Geflüchtete als Feindbild der EU
An allen Außengrenzen verschärfen EU-Staaten ihre Abschottungspolitik. Flucht und Migration werden kriminalisiert, Unterstützungshandlungen ebenso
In den letzten Tagen hat die Entrechtung von Geflüchteten an der Grenze zwischen Belarus und EU-Ländern große Aufmerksamkeit erregt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) sprach am Montagabend von einem "hybriden Angriff" in Form gezielter Schleusungen, forderte Sanktionen gegen Belarus erklärte, Regierung von Alexander Lukaschenko müsse mit der "zynischen Instrumentalisierung von Migranten" aufhören.
Letztere wurden gleichwohl zur Bedrohung und zu einer Art Waffe stilisiert. Polen hatte unterdessen 12.000 "kampfbereite" Soldaten an die Grenze zu Belarus geschickt, um unerwünschte Grenzübertritte zu verhindern.
Die zivilgesellschaftliche Organisation Seebrücke startete dagegen eine Initiative für die schnelle Aufnahme der Menschen, die an der Grenze in der Winterkälte ausharren müssen. Am Dienstag stoppte die polnische Polizei einen Bus von Unterstützern der Geflüchteten. Der Bus der Initiativen Seebrücke Deutschland und Leave No One Behind durfte am Dienstagabend wenige Kilometer vor dem Grenzübergang Kuznica nicht weiter in Richtung Osten fahren.
Die Aktiven hatten zuvor Hilfsgüter wie Winterschuhe und Decken an eine polnische Organisation übergeben. Ein Sprecher der Gruppe, Ruben Neugebauer stellte die Aktion in Zusammenhang mit dem Tag des "Mauerfalls" am 9. November 1989 in Berlin. Es mag eine auf den ersten Blick einleuchtende Parallele sein, die allerdings unterschlägt, dass mit dem damaligen Fall der Systemgrenze die Mauer zwischen der ersten und der sogenannten Dritten Welt gewachsen ist. Darauf hatte der uruguayische Soziologe Eduardo Galeano bereits Anfang der 1990er Jahre hingewiesen.
Druck auch auf Flüchtlingshelfer
Ursprünglich hatten die Flüchtlingsunterstützer angekündigt, auf dem Rückweg nach Deutschland Migranten von der belorussischen Grenze nach Deutschland zu bringen. Sie wurden vom Bundesinnenministerium verwarnt, dass "eine unautorisierte Beförderung und eine etwaige unerlaubte Einreise" strafrechtliche Konsequenzen haben könnte. Tatsächlich ist die Kriminalisierung von Flüchtlingshelfern nicht neu.
Schon in den 1990er-Jahren wurden in Sachsen Taxifahrer vor Gericht gezerrt, weil sie Flüchtlinge befördert haben. Heute werden vor allem in Griechenland und Italien Unterstützer, aber auch Geflüchtete und Migranten selbst kriminalisiert. Dabei findet die Justiz immer wieder neue Wege. Ein aktueller Fall ist Ayoubi Nadir aus Afghanistan, der mit seinen Sohn über das Mittelmeer in die EU zu fliehen versuchte. Am 8. November 2020 kenterte das Boot, sein sechsjähriger Sohn starb. Ayoubi Nadir sitzt seitdem in Griechenland im Gefängnis.
Im Frühjahr 2022 soll er wegen Kindeswohlgefährdung angeklagt werden. Dabei drohen bis zu zehn Jahren Gefängnis. Ein weiterer Geflüchteter soll wegen "unerlaubten Transport von 24 Drittstaatsangehörigen in griechisches Hoheitsgebiet" angeklagt werden. Ihm könnte als Höchststrafe sogar Lebenslänglich drohen. Zum Jahrestag des Bootsunglücks haben antirassistische Initiativen aus sieben europäischen Ländern unter dem Motto "Freiheit für die Samos2" eine europaweite Solidaritätskampagne gestartet.
Die Initiative ging vom Netzwerk Borderline Europe aus, das sich bereits seit Jahren gegen die Kriminalisierung von Flucht und Fluchthilfe engagiert. "Es haben sich dann jedoch sehr schnell unterschiedlichste Gruppem aus ganz Europa angeschlossen, insbesondere aus Griechenland; so zum Beispiel. griechische Aktivist:innen von den ägäischen Inseln, wie etwa 'Aegean Migrant Solidarity' aus Lesbos oder Alarmphone", so die Aktivistin Julia von der Samos2-Kampagne gegenüber Telepolis.
"Die Kriminalisierung von Bootsfahrenden ist bereits seit Jahren systematische Praxis, Staaten wie Griechenland und Italien praktizieren es vielleicht weniger offensichtlich, indem sie es zum Beispiel hier als 'Schleuserbekämpfung' verkaufen." Auch im Fall der Anklagen gegen die beiden Männer auf Samos werde eine EU-Richtlinie, die vorgeblich dem Schutz vor Menschenhandel dienen soll, als Waffe im Kampf gegen Geflüchtete genutzt.
Julia betont, dass nicht der Vater für den Tod seines Sohnes verantwortlich sei, sondern eine Politik der EU, die legale Fluchtrouten verwehrt und somit Menschen zwingt, immer gefahrvollere Fluchtwege zu nutzen.
Orbánisierung der EU-Flüchtlingspolitik
Bereits 2020 wurden in Ungarn Geflüchtete wegen "unerlaubten Grenzübertritt" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Diese Kriminalisierung von Asylsuchenden wurde als Kennzeichen der ultrarechten konservativen Regierung Viktor Orbáns verurteilt.
Doch faktisch wurde Orbán in dieser harten Haltung von vielen Politikern anderer EU-Staaten unterstützt und bestärkt. Die Kriminalisierung der beiden Männer auf Samos könnte so als eine bewusste "Orbánisierung" der EU-Flüchtlingspolitik bezeichnet werden. Julia von Samos2 stellt auch die Verurteilung des Bürgermeisters von Riace, Mimmo Lucano, in Italien in den Kontext der Kriminalisierung der Unterstützung für Geflüchtete. Lucano war zunächst für die Aufnahme und Unterstützung von Geflüchteten in dem kleinen italienischen Bergdorf gelobt und mit Preisen ausgezeichnet worden.
Bald geriet er aber Visier der italienischen Rechten wie des zeitweiligen Innenministers Matteo Salvini, dann wurde er auch von der Justiz kriminalisiert und Anfang Oktober zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. So zeigt sich, dass es zu kurz gegriffen ist, immer nur auf Rechte in Politik und vor allem Ministerämtern zu schauen.
Salvini hatte sich in seiner Zeit als Innenminister als rechter Sprücheklopfer betätigt, seine Politik in diesem Amt, das er seit Herbst 2019 nicht mehr bekleidet, war aber weitgehend symbolisch geblieben. Rechte in den verschiedenen Staatsapparaten wie der Justiz sind viel gefährlicher. Das zeigt die Verurteilung von Mimmo Lucano ebenso wie die Kriminalisierung der Geflüchteten, auf die Samos2 aufmerksam macht. Der für den Frühjahr 2022 geplante Prozess soll öffentlich begleitet werden. Am 20. November 2021 sollen auf einer Veranstaltung, die auch online übertragen wird, die Anwälte der beiden Angeklagten von Samos zu Wort kommen .