat es sich an manchen Stellen zu leicht gemacht. Krankt die deutsche Ukrainepolitik tatsächlich an einem "Pazifismus", den Applebaum mit Zitaten von Thomas Mann aus dem Jahr 1938 kritisierte?
Das kann man nach all den Waffenlieferungen (mögen sie auch immer noch unzureichend sein) kaum behaupten. Auch das Schlagwort "Appeasement" – mit dem Applebaum ebenfalls auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg anspielte – ist unpassend.
Jörg Lau
Frieden ist ein Kampfbegriff geworden
Man sieht: Frieden ist ein Kampfbegriff geworden, der von den verschiedenen demokratischen Kräften sowie von Extremisten in den Parlamenten vollkommen verschieden besetzt wird.
Die Deutschen waren übrigens nie Pazifisten – die Mehrheit der Gesellschaft war immer bereit, zu den Waffen zu greifen, egal ob die Zahl der Wehrdienstverweigerer mal höher oder niedriger ist.
Im Interview mit der SZ dominiert bei Applebaum vor allem die konkrete Warnung vor Russland. Kombiniert mit der Forderung nach Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Applebaums Forderung nach Einschränkung der Meinungsfreiheit
Ich fürchte, es ist nötig, das Internet viel strenger zu regulieren als bisher.
Das heiße "letztlich einfach nur, dass die großen Plattformen endlich rechtlich verantwortlich sein müssen für das, was auf ihnen publiziert wird. Wie es für alle anderen, die etwas publizieren, schon lange üblich ist. Dass weder die Geldwäsche unterbunden wird, noch die Plattformen kontrolliert werden, schadet dem demokratischen Diskurs und den demokratischen Systemen extrem".
Insbesondere die Regulierung der sozialen Medien wäre kein kleiner Eingriff in die offene Gesellschaft.
Verengter historischer Blick
Applebaums Unterstützung für die Ukraine verengt ihr den geschichtlichen Blick. Ihr Buch "Roter Hunger" über die große Hungersnot zu Beginn der Sowjetzeit kritisierte die Historikerin Franziska Davies vor vier Jahren in der SZ (13.01.2020) teilweise scharf.
"Ausgesprochen selektiv und dadurch teilweise irreführend" sei es, es blende viele Fakten aus, lege "eine ganz bestimmte Deutung der Hungersnot vor, indem sie diese als Teil einer ukrainischen Nationalgeschichte erzählt. ... Aber es gibt gute Gründe, warum die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten vermeintlich lineare nationale Geschichten hinterfragt".
Zwar sei Stalins Politik in der Ukraine auch gegen die Ukraine als Nation gerichtet, "aber ist dieser Befund ausreichend, um die Hungersnot als Genozid einzustufen und sie so zumindest implizit in die Nähe der industriellen Vernichtung der Juden durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg zu rücken?"
Auch erwähne Applebaum nicht die Massenpogrome, die zu einem erheblichen Teil Ukrainer kurz nach dem deutschen Einmarsch in der heutigen Westukraine verübten.
Auch wegen solcher Vorwürfe ist Anne Applebaum eine der am deutlichsten verfehlt gewählten Preisträgerinnen in der Geschichte des Friedenspreises.
Die Aufgabe von Wissenschaftlern wie von Journalisten ist in erster Linie Aufklärung. Also präzise zu beschreiben, was ist, und dies in einen Kontext einzuordnen. Aus unabhängiger Perspektive sachlich richtig zu berichten, auch Kritik und Kontrolle auszuüben. Es geht immer noch um sachliche Aufklärung.
"Bereit, für ihre Werte in den Krieg zu ziehen"
Trotzdem ist Applebaum auch glühende Unterstützerin der Ukraine. Schon früh hatte sie vor dem russischen Autoritarismus gewarnt und für eine harte Russland-Politik plädiert. Sie engagiert sich für Waffenlieferungen an die Ukraine und ist "bereit, für ihre Werte in den Krieg zu ziehen".
Sie ist strikte Gegnerin einer besonders in Europa lange praktizierten Appeasement-Politik. Gerade in Deutschland erntet sie dafür auch Kritik.
Die Beschäftigung mit Applebaum lohnt sich dennoch: Denn Applebaum warnt auch vor Fake News, Geldwäsche und Autokraten – und fordert eine wehrhafte Demokratie. Dafür erhielt Anne Applebaum nun den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Heute sterben Demokratien nicht mehr, weil es einen Staatsstreich gibt, nicht mehr, weil irgendein Offizier mit gezogener Waffen einen Präsidentenpalast stürmt, sondern sie sterben, weil gewählte Politiker die demokratischen Institutionen angreifen und unterhöhlen. Das ist es, was wir erleben – in Putins Russland, in Viktor Orbáns Ungarn; im Venezuela unter Hugo Chávez.
Anne Applebaum, Channel 4