Gaza-Krieg spaltet Deutschland: Waffenlieferungen auf dem Prüfstand
Deutsche Parteipolitik im Krieg Israels gegen die Hamas und den Völkermord-Vorwürfen: Innenpolitisch droht nach der Ukraine die nächste Polarisierung.
In Deutschland flammt eine Debatte wieder auf. Zwei Jahre nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine stehen mit dem Gaza-Krieg wieder Verantwortung und Völkerrecht, Geschichte und Geopolitik im Brennpunkt.
Wieder einmal droht sich ein Konflikt zu einem Flächenbrand auszuweiten.
Und dies führt auch zu einem innenpolitischen Konflikt in Deutschland.
Politischer Grabenkampf in Berlin
Knapp 3.000 Kilometer von Gaza entfernt tobt auch in Berlin ein politischer Grabenkampf, an dessen Front sich das sogenannte bürgerlich-konservative und das sozialliberale Lager gegenüberstehen. Der Angriff Irans auf Israel wird die Debatte gerade wegen des Risikos einer weiteren Eskalation der Waffengewalt im Nahen Osten verschärfen und verkomplizieren.
Wie sehr der iranische Angriff auf Israel, von Teheran als Vergeltungsschlag bezeichnet, Grundhaltungen der verschiedenen Lager in Deutschland zu Waffenlieferungen an Israel verstärkt oder sie vielleicht verändern kann, wird sich erst noch zeigen.
Mit dem eskalierten Konflikt zwischen Israel und Iran rücken andere Fragen in den Vordergrund, doch bleibt der Krieg im Gazastreifen als zugrundeliegendes Problem der Feindseligkeiten, mit dem andauernden Risiko der Eskalation.
Die Grundpositionen in Deutschland bauen auf verfestigten Fronten auf. Während die einen nach dem brutalen Angriff palästinensischer Milizen unter Führung der Hamas fordern, Israel zu verteidigen, verlangen andere den sofortigen Stopp deutscher Waffenlieferungen im Angesicht eines "Völkermords".
Beide berufen sich dabei auf die historische Verantwortung Deutschlands, die allerdings auch in vergangenen europäischen Kriegen ihre Janusköpfigkeit offenbart hat: Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg.
Ein Gespräch zwischen Gregor Gysi (Linke) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) in der ARD-Sendung Maischberger illustrierte diesen Grabenkampf zuletzt besonders anschaulich.
Ebenso wie zwei Anträge, die beide am 10. April im Deutschen Bundestag eingebracht wurden. Einer stammt von der CDU/CSU-Fraktion, der andere vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW).
CDU/CSU: "Keine Ambivalenzen" bei der Staatsräson
In ihrem Antrag "Historische Verantwortung wahrnehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen" betont die Unionsfraktion, dass mit dem Angriff der Hamas "die Existenzfrage" für Israel stelle.
Zwar räumt die Fraktion ein, dass "nationale Konventionen" und die "humanitäre Situation" im Gazastreifen berücksichtigt werden müssten, die deutsche Staatsräson gebiete allerdings, die Regierung Benjamin Netanjahus nach Kräften militärisch zu unterstützen und auf internationaler Bühne "unmissverständlich Position zugunsten des angegriffenen Israels (zu) beziehen".
"Dabei dürfen keine Ambivalenzen aufkommen", stellen die Unterzeichner klar.
Die Fraktion nimmt auch Bezug auf jenen drohenden Flächenbrand – inklusive seiner Parallelen zum Ukraine-Krieg –, der von Gaza aus Raum zu greifen droht. Die Bundesregierung wird deshalb aufgefordert, sich den "vergleichbaren Terrormustern" von Iran und Russland entgegenzustellen, und zwar mit einem "umfassenden Sanktionsregime", das auch eine Prüfung der Zahlungen an alle "in palästinensischen Gebieten tätigen Organisationen" umfasst.
Damit dürfte speziell das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gemeint sein, dessen Förderung die Europäische Union und andere Länder nach einem drastischen Mittelentzug (Telepolis berichtete) wieder aufgenommen haben.
Deutschland und die USA zählen nicht dazu. Letztere verkündeten kürzlich sogar eine Streichung der Mittel bis Ende 2025. Die Union sieht dagegen vielmehr "die arabischen und muslimischen Länder" in der Pflicht, mehr humanitäre Hilfe zu leisten.
Unionsfraktion: Für Sicherheitsinteressen Israels
Ihre pazifistisch anmutende Beteuerung, den israelisch-arabischen Dialog zu fördern und an der Zwei-Staaten-Lösung gemäß der Osloer Verträge festhalten zu wollen, konterkariert die Unionsfraktion derweil durch eine eindimensionale Darstellung.
Der zufolge sei der Widerstand gegen die "legitimen Sicherheitsinteressen" Israels zugleich auch das verbindende Merkmal von Antisemiten und "Israel-Hassern".
Diese Sicherheitsinteressen wurden vom amtierenden Premier Netanjahu allerdings nicht nur sehr freimütig interpretiert, auch die von Mitgliedern der Regierungspartei Likud unterstützte Siedlungspolitik im Westjordanland steht in direktem Widerspruch zu jenem Abkommen und wird dagegen teilweise sogar als Gefahr für die nationale Sicherheit Israels bewertet.
Netanjahu selbst bezeichnete das Abkommen im Dezember als "Erbsünde" und stellte sogar einen direkten Vergleich zu den Todesfolgen des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober an.
Die konträre Position zu derjenigen der Union findet sich im Antrag der BSW-Fraktion vom selben Tag. Er trägt den Titel "Keine Waffen für den Krieg in Gaza – Rüstungsexporte an Israel stoppen".
BSW: "Keine Pflicht zur bedingungslosen Unterstützung"
Das BSW spricht im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg von einer "schwere(n) Verletzung des humanitären Völkerrechts" und widerspricht der Union darin, dass die militärischen Handlungen "von Israels legitimem Recht auf Selbstverteidigung (…) gedeckt" seien:
Die Bombardements auf Zivilisten und die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen sowie die Behinderung ausreichender humanitärer Hilfe durch Israel haben zu einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen geführt.
Aus dem Antrag des BSW
Fernab von Handlungen wie der Tötung des "eindeutig identifizierbaren" Reuters-Journalisten Issam Abdallah und dem Angriff auf mutmaßlich eindeutig identifizierbare Mitarbeiter der NGO World Central Kitchen, die als potenzielle Kriegsverbrechen gehandelt werden, hat Südafrika den Staat in Nahost bekanntlich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (ICJ) wegen Völkermords angeklagt, worauf das BSW ebenfalls Bezug nimmt.
Im Zuge dieser Klage ist auch die Rolle Deutschland in den Fokus geraten. Und wurde Gegenstand einer weiteren Klage von Nicaragua gegen die Bundesrepublik (Telepolis berichtete).
Der zentralamerikanische Staat wirft Deutschland vor, sich durch die Unterstützung Israels und den Mittelentzug von UNRWA an besagtem Völkermord zu beteiligen. Die juristischen Repräsentanten der Bundesrepublik weisen diesen Vorwurf zurück.
Sei beteuern, dass die Regierung Israel zum Großteil mit nicht-tödlichen Militärutensilien unterstützt und auch abseits der UNRWA-Finanzierung weiter um die humanitäre Unterstützung des Gaza-Streifens bemüht ist.
Deutschland: Zweitgrößter Waffenlieferant an Israel
Deutschland ist nach den USA – allerdings mit großem Abstand – Israels zweitgrößter Waffenlieferant. 2023 exportierte die Bundesregierung mit Rüstungsgütern im Wert von 326,5 Millionen Euro das Zehnfache der Vorjahresmenge.
"Darunter waren Kriegswaffen für 20,1 Millionen Euro, unter anderem 3000 tragbare Panzerabwehrwaffen sowie 500.000 Schuss Munition für Maschinengewehre, Maschinenpistolen oder andere voll oder halb automatische Schusswaffen. Der größte Teil davon wurde nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 genehmigt." Spiegel
Der UN-Menschenrechtsrat hat jüngst in einer Resolution den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen an Israel gefordert.
28 Länder unterstützten die Resolution, Deutschland und die USA stimmten dagegen. Zuletzt hatten auch 250 NGOs um Amnesty International und Oxfam einen solchen Stopp verlangt.
Zusätzlich dazu stellte vor Kurzem eine Gruppe von Palästinensern vor dem Verwaltungsgericht Berlin einen Eilantrag gegen weitere Waffenlieferungen in den Gazastreifen durch die Bundesregierung.
Eine brisante Randnotiz in diesem Zusammenhang, oder vielmehr eine Erinnerung: Im Oktober 2022 wurde auf Antrag der Regierungsfraktionen der Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs um einen Abschnitt ergänzt, der die "öffentliche Billigung, Leugnung und gröbliche Verharmlosung von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen" unter Strafe stellt.
Fraglich ist, wie das Gesetz in diesem Falle auszulegen ist.
In seinem Antrag kritisiert das BSW außerdem, dass Israel sich weigere, die am 25. März 2024 verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates für eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen anzuerkennen und umzusetzen.
Eine zuletzt von den USA angestrengte Waffenpause scheitert Medienberichten zufolge bislang daran, dass die Hamas vorgibt, die 40 israelische Geiseln nicht ausfindig machen zu können, deren Freilassung für die Waffenpause gefordert wird.
Aus der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel, heißt es abschließend im Antrag des BSW, erwachse nicht die Pflicht, den Krieg in Gaza, "der die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht fundamental verletzt, bedingungslos zu unterstützen."
Soweit also die äußersten Punkte im Spektrum der Debatte. Wie sehen aber die Positionen der übrigen Parteien aus?
Und was sagt eigentlich der wichtigste Akteur in dieser Frage zum Kurs der Regierung – die deutsche Bevölkerung?
Die öffentliche Meinung im Politbarometer
Einen Hinweis, in welche Richtung das Pendel der öffentlichen Meinung ausschlagen könnte, lieferte Ende März das ZDF-Politbarometer. Demzufolge hält eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Vorgehen Israels im Gazastreifen für "nicht gerechtfertigt".
Die ausdrückliche Frage nach Waffenlieferungen wurde den Teilnehmern der Umfrage demnach nicht gestellt. Wohl aber zu denjenigen in die Ukraine, die laut Politbarometer 66 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung ernten.
Wo stehen die Parteien aus Regierung und Opposition?
Die Regierungsparteien schätzen die Lage in Gaza aktuell ähnlich ein. Jenseits der gemeinsamen Regierungserklärung, die am 10. Oktober in unmittelbarer Reaktion auf den Angriff der Hamas folgte und im Einklang mit der CDU/CSU Israel "volle Solidarität" bei der Vertretung seiner "legitimen Sicherheitsinteressen" zusicherte, gab es aber zwischenzeitlich durchaus abweichende Beurteilungen.
Grüne
Das Bündnis 90/Grüne hatte in seinem sicherheitspolitischen Parteiprogramm "Sicherheit, Frieden Abrüstung" eigentlich betont, keine Rüstungsgüter in Kriegs- und Krisengebiete zu exportieren, dann allerdings durch Exporte nach Saudi-Arabien, in die Ukraine und schließlich auch Israel deutlich gemacht, dass dieses Versprechen keine uneingeschränkte Gültigkeit besitzt.
Dennoch sprechen sich nun auch die Grünen für eine sofortige Feuerpause mit anschließendem "dauerhaften Waffenstillstand" im Gaza-Streifen aus.
SPD
Die Sozialdemokraten, deren ehemaliger Ko-Vorsitzender Norbert Walter-Borjans Waffenlieferungen an Israel 2021 noch mit einem Mitspracherecht bei der Konfliktlösung zu verknüpfen suchte – und das erfolglos –, offenbarten im Januar ein innerparteiliches Zerwürfnis in der Gaza-Frage.
Eine Gruppe von 20 Abgeordneten um Ralf Stegner hatte sich in einem gemeinsamen Appell gegen den damaligen Kurs des Parteigenossen und Bundeskanzlers Olaf Scholz gestellt und sich für einen sofortigen Waffenstillstand ausgesprochen.
Mitte März schloss sich schließlich auch Scholz diesen Forderungen an. Parteichef Lars Klingbeil äußerte Ende März "erhebliche Zweifel" ob der Achtung des Völkerrechts durch Israel. Eine Diskussion über die Einstellung von Waffenlieferungen an Israel ist dem Autor allerdings nicht bekannt.
FDP
Im Oktober erntete die Enthaltung Deutschlands bei der Abstimmung zu einer UN-Resolution für eine Waffenruhe in Gaza Kritik von FDP-Parteichef Christian Lindner und Generalsekretär Bijan Djir-Sarai.
Letzterer bezeichnete das Votum des Außenministeriums laut Spiegel als "enttäuschend und nicht nachvollziehbar". Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hatte gefordert, die Resolution rundweg abzulehnen.
Die verteidigungspolitische Sprecherin der FDP Strack-Zimmermann stellte im eingangs genannten Gespräch mit Gregor Gysi analog zur juristischen Vertretung Deutschlands vor dem ICJ heraus, dass Deutschland keine letalen, also tödlichen Waffen an Israel liefere. Eine Einstellung der Lieferungen steht demnach offenbar nicht zur Debatte.
Linke
Die Position der Linken ist in Bezug auf die Gaza-Krise mit den ehemaligen Parteigenossen aus dem BSW deckungsgleich. Die Linke hatte ihrerseits bereits am 23. März im Bundestag einen Antrag auf "unverzüglichen Waffenstillstand" gestellt.
In ihrem Antrag hatte die Partei außerdem bereits "ein Ende der Waffenlieferungen durch Deutschland an Israel" sowie einen "Ausbau der humanitären Hilfen nach Gaza" gefordert.
AfD
Besonders uneinheitlich scheinen die Positionen innerhalb der Alternative für Deutschland zu sein. Die Partei verortet sich traditionell eher an der Seite Israels und verbindet diese Position zumeist mit ihrer anti-islamistischen Haltung.
Kurz nach dem Angriff der Hamas sorgte allerdings ein Kommentar des Ko-Vorsitzenden der AfD-Fraktion, Tino Chrupalla, für innerparteilichen Wirbel. Chrupalla hatte am 11. Oktober dafür geworben, "auf Deeskalation (zu) setzen, um einen Flächenbrand abzuwenden".
Das schien mit der übrigen Parteilinie zu kollidieren, die das Selbstverteidigungsrecht Israels und den Kampf gegen den islamistischen Terror betont.