Gewerkschaften schlagen Alarm: Wenn stummes Leiden laute Antworten fordert
Gewerkschaften zeigen mit Streiks klar: Arbeitsschutz zählt. Doch der Gesetzgeber schaut weg. Warum Handlungsbedarf besteht.
Die Beschäftigten wehren sich gegen krank machende Arbeitsbedingungen. Das zeigen die Streiks der letzten Monate.
Verdi kämpft für bessere Ruhezeiten
Die Gewerkschaft Verdi fordert bei den Berliner Verkehrsbetrieben eine Erhöhung der Ruhezeiten zwischen zwei Fahrdiensten auf zwölf Stunden und die Gewährung eines Urlaubstags pro 100 Nachtarbeitsstunden.
Bei den Verhandlungen im NRW-Nahverkehr fordert die Gewerkschaft "Entlastungstage für alle Beschäftigten im ÖPNV" oder "Identischer Ort für Arbeitsbeginn und -ende". In der Stahl-Industrie forderte die IG Metall eine 30-Stundenwoche.
GDL: Arbeitszeitverkürzung für Gesundheitsschutz
Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung begründet auch die Gewerkschaft GDL mit Gesundheitsschutz. Auch aus Sicht der Krankenkassen ist die Arbeit der Lokführer im Schichtdienst gesundheitsgefährdend. Unregelmäßige Arbeitszeiten, häufige Überstunden und Nachtschicht haben Folgen. Dies führe zu "häufigen Erkrankungen", so die Barmer.
Die Probleme bestehen bereits beim Start des Berufslebens. Die Gewerkschaft NGG fordert eine Verbesserung für die Auszubildenden. "Um die Ausbildungszahlen zu steigern, braucht es eine höhere Ausbildungsqualität", so Chiara Patricia von Alten Blaskowitz, für die NGG-Jugend.
Die Branche habe geschlafen:
Die Ausgestaltung muss sich ändern: mehr Planbarkeit durch feste und weniger (Wechsel-) schichten, keine Überstunden und Teildienste, Achtung privater Termine.
DAK-Gesundheit: Arbeitsausfälle auf Rekordhoch
Aktuelle Auswertungen machen deutlich, wie akut die Gesundheit der Beschäftigten branchenübergreifend gefährdet ist: Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen haben nach Angaben der DAK-Gesundheit im vergangenen Jahr einen Höchststand erreicht.
Die Zahl der Krankschreibungen stieg im Vergleich zum Vorjahr um 21 Prozent. Über alle Berufsgruppen hinweg lag die Zahl der psychisch bedingten Fehltage bei 3,2 Tagen pro Kopf, 2022 waren es noch 3,0 Tage gewesen.
Streiks verdeutlichen: Gesundheitsschutz ist Priorität
Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist wieder ein Thema. Aber nur für die Beschäftigten. Hunderttausende protestieren durch Demonstrationen oder Streiks. Die Bundesregierung zeigt sich von dieser klaren Positionierung unbeeindruckt. Gesetzliche Verbesserungen im Arbeits- und Gesundheitsschutz als Konsequenz dieser Streiks sind kein Thema innerhalb der "Ampel-Regierung".
Bundesarbeitsgericht: Zeiterfassung zur Gesundheitsvorsorge
Diese zeigen aktuelle Entwicklungen beispielhaft: Ein großes Streitthema in vielen Betrieben ist die Arbeitszeiterfassung. Mit seiner Grundsatzentscheidung vom 13.09.2022 (Az: 1 ABR 22/21) schreibt das Bundesarbeitsgericht die Zeiterfassung für jeden Betrieb vor.
Die Richter begründen dies mit Verweis auf das Arbeitsschutzgesetz und zeigen auf, dass die Arbeitszeitregelungen ein Teil krank machender Arbeitsbedingungen sein können. Die Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeiten soll dazu beitragen, dass gesetzliche Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten besser eingehalten werden als bisher.
Auf eine neue gesetzliche Regelung warten Gewerkschaften und Betriebsräte seitdem vergeblich. Bundesarbeitsminister hat lediglich einen Gesetzesentwurf erarbeitet.
Arbeitszeitgesetz: Anpassungsbedarf im Wandel der Arbeit
Arbeitsschutzexperten überrascht dieses Verhalten nicht. Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) stammt aus 1994. Es geht von sechs Arbeitstagen je Woche aus, die Werktage gehen von Montag bis Samstag.
Der Achtstundentag wurde hierzulande zum ersten Mal 1918 gesetzlich geregelt. Das heutige Arbeitszeitrecht lässt ein Arbeiten bis zu zehn Stunden zu, in vielen Branchen auch darüber hinaus, etwa in Hotels oder im Gesundheitswesen. Auch kann zwölf Tage hintereinander gearbeitet werden, ohne einen freien Tag dazwischen. Der Europäische Gerichtshof entschied dies 2017 für zulässig.
Noch extremer ist die Situation bei Bereitschaftsdiensten in Krankenhäusern. Nach § 7 Abs. 1 ArbZG darf die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden überschritten werden, wenn in die normale Arbeitszeit "regelmäßig und in erheblichem Umfang" Bereitschaftsdienst fällt. Von dieser Regelung machen Unternehmen primär im Kranken- und Pflegebereich Gebrauch, sogar 24-Stunden-Dienst sind zugelassen.
Dienstreisen sind für viele Beschäftigte Alltag, auch Reisen ins Ausland gehören dazu. Eine gesetzliche Regelung dazu suchen Beschäftigte vergeblich. Das Bundesarbeitsgericht hat eine Rechtskonstruktion gewählt, nach der Angestellten, die selbst Auto fahren, die An- und Abreise der Dienstreise bezahlt wird.
Für Mitfahrer oder bei Anreise per Zug oder Flugzeug soll die nicht gelten, die beruflich veranlassten Fahrten werden dann als Privatsache behandelt und nicht bezahlt. Massenhaft werden Beschäftigte so benachteiligt und von Unternehmen ein staatlich akzeptierter Zeitdiebstahl vorgenommen.
Die Beschäftigten fordern in den Streiks engagiert ihre Rechte den Managern gegenüber ein. Die Bundesregierung vermeidet Konflikte mit den Unternehmen. Auch die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung beklagt das fehlende Handeln des Gesetzgebers.
Homeoffice: Modernes Arbeiten ohne gesetzlichen Rahmen
"Das Homeoffice ist längst akzeptierte Arbeitsform", so Elke Ahlers in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Gute Arbeit, "doch vom Gesetzgeber fehlen bisher dazu eindeutig anzuwendende Vorschriften (z. B. auch Ausstattung, Arbeitsmittel) und ein Rechtsanspruch auf diese Arbeitsform".
Den streikenden Beschäftigten wird so klar, dass sie auf die Bundesregierung nicht zählen können.
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