Getreide aus Russland: Lettland setzt auf Boykott
Inmitten von Bauernprotesten schafft Lettland Fakten: Importverbot für Getreide und Viehfutter aus Russland sowie Belarus. Wie das begründet wird und was es bringen soll.
Bauern protestieren in vielen Ländern der EU mit Traktordemos gegen eine Agrarpolitik, die ihre wirtschaftliche Existenz bedroht oder zu bedrohen scheint. Doch die Forderungen in den einzelnen Ländern unterscheiden sich. In Lettland wollen die Traktorfahrer vorwiegend ein Importverbot für Getreide und Viehfutter aus Russland und Belarus – und bekamen es unverzüglich.
Die russischen Landwirte erzielten in letzter Zeit Rekordernten. Nun möchten sie die überschüssigen Tonnen an Getreide, Futtermittel und anderen Produkten preisgünstig exportieren. Das war bislang auch noch ins benachbarte Lettland möglich, das sich aber wirtschaftlich immer mehr gegen Russland abschottet, territorial (Grenzzäune), politisch (keine Verhandlungen, keine Diplomatie) und wirtschaftlich.
Lettland war in absoluten Zahlen innerhalb der EU hinter Spanien zweitgrößter Importeur von russischen Agrarprodukten. Laut Angaben des lettischen Landwirtschaftsministeriums wurden 2022 Agrar-Erzeugnisse von mehr als 302 Millionen Euro aus Russland eingeführt, 2021 waren es lediglich etwas mehr als 122 Millionen gewesen.
Lettische Bauern unter Druck
Lettische Bauern stehen wie ihre Konkurrenten in anderen EU-Ländern unter Druck, die Produktion zu rationalisieren, mehr Fläche zu bewirtschaften, mit teurem technischem Gerät die Produktivität zu erhöhen. Für manche reichen die EU-Subventionen nicht aus, um über die Runden zu kommen. Auf dem Nachrichtenportal LSM kam eine aufgebrachte Landwirtin mit folgender Klage zu Wort:
Im November war es derart schwer, dass ich nicht wusste, wie ich alle Pacht- und Kreditverträge bezahlen soll. Mir kam der Gedanke: ich nehme mir einen Spaten, fahre zum Ministerium, werde mich auf die Straße legen und sagen: Grabt mich ein und Schluss.
Laut LSM fielen die staatlichen Kompensationen für die Trockenheit des letzten Sommers enttäuschend aus: Statt der erhofften 86 Euro nur 19 Euro pro Kuh. Das trieb die Schulden mancher Bauern in die Höhe.
Doch bei einem Thema konnten sich die Bauern mit der Regierung bereits nach ersten Protesten einigen. Am 5. Februar 2024 begaben sich Traktorfahrer in 16 lettischen Kleinstädten in der bekannten Kolonnenformation auf die Straße und drohten damit, nach Riga zu fahren, wenn ihre Forderungen kein Gehör finden.
Sie verlangten neben Entbürokratisierung, die Senkung der Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse auf fünf Prozent, bessere staatliche Absicherung, Aufhebung von Nutzungsbeschränkungen für Agrarflächen an erster Stelle ein sofortiges Importverbot für Lebensmittelprodukte aus Russland und Belarus.
Weitere Preissteigerungen möglich
Die letzte Forderung fand in Riga Gehör. Die mittlerweile oppositionelle Nationale Allianz wandte sich mit einem entsprechenden Vorschlag an das Landwirtschaftsministerium, das von einem Mitglied der Bauernpartei, Armands Krauze, geführt wird. Sein Ressort arbeitete den Gesetzestext aus, der am 22. Februar 2024 vom Parlament, der Saeima, beschlossen wurde. Bis zum Juli 2025 sollen russische Einfuhren von Getreide und Viehfutter verboten werden.
Jānis Reirs, Vorsitzender der Saeima-Haushaltskommission, verkündete den Verbrauchern, dass sich die Preise für Produkte aus der Viehhaltung erhöhen könnten. Dabei sind lettische Konsumenten, von denen 2022 laut Eurostat 22,5 Prozent "armutsgefährdet" waren – der dritthöchste Wert in der EU – stärker von Inflation betroffen als Bürger in wohlhabenderen Ländern, weil sie einen größeren Teil ihres Einkommens für jene Ware ausgeben müssen, die sich am rasantesten verteuerte, das waren neben Brennstoffen eben Lebensmittel. Der Zusammenhang zwischen Sanktionen und Inflation wird in lettischen Medien kaum thematisiert.
Lettland wünscht Importverbot auch auf EU-Ebene
Die lettische Regierung kann allerdings nicht verhindern, dass weiterhin über eigenes Territorium russische Lebensmittel im Transitverkehr in andere EU-Länder transportiert werden, denn sie muss sich an EU-Abkommen halten. Auch das nationale Verbot beschreibt Dina Meistere, Leiterin der Saeima-Rechtsabteilung, als Ausnahme von der Regel:
Die [EU]-Mitgliedsländer werden nicht daran gehindert, angemessene Verbote zu beschließen, die auf der gesellschaftlichen Moral und Ordnung oder auf staatlichen Sicherheitserwägungen basieren.
Das öffentliche Interesse, sowohl gesellschaftliche Sicherheit und Wohlstand zu schützen, als auch die Interessen der Landwirte zu wahren, legitimierten das nationale Verbot.
Diese gesetzliche Maßnahme war aber nur der Auftakt, entsprechende Bestimmungen auch auf EU-Ebene durchzusetzen. Minister Krauze engagierte sich in diesem Sinne gemeinsam mit estnischen Vertretern in Brüssel – und hatte Erfolg.
Am 22. März 2024 verkündete Valdis Dombrovskis, Lette und EU-Handelskommissar, den Beschluss seiner Kommission, die Zölle für Getreide, Ölsaaten und bestimmte Futtermittel aus Russland und Belarus entweder auf bis zu 50 Prozent ihres Wertes oder auf 95 Euro pro Tonne anzuheben.
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Außerdem werden die beiden Länder von den EU-Getreidekontingenten der WTO ausgeschlossen. Dombrovskis betonte, dass diese Zölle derart hoch seien, dass sie die gleiche Wirkung wie Sanktionen entfalteten. Damit sei den Interessen europäischer und ukrainischer Landwirte gedient.
Dombrovskis verkündet Zollerhöhungen
Laut Dombrovskis gefährdet dieser Beschluss aber nicht die internationale Versorgung mit Lebensmitteln. Nach wie vor darf russisches Getreide im Transitverkehr durch EU-Territorium transportiert, aber dort nicht verarbeitet oder konsumiert werden. Ganz im Gegenteil werde Russland nun stimuliert, Märkte außerhalb der EU, unter ihnen Entwicklungsländer, zu beliefern.
Die fast fehlenden fünf Millionen Tonnen, die nun jährlich der EU fehlen, sollen nicht nur einheimische Landwirte ausgleichen. Die EU-Kommission rechnet auch mit Importen aus den USA, Brasilien, Ukraine, Serbien oder Argentinien.
Nach Ansicht des EU-Kommissars besteht die Gefahr, dass Russland die Märkte der EU stören könne. Zudem wies er in einer Pressekonferenz darauf hin, dass Russlands Überschüsse teilweise auf "illegal konfisziertem ukrainischem Getreide" basierten. Falls die Ukraine nach und nach wieder Zugang zu den internationalen Märkten erhalte, könnten die EU-Märkte Ziel der russischen Getreideüberschüsse werden.
Das "Zentrum der Entscheidungsfindung"
Damit werden sich lettische Sanktionsvorstellungen, wenn auch dieses Mal in Form von Zöllen, wieder einmal auf EU-Ebene durchgesetzt haben, falls der Europäische Rat der EU-Regierungschefs zustimmt. Lettland gehört zu den schärfsten Befürwortern von Waffenlieferungen an die Ukraine und von Sanktionen gegen Russland und setzt in Brüssel gemeinsam mit den baltischen Nachbarn und Polen Forderungen durch, die Russland bändigen sollen.
Im Oktober 2022 reiste EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nach Riga. Sie lobte Lettland. Es habe lange Zeit vor Russland gewarnt und Recht behalten.
Seit der "russischen Invasion der Ukraine" habe sich "das Zentrum der Entscheidungsfindung auf dem Gebiet der europäischen Verteidigung und Sicherheit" in die baltische Region verlagert. "Und Lettlands Erfahrung und Führungsstärke werden in den kommenden Schritten entscheidend sein, um die Bedrohungen für unsere demokratischen Werte und das Wohlergehen der EU zu überwinden", meinte sie. Dem wird auf EU-Ebene offenbar kaum widersprochen.