"Gratis-Ticket" in Spanien versus Neun-Euro-Ticket in Deutschland
Groß hat die sozialdemokratische Regierung ein "Gratis-Ticket" angekündigt. Doch damit wird ein undurchsichtiger Flickenteppich inklusive "Kautionen" geschaffen.
Spaniens sozialdemokratischer Regierungschef ist der Meister gutklingender Ankündigungen. Pedro Sánchez setzt stets darauf, dass von den positiven Schlagzeilen viel hängen bleibt. Da es in Deutschland – noch – ein Neun-Euro-Ticket gibt, muss Pedro Sánchez auch das noch toppen, wenigstens per Ankündigung und Schlagzeile.
So kündigte seine Regierung als Maßnahme zur Inflationsbekämpfung zunächst großspurig an, dass das Zugfahren in Spanien von September bis Dezember "gratis" sein solle. Er wolle sich mit "aller Kraft" für die "arbeitende Mittelschicht" einsetzen, beschwor Sánchez. Er sei sich bewusst, dass die Löhne immer weniger wert seien und alles immer teurer werde. Spanien liegt mit einer Inflation von offiziell 10,8 Prozent momentan in der Spitzengruppe der Eurozone.
Bereitwillig wurde die Nachricht vom Gratis-Ticket auch in Deutschland aufgenommen. Von T-Online wurde es sogar noch falsch ausgeschmückt. Das Online-Portal titelte: "Spanien macht den ÖPNV ab September kostenlos."
Für Mogelpackungen bekannt
Dass sich die Sánchez-Regierung eher dadurch ausgezeichnet hat, die Interessen der Energiekonzerne zu schützen, dass seine Sozialdemokraten (PSOE) praktisch alle progressiven Ansätze ausgebremst und praktisch alle Wahlversprechen gebrochen haben, kommt in solchen Artikeln natürlich nicht vor.
Deshalb warten die Menschen im spanischen Staat aus gutem Grund, lieber ab, bis auch das Kleingedruckte von großartigen Ankündigungen bekannt ist. Toll klingende Maßnahmen werden nämlich darüber fast immer stark verwässert oder sogar bis zur Unkenntlichkeit entstellt. So wurde die Arbeitsmarktreform der rechten Vorgänger nicht wie versprochen gestrichen, sondern zu 95 Prozent konsolidiert und daher auch von der Unternehmerseite beklatscht.
Statt sich an der Erfolgsgeschichte des Neun-Euro-Tickets zu orientieren, das einfach, praktikabel und unbürokratisch gehandhabt wird, versuchte man in Madrid, das Rad neu zu erfinden. Heraus kam dabei bestenfalls ein Achteck. Denn ohne überbordende Bürokratie geht es im spanischen Staat nicht. Es sei hier für Touristen aus Deutschland schon vorweggenommen, dass sie – anders als Touristen aus Spanien in Deutschland – vom "Gratis-Ticket" praktisch ausgeschlossen sind.
Die erste Hürde besteht darin, dass man sich für das "Gratis-Abonnement" bei der Bahngesellschaft Renfe registrieren muss. Das Ziel sei, die Nutzung des ÖPNV "maximal zu fördern, um den täglichen Weg mit einem sicheren, zuverlässigen, komfortablen, wirtschaftlichen und nachhaltigen Verkehrsmittel zu bewältigen", ließ das Verkehrsministerium in Anbetracht der "ständig steigenden Energie- und Kraftstoffpreise" kürzlich mitteilen.
Man richtet sich eigentlich nur an Berufspendler, die ohnehin in meist in Stoßzeiten schon überfüllten Zügen fahren. Damit wird ein wichtiges Ziel schon konterkariert, deutlich mehr Menschen auf die Schiene zu bringen oder den ÖPNV schmackhaft zu machen.
Tarif- und Gültigkeits-Wirrwarr
Seit einer Woche kann man sich registrieren, um ab dem 24. August an ein Abo zu kommen. Mit der Bürokratie aber noch nicht genug, wird, je nach Fall, dabei eine Kaution von zehn oder 20 Euro fällig. Zehn Euro im Nahverkehr und 20 Euro für Mittelstrecken. Die sollen zurückerstattet werden, wenn man in den angesprochen vier Monaten mindestens 16 Fahrten im Verkehrsnetz oder auf einer Mittelstrecke unternimmt. Und: Achtung, anders als das Neun-Euro-Ticket gilt das "Gratis-Abonnement" auch nur für einen Verkehrsverbund, zum Beispiel Madrid, Sevilla oder Cádiz, oder für nur eine Mittelstrecke.
Wechselt man in der Zeit den Wohn- oder Arbeitsort, muss man sich weitere Male registrieren und erneut eine Kaution oder Kautionen hinterlegen. Die dürften weg sein, wenn man die nötige Anzahl von mindestens vier Fahrten pro Monat nicht nachweisen kann.
Da wir es mit dem spanischen Staat zu tun haben, ist es mit der Kompliziertheit aber noch nicht vorbei. Nehmen wir das Beispiel Katalonien. Zwar gibt es dort mit Rodalies ein Zugsystem neben der spanischen Renfe.
Da Rodalies aber auch nach Jahrzehnten noch immer nicht, wie Renfe im Baskenland, in die Kompetenz der jeweiligen Autonomie übertragen wurde, gilt das "Gratis-Abo" auch für die Rodalies-Züge in Katalonien noch. Anders als das Neun-Euro-Ticket gilt es zum Beispiel aber nicht für das Nahverkehrsnetz Barcelonas.
Dafür hätte man sich mit den Autonomieregierungen abstimmen müssen. Doch der Dialog liegt dem Ankündigungsmeister Sánchez nicht. So bleiben Metro und Busse in Barcelona (TMB) genauso ausgenommen, wie die Nahverkehrszüge "Euskotren" im Baskenland oder der ÖPNV in Bilbao oder Donostia-San Sebastian.
Für Pendler, die über Mehrfach-Chipkarten wie die "Mugi" im Baskenland verfügen, wird ab dem 1. September schlicht nur der halbe Fahrpreis berechnet. Das gilt ebenfalls auch für Nutzer von TMB-Abos in Barcelona. Wer auch Renfe benutzen will oder muss, muss sich registrieren.
"Ich zahle nicht"
"Was heute gratis ist, sind die Kürzungen von morgen", erklärte zu dem Vorstoß die katalanische Regierung, warum sie das Spiel nicht mitmacht. Die Region ist, obwohl sie überdurchschnittlich zur Finanzierung des Landes beiträgt, systematisch unterfinanziert.
Da die katalanische Regierung nicht weiß, wann und ob man die Einnahmeausfälle aus Spanien erstattet bekommt, will sie wenigstens die Hälfte der Einnahmen generieren. Sonst müsste man die Ausfälle an anderer Stelle einsparen.
In Katalonien zahlen im maroden und ausgebluteten Rodalies-System Nutzer ohnehin seit langem aus Protest gegen ständige Verspätungen und Ausfälle nicht mehr. "Wenn Madrid nicht zahlt, zahlen wir nicht", lautet das Motto einer Kampagne.
"No vull pagar" ("Ich zahle nicht") lautet die Devise für viele – und die Jugendorganisation Batec, die für zivilen Ungehorsam eintritt, ruft zu dem Bezahlstreik auf. Batec-Mitglieder manipulieren auch Zugangskontrolleinrichtungen, damit Reisende unbehindert die Züge betreten können. Die Kampagne knüpft an den Streik von 2012 an, als Autobahngebühren nicht mehr bezahlt wurden. Die wurden in Katalonien inzwischen abgeschafft.
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