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Geschichten vom "Great Reset"

Kapitalistischer Normalzustand? Schlimm genug, aber langweilig. Warum nicht die größtmögliche Verschwörung? Symbolbild: Michael Knoll auf Pixabay / Public Domain

Viele "Corona-Kritiker" wollen nicht glauben, dass sich der Staat um die Volksgesundheit sorgt. Dabei kann sie ihm nicht ganz egal sein, wenn er den kapitalistischen Normalzustand will. (Teil 2 und Schluss)

Die hier thematisierte Sorte Kritik kriegt es durchaus hin, die Staaten einerseits als unsouveräne Gehilfen der "globalen Geldeliten" zu charakterisieren, ihnen aber andererseits eine Machtentfaltung zu bescheinigen, mit der sie angeblich die ganze Gesellschaft einsperren. Die Behauptung: "Die Rolle des Staates ist geschrumpft oder gar auf dem Weg in die Obsoleszenz" (Fritz Glunk in seinem Buch "Schattenmächte" [1]) verträgt sich offenbar mit der Potenz, die man dem Verblassenden zugleich bescheinigt: "Bereit machen zum harten Oster-Lockdown! Der Inzidenzhype wird hochgefahren" (Norbert Häring in seinem Blog "Geld und mehr" [2]).

"Vermeintliche historische Endkrise"

Zwei Wiener Historiker, Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy, haben das theoretisch weiter ausgebreitet, indem sie zeigen wollten, wie ein Virus dazu benutzt werde, die Gesellschaft zu verändern [3]: "Wir sehen die Inszenierung der Corona-Epidemie als Chance für Kapital und Staatsmacht, (…) die vermeintliche historische Endkrise des kapitalistischen Weltsystems zu überwinden und einen staatlich organisierten Kapitalismus zu errichten, wie wir ihn bisher nicht kannten."

In diesem Satz scheinen sie sich über die "Inszenierung" so sicher zu sein, dass er offenlässt, ob die Überwindung einer "Endkrise" das Ziel oder deren Stattfinden bloß Einbildung sein soll. Jedenfalls soll das Corona-Theater eine bisher unbekannte Organisation des Kapitalismus herbeiführen, obwohl die Autoren eine solche schon nach der Weltwirtschaftskrise von 1973 festzustellen wissen: "Der so genannte organisierte Kapitalismus mobilisierte das Auslandskapital zur Stärkung der Banken, die die Schwäche des Bürgertums durch Industriefinanzierung und Industriebeteiligung kompensierten. Über Fusionen und Übernahmen entstanden in den wichtigen Branchen große Kartelle, denen die kleinteilige, im Konkurrenzkapitalismus verhaftete Unternehmenslandschaft zum Opfer fiel."

Karl Marx analysierte diesen Vorgang als Konzentration und Zentralisation des Kapitals, den Krisen beschleunigen können, der aber aus der gängigen Konkurrenz der Kapitalisten um gesteigerte Erträge hervorgeht, wobei sie vom Kreditwesen angetrieben und von der Wirtschafts- und Finanzpolitik betreut wird. So kennt man eben seinen Kapitalismus schon länger. Neu ist allerdings die Behauptung eines pandemischen Vorwands dafür - die die Autoren sich zu belegen anschicken:

"Vor allem in den entwickelten Industriestaaten (…) ließ sich die Strukturanpassung aufgrund der zögerlichen Haltung von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften, die Klein- und Mittelbetriebe bzw. die sozialen Rechte der Lohnabhängigen schützen wollten, nicht ohne weiteres durchsetzen. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Covid-19-Virus als ungeahnte Gelegenheit."

"Strukturanpassungen" im Mittelstand und bei der Lohnarbeit sind zwar ein kapitalistischer Dauerzustand ohne Verzögerung oder nennenswerten Widerstand. Die Autoren ergreifen aber die Gelegenheit, die Epidemie als Einreißen einer Barriere in dieser Hinsicht darzustellen, das der Staat - seinen kompensatorischen Maßnahmen zum Trotz - angeblich selber ins Werk setzt:

"Die staatlich herbeigeführte Monopolisierung führt in vielen Branchen zum Ende des von Eigentümern geführten Klein- und Mittelbetriebes" und ersetzt diese Sparte durch den "Siegeszug der Pharmaindustrie", "den Einzug der Künstlichen Intelligenz" und durch "Unternehmen, die im autoritären Zeitalter besonders gebraucht werden". Mit ein wenig Übertreibung und Vereinseitigung wird sich die "ungeahnte" Sonderrolle der Pandemie in einer "vermeintlichen Endkrise" doch bebildern lassen.

"Was liegt also näher, als den Faktor Mensch aus dem Wirtschaftsleben zurückzudrängen oder ihn ins Homeoffice zu verdammen", damit "er nicht mit seinesgleichen in physischen Kontakt" kommt und "mögliche Proteste (…) viral" bleiben? Dass Unternehmer drei Viertel der Belegschaft weiterhin an den physischen Arbeitsplatz beordern, ohne dass eine Gegenwehr virulent würde, tut dieser Sicht keinen Abbruch. Wenn es also demnach Covid-19 nicht gäbe - es hätte zum Überleben des Kapitalismus glatt erfunden werden müssen.

Nach "Drehbuch"

Die Logik eines solchen Denkens bringt auch Publizisten hervor, die den fingierten Charakter der Pandemie behaupten oder zumindest den Verdacht durchblicken lassen, wie das zum Beispiel Paul Schreyer im Multipolar-Magazin mit Blick auf deren Ausbreitung Anfang 2020 tut [4]: "Zur Erinnerung: Am 24. Januar, als das WEF-Treffen der führenden Konzern- und Staatschefs in Davos zu Ende ging und in internationalen Leitmedien wie der New York Times bereits große Angst vor einer neuen Pandemie und deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft beschworen wurde, meldete die Weltgesundheitsorganisation lediglich 25 (!) Tote weltweit." Dass die WHO damit vor einer potenziellen Gefahr großen Ausmaßes warnen wollte, die sich danach auch einstellte, hält der Autor für eine Fiktion.

Reeller scheint ihm eine Enthüllungsgeschichte über fünf Todesfälle: Im Fall des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer (CDU) [5] und eines ranghohen Mitarbeiters "sprachen die Behörden von Selbstmord", so Schreyer. Auffällig sei dass diese Todesfälle "sich beide in Hessen ereigneten, das mit der Bankenmetropole Frankfurt und der dortigen Börse der zentrale Finanzplatz Deutschlands ist". "Mehrere Politiker und Funktionäre, die sich lautstark und entschieden dem Regierungskurs entgegengestellt haben" - genannt werden ein Bundestagsvize, ein Mittelstands-Präsident sowie der Chef eines Gastro-Verbands - seien zudem "spontan und unerwartet" gestorben. Ob "harmlose Erklärungen" für die "Häufung und zeitliche Abfolge" vorliegen, "mag jeder Leser für sich entscheiden".

Der Autor will ja nur mal fragen. Aber "klar ist, dass die derzeit umgesetzten Programme eine politische Vorlage aus dem Jahr 2010 haben, das sogenannte ‚Lock Step‘-Szenario der Rockefeller Foundation" - was als Andeutung genügen muss, um zur nächsten überzugehen: Im September 2019 sei es auf den US-Finanzmärkten "zu einem bedrohlichen Beben" gekommen; ab März 2020 sei dann "in einem historisch beispiellosen Ausmaß ‚Geld gedruckt‘" worden, was "klar erkennbar nichts mit dem Auftauchen eines Virus zu tun" gehabt habe, sondern angeblich einem Drehbuch der Finanzeliten folgt, mindestens vermutlich.

Denn: "Da Viren sich ständig verändern und damit auch zu jeder Zeit "neue Viren" entstehen, die zu tödlichen Atemwegserkrankungen führen, kann mit dem vorhandenen Instrumentarium im Grunde auch jederzeit eine Pandemie ausgerufen werden." Folglich stellt sich für den Autor "die Frage, ob die Coronakrise nicht ein globales Ablenkungsmanöver ist", und "so gesehen könnte es auch um eine ‚Revolutionsvorbeugung‘ gehen", wie das die Kollegen aus Wien mit dem ins Homeoffice verbannten Faktor Mensch ebenfalls schon anklingen ließen. Und Jens Walter, ein Diplomphysiker, weiß [6], dass es ist "noch lange nicht vorbei" sei, denn der Virologe Christian Drosten habe ja "die nächste Pandemie schon angekündigt".

Der Mythos vom großen Neustart

Das World Economic Forum (WEF) und sein traditionelles Treffen in Davos wurden von Schreyer schon stichwortartig erwähnt. Die Stiftung aus Geldern von Großkonzernen unter Leitung eines deutschen Betriebswissenschaftlers gilt neuerdings auch "Corona-Kritikern" als der Ort, an dem die "globalen Eliten" ihre Pläne schmieden. Der Sache nach vermischen sich in diesem Forum die Präsentationen von Wissenschaftlern und Meinungsmachern mit der PR- und Lobbyarbeit von Unternehmen und Geldadel sowie mit politischen Schauläufen und -kämpfen der Oberklasse, die teils den Charakter von Absichtserklärungen oder Affronts im diplomatischen Vorfeld annehmen und das WEF öffentlich aufwerten.

WEF-Chairman Klaus Schwab versteht seinen Laden als Einrichtung, die den "Shareholders" nahebringt, auch an die "Stakeholders", also global, sozial, fair und klimafreundlich sowie innovativ zu denken, damit der Kapitalismus nicht nur brummt, sondern auch ethisch wertvoll erscheint. Seit Schwab in Sorge um die post-pandemische Weltwirtschaft Mitte 2020 "The Great Reset" veröffentlicht [7] und zum Motto einer WEF-Initiative gemacht hat, meinen interessierte Kreise ein passendes Stichwort gefunden zu haben, mit dem sie all das assoziieren können, was in diesem Aufsatz besprochen und kritisiert wurde.

So bleibt abschließend die Frage zu klären, woraus solche Geschichten ihre Plausibilität beziehen, die verstandesmäßig ja nicht sonderlich bestechend ausfällt. Ihnen zufolge nehmen die Staatenwelt und die Geldeliten eine Virusinfektion ausgerechnet dazu her, eine systemgefährdende Krise in der Absicht auszulösen, ihren angeblich historisch festgefahrenen Kreditüberbau aus der Bredouille zu bringen und die Herrschaft der Hochfinanz zu errichten.

Das scheint viel einleuchtender zu sein als die Analyse, dass staatliche Anti-Corona-Maßnahmen auf die Volksgesundheit im Sinne der Rückkehr zum beschissenen kapitalistischen Normalzustand abzielen. Die Geschichten vom "Great Reset" im Sinne einer "Überführung der auf Erwerbsfreiheit und Wettbewerb beruhenden Marktwirtschaft in eine neue Kommandowirtschaft" (Hofbauer) benötigen die Überzeichnung und Skandalisierung der tatsächlichen Vorgänge und leben davon, weil sie ihre "Systemkritik" nur als moralische kennen und vortragen.

Die Fortschritte im modernen Kapitalismus verzeichnen Kritiker dieser Art als das Ende eines Ideals, das sie sich von der Marktwirtschaft gemacht haben und mit dem sie sich dort beheimatet fühlen könnten. So erklärt sich auch die oft erstaunliche bürgerliche Angst vor einem Staat, dem man gestern noch demokratisch zugewandt war und den man heute als autoritäres Regime bezeichnet. Eine rationale und systemische Erklärung der Pandemie-Politik und ihrer kapitalistischen Grundlage kommt solchen Klageführern dann geradezu schwach und beschönigend vor.


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https://www.heise.de/-6025743

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nachdenkseiten.de/?p=71094
[2] https://norberthaering.de/news/ready-for-full-lockdown/
[3] https://www.heise.de/tp/features/Post-Corona-4695731.html
[4] https://multipolar-magazin.de/artikel/was-steckt-hinter-der-corona-politik
[5] https://www.fr.de/hessen/hessen-thomas-schaefer-zweiter-suizid-finanzministerium-zr-13655044.html
[6] https://www.blautopf.net/index.php/politik/politik-corona/item/95-corona-trauriger-hoehepunkt-einer-langen-geschichte
[7] https://www.weforum.org/agenda/2020/06/now-is-the-time-for-a-great-reset/