Globaler Blick auf Genozide: Deutschland muss umdenken
Konzentrationslager Auschwitz. Ein Denkmal für die Opfer, die hier getötet wurden. Bild: bebecha / Shutterstock.com / Grafik: TP
Deutschland ringt mit seiner historischen Verantwortung für den Holocaust. Die Bedeutung von "Nie wieder" wird heute global diskutiert. Doch was heißt das für eine Welt voller neuer Konflikte? Ein Gastbeitrag. (Teil 2 und Schluss)
Und nun ist auch Deutschland, das Land, das einst den Holocaust verursachte, nach einer vorgezogenen Bundestagswahl an einem Punkt angelangt, an dem eine Partei, die als "in Teilen gesichert rechtsextrem" gilt und immer wieder mit Verharmlosungen der Zeit der Nazi-Diktatur auffällt, mit rund 20 Prozent der Stimmen zweitstärkste politische Kraft geworden ist.
Viele, die das beunruhigt, sprechen nun von "Nie wieder ist jetzt" im Sinne eines fast schon verzweifelten Handlungsaufrufs, oder aber, in bereits fatalistischer Weise, von "Nie wieder ist bald".
"Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich" ist ein bekanntes Zitat, dem ich nicht mehr zustimmen könnte. Gerade jetzt können wir uns wieder einmal jene Frage stellen, wie dieses "Nie wieder" eigentlich interpretiert und in die politische Praxis umgesetzt werden soll.
Mehr Perspektivwechsel wagen
Als global denkender Mensch versuche ich immer, das große Ganze zu sehen und bei identischen oder ähnlichen Phänomenen weltumspannende Zusammenhänge zu erkennen und herzustellen. Ich habe von Spanisch über Russisch bis mittlerweile sogar Chinesisch zahlreiche Fremdsprachen gelernt und mich mit Weltgeschichte, internationaler Politik und auch Funktionsmechanismen in menschlichen Gesellschaften beschäftigt.
Als jemand, der das Privileg hat, erlebnisreiche längere Reisen zu unternehmen, konnte ich die letzten Jahre auch dazu nutzen, mir ein eigenes Bild in Weltregionen zu machen, die vielen im deutschsprachigen Raum bislang noch eher unvertraut sind. Zentralasien gehörte ebenso dazu wie der Südkaukasus sowie Vietnam und Kambodscha, wenngleich all diese Regionen sich immer größerer Beliebtheit erfreuen.
Vor allem innerhalb des "eurasischen Raums", wo Russisch aus historischen Gründen noch relativ weit verbreitet ist, hatte ich zudem das große Glück, mich mit vielen verschiedenen Menschen unterhalten zu können, die naturgemäß sehr unterschiedliche Hintergründe und Sichtweisen auf die Welt haben.
Aufgrund dieser Erfahrungen denke ich, dass wir gut daran täten, dieses "Nie wieder" zu konkretisieren und irgendwann einen globaleren Konsens darüber zu entwickeln, was dieses "Nie wieder" für uns als Menschheit eigentlich bedeutet und welche Botschaften wir daraus ableiten wollen.
Vor allem wäre es aber wichtig, dass wir als Individuen und Weltgemeinschaft versuchen, es so weit wie möglich tatsächlich mit Leben zu füllen und unser alltägliches und politisches Handeln danach auszurichten.
Andernfalls verkommt die ständige verbale Wiederholung zu den immer gleichen Gedenkanlässen zu einem bedeutungslosen und leeren Ritual, das die oft hochgelobte deutsche und europäische Erinnerungskultur in der Zeit erstarren lässt, ohne neue, bereichernde und ergänzende Impulse aufnehmen und sich an eine Welt anpassen zu können, die sich in fast atemberaubender Geschwindigkeit grundlegend verändert.
"Nie wieder" war eigentlich nie
Ein erster Schritt zu mehr globalem Konsens und Zusammenarbeit in dieser Frage könnte darin bestehen, das Leiden "der Anderen" stärker anzuerkennen. Ja, der Holocaust war ein "relatives", wenn auch nicht "absolutes", "singuläres Verbrechen gegen die Menschlichkeit", insbesondere hinsichtlich der Aspekte der industriellen Vernichtung, des Grades an oberster staatlicher Planung und Steuerung und ganz simpel des Umfangs und der Zahl der Opfer in einem relativ kurzen Zeitraum.
Ohne die Bedeutung des Holocausts zu schmälern oder ihn gar zu verharmlosen, ist es jedoch wichtig, dass Deutschland und Europa sich der Tatsache bewusster werden, dass auch lange nach der Shoah das "Nie wieder" für zu viele Menschen in Europa und der Welt leider nicht Realität geworden ist.
Da waren beispielsweise der Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994, der Genozid an den Bosniaken in Srebrenica 1995, die Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen der 1990er-Jahre sowie der Völkermord in Darfur 2003, welche sich allesamt tief in das kollektive Gedächtnis der betroffenen Staaten und Bevölkerungen eingegraben haben und sich bis heute wie ein dunkler Schatten über diese legen.
In den letzten Jahren kamen unter anderem auch noch die erneuten ethnischen Säuberungen in den Kriegen um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, als Reaktion auf den 7. Oktober der Krieg Israels im Gazastreifen, als Folge dessen Israel sich dem Vorwurf des Völkermords ausgesetzt sieht oder der immer noch äußerst unerbittlich geführte Krieg zwischen Russland und der Ukraine hinzu, in dem die Ukraine und einige westliche Unterstützerstaaten Russland des Genozids bezichtigen.
All dies zeigt, dass es noch ein weiter Weg ist, bis ein "Nie wieder" mit echter Substanz dahintersteht.
Ganz zu schweigen von den Völkermorden, die vor dem Holocaust stattfanden und von offizieller Seite nie oder erst spät als solche anerkannt wurden, wie der Völkermord an den indigenen Völkern Amerikas durch die europäischen Kolonialmächte und Siedler, der Völkermord an den Armeniern, Assyrern und Griechen im Osmanischen Reich, der von der Türkei bis heute geleugnet wird, oder der Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia durch das Deutsche Kaiserreich, den die deutsche Bundesregierung erst 2021 offiziell anerkannt hat.
"Nie wieder" neu denken
Das rhetorische Bekenntnis des "Nie wieder" kann jedenfalls, ohne mit einem massiven Glaubwürdigkeitsdefizit einherzugehen, unmöglich der moralische Gipfel deutschen und europäischen politischen Handelns sein. Ebenso bedarf es neuer Denkansätze jenseits der klassischen deutsch-europäischen Erinnerungskultur, um das gegenseitige Verständnis und das friedliche Zusammenleben der Völker der Welt zu stärken.
Dies kann nach wie vor am besten dadurch gelingen, wenn möglichst viele Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und ihres kulturellen Hintergrundes dazu ermutigt werden, mit offenem Blick und Verstand durch die Welt zu gehen und sich in die Perspektive eines Fremden zu versetzen, mit dem sie auf den ersten Blick nichts gemeinsam zu haben scheinen.
Ein "Nie wieder" klingt in den Ohren eines Palästinensers oder einer Palästinenserin, eines Israelis oder einer Israeli, eines Armeniers oder Armenierin, eines Jesiden oder Jesidin, einem Rohingya oder einer Rohingya und wohl auch eines Ukrainers oder einer Ukrainerin anders als für einen Deutschen und Schweizer ohne Migrationshintergrund wie mich.
Im Gegensatz zu diesen Nationalitäten und Volksgruppen sind Krieg, Vertreibung und die Tötung von Familienangehörigen für mich weit zurückliegende Geschichte, die in meinem persönlichen Alltag nahezu keine Rolle spielt. Darüber kann und sollte man sich glücklich schätzen, gerade weil insbesondere auch Menschen mit Migrationshintergrund und kürzlich Zugewanderte manchmal keinen einfachen Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit oder jener ihrer Familie haben (können).
Auch darüber sollten unsere Politikerinnen und Politiker nachdenken, bevor sie diese beiden allseits bekannten Worte das nächste Mal wieder in der Öffentlichkeit verwenden.