Griechenlands Abhörskandal immer umfangreicher und skurriler
Oppositionspolitiker überwacht: "Kreise" der Regierung in Athen beschuldigen Ukraine und Armenien.
Nur für eine Woche konnte die griechische Regierung ihre Lügen hinsichtlich des jüngsten Abhörskandals aufrechterhalten. Das verfassungsrechtlich zweifelhafte Vorgehen, Oppositionspolitiker allein aufgrund der Anordnung einer Staatsanwältin abzuhören, erschüttert das politische Leben in Griechenland. Sämtliche Oppositionsparteien verlangen den Rücktritt des Premiers und sofortige Neuwahlen.
Vor knapp einer Woche sah es so aus, als könne die Regierung den Skandal – wie üblich – unbeschadet überstehen. Schließlich hat sie einen Großteil der Presse mit Staatsgeldern für regierungsnahe Berichterstattung belohnt. Geleakte Informationen bringen Premierminister Kyriakos Mitsotakis persönlich in immer größere Bedrängnis.
Sein Büroleiter, "Generalsekretär im Amt des Premierministers", Mitsotakis Lieblingsneffe Grigoris Dimitriadis, trat bereits am Freitag zurück. Seinen Hut nehmen musste auch Panagiotis Kontoleon, den Mitsotakis zum Chef des Geheimdienstes berufen hatte. Dimitriadis war seit Beginn von Mitsotakis‘ politischer Karriere 2004 engster Berater des Premiers.
Eine Ansprache nach zwei Tagen Bedenkzeit
Erst am Montag meldete sich Mitsotakis zu Wort. In einer aufgezeichneten Ansprache ans Volk erklärte er, dass er von den Aktivitäten des Geheimdienstes, der nachweislich den Europaparlamentarier und Vorsitzenden der Pasok, Nikos Androukis, sowie zwei investigative Journalisten ausgespäht hatte, nichts gewusst habe. Hätte er von den "legalen Abhöraktionen" gewusst, hätte er sie unterbunden, beteuerte Mitsotakis.
"Obwohl alles legal geschah, hat der Nationale Geheimdienst die politische Dimension dieser Aktion unterschätzt. Es war formal angemessen, aber politisch nicht akzeptabel. Es hätte nicht passieren dürfen und hat das Vertrauen der Bürger in den Nationalen Informationsdienst (EYP) geschwächt", sagte Mitsotakis und unterstrich den Beitrag des EYP zur Stärkung der nationalen Sicherheit.
Der Premier betonte, dass Griechenland in einer akuten Bedrohungslage seitens "dunkler Mächte" sei, und daher einen starken Geheimdienst brauche.
Mitsotakis ging in seiner Ansprache nicht darauf ein, dass beim Abhören von Androulakis die verbotene Spionagesoftware Predator zum Einsatz gekommen war. Er hatte auch keine Erklärung dafür, dass Androulakis bei einer Routineüberprüfung seines Mobiltelefons durch EU-Behörden von der Abhöraktion erfuhr.
Schlimmer noch, der Premier fand kein Wort der Entschuldigung für die aus "Regierungskreisen" gestreuten Gerüchte, dass Androulakis auf Bitten der Regierungen der Ukraine und Armeniens abgehört worden sei. Die Botschafter beider Länder dementierten vehement.
Seitens der Ukraine gab es beim Dementi auch eine Anschuldigung gegen die "Regierungskreise", die Position der Ukraine im Verteidigungskrieg gegen die russische Invasion zu schwächen.
Eine weitere aus den oft zitierten "informierten Kreisen" gestreute Version über die Gründe der Abhöraktion verbreitete Androulakis im Zusammenhang mit nicht weiter benannten "dubiosen Chinesen".
"Offizielle" Gerüchte
Mitsotakis hatte sich am Freitag für das Wochenende mit seiner Gattin zurückgezogen und war in den Urlaub gefahren. Die Öffentlichkeit bekam derweil am Wochenende die wildesten Geschichten zu hören, auch von offiziellen Vertretern der Regierungspartei, wie dem Pressesprecher Nikos Romanos.
Dieser behauptete, die Abhörprotokolle enthielten sensible persönliche Daten des Oppositionspolitikers und es sei an ihm, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Zwei Tage später fühlt er sich missverstanden, weil die "sensiblen persönlichen Daten" von der Öffentlichkeit als Einzelheiten über das Liebesleben Androulakis aufgefasst wurden, und weil aus Romanos Statement geschlossen wurde, dass er den Inhalt der Abhörprotokolle kenne.
Der Abgehörte fordert Aufklärung
Das Abhöropfer Nikos Androulakis kommentierte Mitsotakis Ansprache scharf:
Mit seiner heutigen Erklärung gab sich der Ministerpräsident einmal mehr tadellos, indem er das Narrativ eines "legalen Fehlers" zur Rechtfertigung einer Straftat und des unmittelbaren Verstoßes gegen die Verfassungsbestimmung der parlamentarischen Privatsphäre aufgriff, versuchte aber offen, die Entwicklungen zu steuern.
Es war offensichtlich, dass Mitsotakis besorgt war, dass der ehemalige Gouverneur der EYP ins Kreuzfeuer geraten würde, während er die objektive politische Verantwortung dem Generalsekretär des Premierministers, Grigoris Dimitriadis, übertrug und sie auf die Ebene der Fahrlässigkeit herabstufte.
Nikos Androulakis
Androulakis warf dem Premier vor, zwar von Aufklärung zu reden, und davon, Licht ins Dunkel zu bringen. Aber: "In welches Dunkel haben Sie Licht gebracht, Herr Mitsotakis? Ins Dunkel des Predators, den Sie nicht einmal erwähnt haben?"
Dann schaltete Androulakis auf Angriff: Der Premierminister habe es "methodisch vermieden", Erklärungen über die angewandten halbstaatlichen Methoden abzugeben, kritisierte er. Mit der Spionage-"Superwaffe" Predator sei versucht worden, sein Mobiltelefon abzufangen, nachdem er, Androulakis, einige Tage zuvor vom EYP überwacht worden sei. Ohne den offiziellen Bericht des Sonderdienstes des Europäischen Parlaments wäre nichts über diese "dunklen Praktiken" bekannt geworden.
Die Märchen ohne "chinesischen Drachen" über die Beteiligung Armeniens und der Ukraine an meiner Überwachung wurden von deren Botschaften auf die offiziellste und für Sie demütigendste Art widerlegt. Herr Mitsotakis, ich verlange, dass der Grund meiner Überwachung durch die EYP, die sie mit zügelloser Frechheit als legal bezeichnet haben, unverzüglich bekannt gegeben wird.
Nikos Androulakis
Dies sei eine Verletzung seiner Privatsphäre und seiner Kommunikation als Mitglied des Europaparlaments sowie als Kandidat der Pasok für den Parteivorsitz, stellte Androulakis klar.
Ich werde keine Vertuschung akzeptieren. Ich werde Herrn Mitsotakis nicht erlauben, einen Schlüsselfall für die Gewaltenteilung in unserem Land zu bagatellisieren.
Nikos Androulakis
SLAPP-Klagen gegen Journalisten
Mitsotakis stellte während seiner Ansprache, vielleicht ungewollt, seinen Neffen bloß. Über dessen Rücktritt war am Freitag erklärt worden, er hänge nicht mit dem Abhörskandal zusammen. Dimitriadis ging sogar dazu über, Medien und Journalisten, die über ihn im Zusammenhang mit dem Abhörskandal berichteten, mit sogenannten SLAPP-Klagen über mehrere hunderttausend Euro zu überziehen.
Zu den juristisch Verfolgten gehört pikanterweise auch Thanassis Koukakis, der ebenfalls abgehört wurde. Mitsotakis betonte in seiner Ansprache jedoch eindeutig, dass Dimitriadis für den Abhörskandal die Verantwortung übernehme.
Seltsame Personalauswahl
Tatsächlich hatte sich Mitsotakis selbst direkt nach dem Amtsantritt im Juli 2019 zum obersten Chef des Geheimdienstes erklären lassen. Als Direktor setzte er mit Panagiotis Kontoleon einen früheren Manager von Security-Firmen mit "besten Beziehungen zur amerikanischen Botschaft" durch.
Dabei störte es Mitsotakis nicht, dass Kontoleon gemäß des damals geltenden Gesetzes nicht über die notwendigen akademischen Mindestanforderungen für das Amt verfügte. In Mitsotakis Verantwortungsbereich fällt auch die Berufung der einzigen Staatsanwältin, die pro Jahr rund 20.000 Abhöraktionen rechtlich absegnen muss, Eleni Vlachou. Heute, im Nachhinein, spricht er ihr die notwendige Erfahrung ab.
Was nicht Mitsotakis, sondern vielmehr sein Amtsvorgänger Alexis Tsipras (Syriza) zu verantworten hat, ist die Tatsache, dass der EYP die Überwachung jeder Person, auch ohne explizite Namensnennung gegenüber der Staatsanwältin, allein mit einer Unterschrift der einzigen dafür vorgesehenen Justizmitarbeiterin veranlassen kann. Dies fußt auf einem 2018 unter Tsipras erlassenem Gesetz.