Gewerkschaften schlagen Alarm: Wenn stummes Leiden laute Antworten fordert

Gewerkschaften zeigen mit Streiks klar: Arbeitsschutz zÀhlt. Doch der Gesetzgeber schaut weg. Warum Handlungsbedarf besteht.
Die BeschÀftigten wehren sich gegen krank machende Arbeitsbedingungen. Das zeigen die Streiks der letzten Monate.
Verdi kĂ€mpft fĂŒr bessere Ruhezeiten
Die Gewerkschaft Verdi fordert bei den Berliner Verkehrsbetrieben eine Erhöhung der Ruhezeiten zwischen zwei Fahrdiensten auf zwölf Stunden und die GewÀhrung eines Urlaubstags pro 100 Nachtarbeitsstunden.
Bei den Verhandlungen im NRW-Nahverkehr fordert die Gewerkschaft [1] "Entlastungstage fĂŒr alle BeschĂ€ftigten im ĂPNV" oder "Identischer Ort fĂŒr Arbeitsbeginn und -ende". In der Stahl-Industrie forderte die IG Metall eine 30-Stundenwoche.
GDL: ArbeitszeitverkĂŒrzung fĂŒr Gesundheitsschutz
Die Forderung nach ArbeitszeitverkĂŒrzung begrĂŒndet auch die Gewerkschaft GDL mit Gesundheitsschutz. Auch aus Sicht der Krankenkassen ist die Arbeit der LokfĂŒhrer im Schichtdienst gesundheitsgefĂ€hrdend [2]. UnregelmĂ€Ăige Arbeitszeiten, hĂ€ufige Ăberstunden und Nachtschicht haben Folgen. Dies fĂŒhre zu "hĂ€ufigen Erkrankungen", so die Barmer.
Die Probleme bestehen bereits beim Start des Berufslebens. Die Gewerkschaft NGG fordert eine Verbesserung fĂŒr die Auszubildenden. "Um die Ausbildungszahlen zu steigern, braucht es eine höhere AusbildungsqualitĂ€t", so Chiara Patricia [3] von Alten Blaskowitz, fĂŒr die NGG-Jugend.
Die Branche habe geschlafen:
Die Ausgestaltung muss sich Ă€ndern: mehr Planbarkeit durch feste und weniger (Wechsel-) schichten, keine Ăberstunden und Teildienste, Achtung privater Termine.
DAK-Gesundheit: ArbeitsausfÀlle auf Rekordhoch
Aktuelle Auswertungen machen deutlich, wie akut die Gesundheit der BeschĂ€ftigten branchenĂŒbergreifend gefĂ€hrdet ist: ArbeitsausfĂ€lle wegen psychischer Erkrankungen haben nach Angaben der DAK-Gesundheit im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht.
Die Zahl der Krankschreibungen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 21 Prozent. Ăber alle Berufsgruppen hinweg lag die Zahl der psychisch bedingten Fehltage [4] bei 3,2 Tagen pro Kopf, 2022 waren es noch 3,0 Tage gewesen.
Streiks verdeutlichen: Gesundheitsschutz ist PrioritÀt
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist wieder ein Thema. Aber nur fĂŒr die BeschĂ€ftigten. Hunderttausende protestieren durch Demonstrationen oder Streiks. Die Bundesregierung zeigt sich von dieser klaren Positionierung unbeeindruckt. Gesetzliche Verbesserungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz als Konsequenz dieser Streiks sind kein Thema innerhalb der "Ampel-Regierung".
Bundesarbeitsgericht: Zeiterfassung zur Gesundheitsvorsorge
Diese zeigen aktuelle Entwicklungen beispielhaft: Ein groĂes Streitthema in vielen Betrieben ist die Arbeitszeiterfassung. Mit seiner Grundsatzentscheidung vom 13.09.2022 (Az: 1 ABR 22/21) schreibt das Bundesarbeitsgericht die Zeiterfassung fĂŒr jeden Betrieb vor.
Die Richter begrĂŒnden dies mit Verweis auf das Arbeitsschutzgesetz und zeigen auf, dass die Arbeitszeitregelungen ein Teil krank machender Arbeitsbedingungen sein können. Die Erfassung der tatsĂ€chlichen Arbeitszeiten soll dazu beitragen, dass gesetzliche Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten besser eingehalten werden als bisher.
Auf eine neue gesetzliche Regelung warten Gewerkschaften und BetriebsrÀte seitdem vergeblich. Bundesarbeitsminister hat lediglich einen Gesetzesentwurf erarbeitet.
Arbeitszeitgesetz: Anpassungsbedarf im Wandel der Arbeit
Arbeitsschutzexperten ĂŒberrascht dieses Verhalten nicht. Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) stammt aus 1994. Es geht von sechs Arbeitstagen je Woche aus, die Werktage gehen von Montag bis Samstag.
Der Achtstundentag wurde hierzulande zum ersten Mal 1918 gesetzlich geregelt. Das heutige Arbeitszeitrecht lĂ€sst ein Arbeiten bis zu zehn Stunden zu, in vielen Branchen auch darĂŒber hinaus, etwa in Hotels oder im Gesundheitswesen. Auch kann zwölf Tage hintereinander gearbeitet werden, ohne einen freien Tag dazwischen. Der EuropĂ€ische Gerichtshof entschied dies 2017 fĂŒr zulĂ€ssig.
Noch extremer ist die Situation bei Bereitschaftsdiensten in KrankenhĂ€usern. Nach § 7 Abs. 1 ArbZG darf die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden ĂŒberschritten werden, wenn in die normale Arbeitszeit "regelmĂ€Ăig und in erheblichem Umfang" Bereitschaftsdienst fĂ€llt. Von dieser Regelung machen Unternehmen primĂ€r im Kranken- und Pflegebereich Gebrauch, sogar 24-Stunden-Dienst sind zugelassen.
Dienstreisen sind fĂŒr viele BeschĂ€ftigte Alltag, auch Reisen ins Ausland gehören dazu. Eine gesetzliche Regelung dazu suchen BeschĂ€ftigte vergeblich. Das Bundesarbeitsgericht hat eine Rechtskonstruktion gewĂ€hlt, nach der Angestellten, die selbst Auto fahren, die An- und Abreise der Dienstreise bezahlt wird.
FĂŒr Mitfahrer oder bei Anreise per Zug oder Flugzeug soll die nicht gelten, die beruflich veranlassten Fahrten werden dann als Privatsache behandelt und nicht bezahlt. Massenhaft werden BeschĂ€ftigte so benachteiligt und von Unternehmen ein staatlich akzeptierter Zeitdiebstahl vorgenommen.
Die BeschĂ€ftigten fordern in den Streiks engagiert ihre Rechte den Managern gegenĂŒber ein. Die Bundesregierung vermeidet Konflikte mit den Unternehmen. Auch die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung beklagt das fehlende Handeln des Gesetzgebers.
Homeoffice: Modernes Arbeiten ohne gesetzlichen Rahmen
"Das Homeoffice ist lÀngst akzeptierte Arbeitsform", so Elke Ahlers [5] in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Gute Arbeit, "doch vom Gesetzgeber fehlen bisher dazu eindeutig anzuwendende Vorschriften (z. B. auch Ausstattung, Arbeitsmittel) und ein Rechtsanspruch auf diese Arbeitsform".
Den streikenden BeschÀftigten wird so klar, dass sie auf die Bundesregierung nicht zÀhlen können.
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[1] https://nrw.verdi.de/themen/nachrichten/++co++a2438b58-c1c5-11ee-9933-8958367dfc63
[2] https://www.mz.de/mitteldeutschland/sachsen-anhalt/warum-lokfuhrer-in-sachsen-anhalt-am-haufigsten-krank-sind-3319100
[3] https://jugend.dgb.de/ueber-uns/soli-aktuell/soli-ausgaben-2024/soli-aktuell-3-2024/++co++f0dc5cb8-c5b2-11ee-9064-53af36912b6b
[4] https://www.dak.de/presse/bundesthemen/umfragen-studien/psychische-erkrankungen-auf-hoechststand-beschaeftigte-in-kitas-und-altenpflege-besonders-belastet_59152
[5] https://www.bund-verlag.de/zeitschriften/gute-arbeit/aktuelle-ausgabe
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