Antje Vollmer über die Glaubwürdigkeit der Grünen als Friedenskraft, das letzte Konzept einer europäischen Friedensordnung und den Fauxpas des Westens angesichts des Todes von Michail Gorbatschow. (Teil 1)
Antje Vollmer ist Pfarrerin und Pädagogin. Sie ist zudem als Publizistin tätig und wurde als Bundespolitikerin bekannt. 1983 gehörte sie der ersten Grünen-Bundestagsfraktion an und war von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
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Frau Vollmer, vom UN-Klimagipfel COP27 über die Energiepolitik bis hin zum Parteitag der Grünen in diesem Jahr: Die Partei und ihre Mitglieder scheinen inzwischen zu fast jedem Kompromiss bereit. Das betrifft die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien, die Position zur Atomkraft, aber auch die grundlegende friedenspolitische Verortung. Wie erklären Sie sich das?
Antje Vollmer: Die Grünen haben ihren historischen Platz preisgegeben, der sie in der deutschen Parteienlandschaft und auch in der europäischen Zukunftsdebatte über lange Zeit hinweg einzigartig gemacht hat.
Als Oppositionspartei?
Antje Vollmer: Mehr noch: als methodische Alternative im Umgang mit Systemkonflikten. Sie haben sich zu Beginn der 1980er-Jahre genau dort positioniert, wo die Welt auseinanderzureißen drohte. Und sie haben diese Spannung ausgehalten.
Die alte Friedensbewegung in der BRD und der DDR hat die Aufrüstung in Ost und West in gleicher Weise angegriffen und damit einen höchst umstrittenen Standort gewählt. Aber in der Sache hatte dies erstaunliche Erfolge. Heute neigen die Grünen dazu, sich voreilig auf die Seite der vermuteten Sieger der Geschichte zu stellen.
"Das Wort Verantwortung wird inflationär gebraucht"
Nun bezeichnen sich die Grünen aber auch heute noch als Friedenspartei, wenn es dort etwa heißt: "Unsere Politik zielt auf die Verhinderung gewaltsamer Konflikte, die Beseitigung von Gewalt- und Fluchtursachen und eine aktive zivile Krisenprävention und Konfliktlösung."
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Antje Vollmer: Aber das sind erst mal nur Behauptungen, und sie werden verschoben auf die "Zeit danach", die Zeit nach dem Krieg, die Zeit nach dem Sieg im Systemkonflikt. Es gibt keine inhaltliche Debatte über die jetzt brennende Frage: Wie kommen wir denn zum Frieden hin?
Das Wort Verantwortung wird inflationär gebraucht als Ausdruck pathetischer Selbstvergewisserung. Führende Grüne bezeichnen sich und die Partei als staatstragend. Aber wo tragen Sie diesen Staat hin? In Richtung einer Führungsrolle in Europa? In Richtung zukünftiger Wirtschaftskriege? In Richtung neuer Aufrüstungsspiralen? Oder wollen wir vor allem Weltmeister der Moral werden?
Niemand hat bislang die Frage zufriedenstellend beantwortet, wie wir in diesem Europa, das in so einen desaströsen Zustand geratenen ist, wieder zu einer stabilen Friedensordnung kommen. Offenbar soll darüber erst nach dem Sieg über den verhassten Putin nachgedacht werden.
Wie beantworten Sie die Frage?
Antje Vollmer: Ich suche nach Konzepten unabhängig davon, wer gerade im Kreml an der Macht ist. Das letzte Konzept, an das ich mich erinnere, stammt von Michail Gorbatschow. Und der wiederum hatte auf ein anderes Konzept reagiert, nämlich auf die Entspannungspolitik und die Friedensbewegung. Darauf hat er gehofft. Und er hat damit das Postulat hochgehalten, dass es ohne Russland oder gegen Russland keine stabile Friedensordnung in Europa geben kann.
Die Münchner Sicherheitskonferenz vom 18. bis zum 20. Februar dieses Jahres war die erste entsprechende Tagung ohne Russland seit mehr als 30 Jahren. Vier Tage nach ihrem Ende hat der Krieg in der Ukraine begonnen.
Antje Vollmer: Für mich hat der Krieg in den Köpfen spätestens 2008 und erst recht 2014 begonnen. Das gilt für die russische Position – aber es gilt auch für den Westen. Der Ausschluss von Russland aus Europa war ja das erklärte alte Nato-Ziel.
Es ging demnach darum, die USA dauerhaft als Führungsmacht in Europa zu verankern, Deutschland dauerhaft einzuhegen und zu kontrollieren und Russland dauerhaft draußen zu halten. Aber die Entspannungspolitik, die Öko- und Friedensbewegung und Gorbatschow haben darauf reagiert, indem sie gesagt haben: Unsere Vision ist ein anderes Europa. Es wird keinen dauerhaften Frieden in Europa geben, wenn man Russland ausschließt.
Und am 24. Februar hat die russische Armee die Ukraine angegriffen.
Antje Vollmer: Und damit sind wir in eine Situation geraten, in der Putin das Tor zum Westen auf lange Zeit zugeschlagen hat. Aber auch der Westen hat Russland dauerhaft ausgeschlossen und sich schon lange eine andere Weltordnung überlegt.
Auf beschämende Weise konnte man das praktisch erleben, als sich – mit Ausnahme ausgerechnet von Viktor Orbán – kein einziger westlicher Politiker bereitfand, zur Beerdigung Michail Gorbatschows nach Moskau zu fahren. Selbst Deutschland, das ihm nahezu alles zu verdanken hatte, schickte weder Präsident noch Kanzler, Minister, Botschafter, Parlamentarier, sondern nur einen besseren Hausmeister mit bescheidenem Kranz.
Das kam mir vor, wie eine nachträgliche Exkommunikation aus dem europäischen Heiligtum. Dabei hätten sie alle bei dieser Gelegenheit nicht einmal Wladimir Putin begegnen müssen, der abgesagt hatte. Sie hätten nur ein Minimum an historischer Dankbarkeit und Vision dokumentieren müssen.
Besteht jetzt noch eine Pattsituation zwischen Ost und West?
Antje Vollmer: Nein, das glaube ich nicht, denn es gibt längst einen drohenden Schatten eines sehr großen anderen Elefanten im Raum. Das ist die kommende Auseinandersetzung mit China. Das einzig Sinnvolle an unserer jetzigen Konfrontation ist doch, dass wir eine ehrliche Bilanz ziehen: Hat uns die Methode der Konfrontation mit dem immer autoritärer werdenden Russland im letzten Jahrzehnt genutzt oder geschadet?
Haben uns die einmalig harten Wirtschafts-Sanktionen dem erwünschten Ziel nähergebracht? Und wenn sie uns im Gegenteil eher geschadet haben, sollten wir diese Art der Konfrontation auf die ganze Welt übertragen? Also auch auf die große kommende Auseinandersetzung mit China? Die Frage muss man nüchtern und ohne Selbstbetrug beantworten.
Ich würde gerne mal kurz zurückkommen, auf die Entwicklung der Grünen. Wie erklären Sie sich diesen offensichtlichen Wandel der Partei? Liegt das allein an der massiven Entwicklung der Mitgliederzahl, sozusagen an einem schleichenden Austausch der Parteibasis?
Antje Vollmer: Das alles trägt Züge eines heftigen Generationenkonfliktes, das ist klar. Die heute Verantwortlichen wissen wenig von dem damaligen Zusammenschluss der Basisbewegung in Ost und West, von der Idee der Blocküberwindung anhand von Ökologie – und Friedensfrage.
Für uns hatte die größten Probleme der Menschheit weder der Kapitalismus noch der Sozialismus bewältigt. Unser Ziel war es, uns aus der Block-Logik zu befreien und nach vorn zu denken. Vom Triumph des Westens als Ziel der Geschichte waren wir nicht überzeugt. Das bewahrte uns auch vor moralischer Hybris.
"Auch die Ökologen müssen sich irgendwann entscheiden"
Wer die notwendige Verbindung von Friedenspolitik und Ökologie im Kopf hat, der weiß, dass er niemals die ökologische Frage weltweit lösen kann ohne eine neue Zusammenarbeit mit China und Russland und den Teilen der Welt, die sich nicht dem Westen zugehörig fühlen. Der weiß, dass er eine Brücke bauen muss über den immer tiefer werdenden Graben zwischen den neuen Machtzentren des neuen Kalten Krieges.
Gibt es noch Stimmen bei den Grünen, die diese Position vertreten?
Antje Vollmer: Also Pazifisten kenne ich keine mehr. Ökologen gibt es noch eine ganze Menge. Aber auch die müssen sich irgendwann entscheiden: Wollen sie vorrangig die Bösewichte der Welt, also die Putins und Xi Jinpings, bestrafen, oder wollen sie die Welt retten?
Im Augenblick hat man den Eindruck, dass die Grünen sich dafür entschieden haben, führend in der Phalanx derjenigen mitzumachen, die die verfluchten Autokraten zu Fall bringen wollen. Eine pazifistische Vision, die selbst für den Paria einen Ausweg sucht, hin zu neuen gemeinsamen Zielen, gilt ihnen als charakterlos und "lumpenpazifistisch".
Das hat viel damit zu tun, wie ernst man die Gattungsfrage in der Klimakrise nimmt. Ob wir meinen, uns noch ein paar Umwege leisten zu können, oder ob wir alles, wirklich alles darauf konzentrieren, Wege zum Frieden zu finden, damit wir endlich zu einer gemeinsamen Klimapolitik kommen.
Wie kommt es denn zu dieser Entwicklung? Ist das nach Ihrer Beobachtung ein Ergebnis der parlamentarisch-politischen Debatte, oder spielen da noch weitere Akteure eine Rolle?
Antje Vollmer: Über keine Entwicklung grübele ich mehr nach als über das umfassende Umkippen des Bewusstseins, das die alte Bundesrepublik bis in die 1990er-Jahre geprägt hat und das von Entspannungspolitik und Gerechtigkeitsfragen doch sehr durchdrungen war.
Jetzt wird uns ja dauernd gesagt, die Welt habe sich vollkommen verändert. Ich glaube aber eher, unsere Position zur Welt hat sich verändert.
Und da spielen die Leitmedien - alle im gleichen Alter wie die Grünen - eine zentrale Rolle. In den Talkshows und Rundfunk-Interviews ist es eine Gruppe, die gar nicht so sehr bekannt ist, aber großen Einfluss hat: eine anwachsende Menge von politischen Thinktanks und sogenannten Militär-Experten, die übrigens immer jünger und immer weiblicher zu werden scheinen.
"Die Heinrich-Böll-Stiftung war geprägt von dem Pazifisten Heinrich Böll"
Es ist an sich aber doch nicht verwerflich, Vertreter solcher Organisationen einzuladen, die im besten Fall Fachwissen in die Debatte einbringen.
Antje Vollmer: Das würde zutreffen, wenn es nicht eine grundsätzliche politische Neuausrichtung vieler dieser Organisationen gegeben hätte. Nehmen Sie etwa die Körber-Stiftung und die Bosch-Stiftung. Beide sind von ihren Gründern gedacht worden als Instrumente der Versöhnung und der Nachkriegs-Verständigung mit Russland.
Die Stiftung Wissenschaft und Politik dachte unter dem Einfluss von Habermas und Carl Friedrich von Weizsäcker über Weltinnenpolitik und über das Friedensethos nach, also über Fragen der weltweiten Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung.
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik war einst eine hochgeachtete Institution, in der führende Staatsleute aus Ost und West eine faire Plattform hatten, um ihre Sicht der Welt darzulegen.
Die Heinrich-Böll-Stiftung war geprägt von dem Pazifisten Heinrich Böll.
Was ist aus diesen Institutionen inzwischen geworden? Sie sind fast ausschließlich transatlantisch orientiert, sehr konfrontativ zu allen Gedanken der Entspannungspolitik, die sie als überholt definieren. Und sie sind immer dichter an die Berliner Politik-Blase herangerückt. Und das alles ohne öffentliches Mandat, sondern oft im privatwirtschaftlichen Interesse.
Das heißt, das sind keine inhaltlich unabhängigen Institutionen mehr, sie verbreiten aber eine ziemlich einheitliche Agenda. Sie haben ihren Gründungsauftrag nahezu in das Gegenteil verkehrt.
Lesen Sie im zweiten Teil dieses Gesprächs, wie der ideologische Lobbyismus die Demokratie untergräbt, warum wir die mediale Mehrheitsmeinung hinterfragen sollten und warum Reformen einem Regime Change vorzuziehen sind.
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