Geld ist nicht alles – warum jetzt so häufig gestreikt wird
Streiks zeigen: Es geht um mehr als Geld. Beschäftigte fordern Respekt und faire Bedingungen. Ein Blick hinter die Kulissen des Arbeitskampfes.
Beim Streit um die Tarifverträge geht es nicht nur um Lohnerhöhungen. Vielmehr sind zunehmend die Arbeitsbedingungen ein Thema – etwa bei der Deutschen Bahn. Schichtarbeit ist Teil des Alltags der Lokführer, aber eine enorme Belastung für die Beschäftigten.
Wofür Gewerkschaften streiken
Für Entlastungen soll nach dem Willen der Gewerkschaft GDL Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich sorgen. Auch die Gewerkschaft Verdi fordert bei den Verhandlungen im Nahverkehr in NRW Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durch "Entlastungstage für alle Beschäftigten im ÖPNV" oder "Identischer Ort für Arbeitsbeginn und -ende".
Bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) will Verdi, dass alle Beschäftigten 33 Tage Urlaub erhalten. Auch soll es eine verlängerte Wendezeit von zehn Minuten auf allen Linien, eine Erhöhung der Ruhezeiten zwischen zwei Fahrdiensten auf zwölf Stunden und die Gewährung eines Urlaubstags pro 100 Nachtarbeitsstunden geben.
Der Fachkräftemangel als Herausforderung
"Der dramatische Mangel an Arbeitskräften im ÖPNV führt überall zu Fahrausfällen und einem riesigen Berg an Überstunden für die Beschäftigten. So geht es nicht weiter", kritisiert Verdi-Landesfachbereichsleiterin Andrea Becker. "Wir werden den Fahrbetrieb nur mit gesunden Beschäftigten auf Dauer aufrechterhalten können"
Diese Entwicklung ist keinesfalls neu. Tarifverträge sind nicht nur eine Möglichkeit, höhere Löhne durchzusetzen. Sie können Rahmenbedingungen für eine gesamte Branche festschreiben. Tarifpolitik ist immer auch ein Instrument zur Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen.
Die zeigen historische Beispiele wie der Lohnrahmentarifvertrag II der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden. Die Vereinbarung in den 70er-Jahren sichert bezahlte Erholungspausen, Taktzeitbeschränkung am Fließband und Verdienstgarantie für über 53-Jährige.
Mit Tarifverträgen zu mehr Personal
Die "Krankenhausbewegung" von Verdi streitet für Tarifverträge zur Personalausstattung. Vorbild sind dabei die Beschäftigten der Charité in Berlin. Die Pflegenden haben 2016 einen ersten Tarifvertrag zu den Arbeitsbedingungen erkämpft. Thema waren tarifliche Mindestbesetzungsstandards und Schlüssel für die Besetzung einzelner Schichten. Die Personalplanung wird so Teil kollektivrechtlicher Vereinbarungen.
Die Gewerkschaften argumentieren sowohl im Pflegebereich als auch im Verkehrswesen mit dem Fachkräftemangel. "Wir möchten mit unseren Forderungen erreichen, dass der Job wieder entlastender gestaltet und attraktiver wird", sagt Verdi-Sprecher Gordon Günther in Berlin.
Arbeitsbedingungen und Fahrgastzufriedenheit
Die Gewerkschaft appelliert an Kunden, um gesellschaftspolitische Zusammenhänge zu verdeutlichen:
Was haben die Arbeitsbedingungen mit mir als Fahrgast zu tun? Täglich kommt es durch hohe Krankenstände und den Personalmangel zu Fahrtausfällen. Schon jetzt fehlen bundesweit ca. 80.000 Beschäftigte. Einen guten und verlässlichen ÖPNV wird es nur geben, wenn sich endlich die Arbeitsbedingungen ändern.
Tarifbindung in der deutschen Wirtschaft
Aber immer weniger Beschäftigte haben überhaupt Anspruch auf einen Tarifvertrag. Die Tarifbindung ist seit Mitte der 1990er-Jahre hierzulande kontinuierlich zurückgegangen. Fielen 1998 noch 73 Prozent unter einen Tarifvertrag, betrug der Anteil 2022 nur noch 51 Prozent. Je größer ein Betrieb ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er einen Tarifvertrag anwendet.
Von den Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten tut dies nur knapp ein Fünftel. Aber die Tarifbindung ist sogar bei den Schwergewichten der deutschen Wirtschaft lückenhaft, meldet die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung: Immerhin sieben der Dax-40-Unternehmen sind an einen Tarifvertrag gebunden.
Unternehmenspolitik und Tarifverträge
Nur wenige Unternehmen wie Bayer, Rheinmetall, Henkel, Sartorius oder BMW geben dazu in ihren Geschäfts- oder Nachhaltigkeitsberichten Informationen. Auch in mehreren tarifgebundenen Konzernen gelten für manche Tochtergesellschaften keine Tarifverträge.
"Dies ist oft das Ergebnis einer bewussten Unternehmenspolitik, der zufolge zum Beispiel Produktionsunternehmen bestimmte Dienstleistungen in unternehmenseigene Servicegesellschaften ausgliedern, die dann entweder einem schlechteren oder gar keinem Tarifvertrag unterliegen", schreiben die Wissenschaftler Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth und Malte Lübker.
Überhaupt keine Tarifverträge haben SAP, die Deutsche Börse, das Biotechnologieunternehmen Qiagen, der Wohnungskonzern Vonovia und der Onlinehändler Zalando, so die Forscher. "Tendenzen zur Aufweichung der Tarifbindung seien aber selbst in lange etablierten, milliardenschweren Konzernen unübersehbar", betonen die Wissenschaftler.
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